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Soaatog. L4. Oktober 1S2V ER E*»» ^ L/» rVviikl »LYRrUl Nr. 500 Seile S Berliner Allerlei. Der »I««e «»tSrichier — Neue «i«, l« Weste« — «ichar».rtraust.«oche — .Geh' ich znr schvnftc« Frau" Das Ausa««enha»sl»se »ei Filmaufnahme« — Der fr»h« liche Kreuzberg. Wie rin gesunde» Kind hochgewachsener Eltern ist Berlin ftübrr aufgeschossen. Bet dem Tempo hatte es sogar Kleider «aus Zuwachs" nüttg: mehrere tausend Wohnungen standen leer, da überall eilig gebaut wurde. Jetzt ist Berlin ein wenig verkümmert, schiebt nicht mehr, wird nur langsam etwas breiter. Trotzdem erkennt man manche Stadtteile gar nicht wieder, wenn man Berlin etliche Jahre nicht gesehen bat: so stark ist die Veränderung, die der Zua nach dem Westen bcroorruft. Der Westen war biö kurz vor dem Kriege reines Wohnviertel, der alte Westen am Tiergarten still und vor. nehm, der neue hinter der Kaiser-Wilhelm Kirche ansbring, lich und protzig. — Geschäftszentrum und Sündenbabel aber wär die Friedrichstadt. Die Kantstraßc, deren Anfang heute schon der reine Broadway ist und an deren Ende der Funk turm »um werdenden Coney Island lockt, ist bei uns noch als GeheimratSgegend bekannt. So vor fünfundzwanzig Jahren fuhr da in die Unendlichkeit hinein, bis zum Char lottenburger Amtsgericht, eine Pferdebahn mit blauer Laterne. Man brauchte damals in Berlin noch keine Num mern. man kam mit Farben aus. Und wenn bet Siechen oder bet Habel oder im Trcpprt>cn der Staatsanwalt, der Oberstleutnant a. D., der Großkausmann, der Dramatiker, der Oberingcnieur bcisammeirsaßen, dann hieb es wohl kurz nach 12 Uhr schleunigst ausbrcchen, — denn der letzte „blaue Amtsrichter" fahre nach zehn Minuten ab. Jetzt ist die Kantsirabe bei Tage und bei Nacht von Auto lärm erfüllt. Ladeir reiht sich an Laden, dazwischen machen Gasthvfe, Kinos, Weinstuben feurige Reklame. Gegenüber dem Theater des Westens ersteht der Nialtopalast, ein Licht spieltheater für mehrere tausend Besucher, dessen Vorhalle allein 8l> Meter hoch werden soll, und »eben dem Theater des Westens wird, obwohl auf der anderen Seite schon die Valencia existiert, ein neues Tanzpalais mit aufklappbarem Dach gebaut, so das, im Sommer der Oberstock als Freilust- parkctt dienen kann. Die Gegend Unter den Linden, Fried- richstrabe, Jägerstrabc wird trotz aller Anslrcngunge« der alten vornehmen Hotels und der ehedem berühmten Kaba retts und Trinkstuben zu einem Vcrgnügnngovierlcl zweiten Ranges, gut „für die Provinz". Kcmpinski hat schon eine elegante neue Filiale im Westen, Ecke Kursürstendainm und Fasancnstrabe, die grobe» Läden der Leipziger Straf,e siedeln sich ebenfalls im Westen an, und nur um den Potsdamer Platz herum blühen bas Geschäft und der Jokus wie früher, weil hier der Wannsee-Bahnhos die ganze Mcnschcnfracht der westlichen Vororte absctzt und wieder hcimsührt. Freilich, die guten alten Theater befinden sich zum großen Teil noch in der Stadtmitte. Auch die beiden staatlichen Opernhäuser. Und wenn mir, wie jetzt, in einer Richard- Straub-Woche stehen, der Meister selbst seine Schöpfungen dirigiert, dann bemüht auch der Westberliner sich noch bis zum Brandenburger Tor, das er sonst kaum mehr sieht, wenn er nicht beruflich in Ministerien oder Parlamenten zu tun hat. Richard Straus, ist »och ganz die alte große Zugkraft, wenn er auch persönlich in der Art seiner Stabführung nichts „Fortrcißendcs" mehr hat. sondern sehr still und abgeklärt dirigiert, ein Wimpcrzuckcn genügen läßt, wo er einst viel leicht in den Kniekehlen einsackte oder die Arme warf. Immer noch vollbringt das Orchester unter ihm besondere Wunder. ES ist so wie früher bei der Kaiserparade, wo auch der faulste Musketier seine Beine ganz anders emporschncllte, als unter den Augen nur des Leutnants oder HauptmannS: die allerhöchsten Herrschaften, auch in der Kunst, elektrisieren immer. So wird man beschenkt, wen« man sich einen „echten" Nichard-Straub-Abcnd gönnt. Man wird wieder des un geheuren Reichtums gewahr, den auch musikalisch das kaiser. liche Berlin heranzog. Wie dürftig läßt sich demgegenüber unser neues Schreker Zeitalter an! Wenn Strauß am Pult, während der Vorhang sich teilt, als scharfe Silhouette gegen die Bühncnhclle steht, nicht mehr wildnmbuscht, sondern mit jetzt ganz kurzgcschnittcncm Haar, wenn der erste Satz an» hebt: „Wie schön ist die Prinzessin Salome heute abend!", so durchrieseln uns schon alle Wonnen. So frei sind wir jetzt schon, daß wir manchmal über die verblüffende Jllustrntivns- Icchnik, über das virtuose Nachmalcn aller Geräusche, über all das Spielerische in Richard Strauß lächeln können, das auch tn seine« Sinfonien, von deuen er neben den Opern diesmal vier dirigiert, un» mehr d««n f« aufsällt. Aber das Köstlichste von Richard Strauß ist nicht etwa dem Großstädter Vorbehalten, der Opernhäuser hat, sondtrn steht als Gemein, gut dem ganzen Bolle zur Verfügung. Diese» Köstlichste sind seine Lieder, au» denen manchmal an unscheinbarer Stelle jäh die Kllnstlcrschaft rmporflammt. Da ist ein Stübchen tn der Kleinstadt, da ist anderswo vielleicht ein Pfarrhaus, ein Forsthau», ein GutShau». Jemand sitzt am Klavier und in toniert Strauß' „Traum tn die Dämmerung" und singt. Da kommt eine, wie mancher Tenor oder Sopran sagen würde, prachtvolle Kraftftelle: „geh' ich zur schönsten Krau!" Nicht wahr, da» von der „schönsten" Frau, da» wird jubelnd, triumphierend htnauSgrlchmettert? »brr Richard Straub hat bet diesem Wort über der Rolen-eile vermerkt: ptanissimo. „Schönsten": ganz scheu und zag. Das muß man nur zu hauchen wagen. Höchste Verzückung, höchste Ehrfurcht lärmt nicht, Ganz still. Ueberwältigt still. Und wer dergleichen in sich ausgenommen hat, der weiß, daß Richard Strauß noch nach Jahrhunderten unser Seeleukünder sein wird. Berlin will jetzt dem Titanen Beethoven ein Denkmal setzen. Einst wird ja auch Richard Strauß an der Reihe sein. Ich wüßte schon eins. Man nehme de» Bildhauers Kruse ,Hunge Liebe", diese unendlich keusche und zarte Mädchengestalt, der ein Jüngling lies in dt« Augen steht, als würfe er ein un» trügliches Lot in ihre Seele, und man meißele den Namen „Richard Straub" tn da» Postament: dann werden die Herzen später Geschlechter noch wie Musik erklingen. Ob sie die Lieder selbst bann auch noch sozusagen au» erster Hand auf sich wirken lassen werden? Ich fürchte, nein. Alle Achtung vor dem Rundfunk und dem Grammophon und anderen Konscrvengeschäften. Aber c» fröstelt einen doch, wenn man sich die weitere Entwicklung vorstellt. Die Haus musik ist nur noch seltene Oase: unsere jungen Mädchen wollen sich da» Rauchen nicht durch Singen unterbrechen. Und da» alte Konzertlebrn versiegt auch mehr und mehr Man geht nur noch zu Sensationen hin, und die kann auch nur noch der Wohlhabende bezahlen. Das Volkslied liegt im Dornröschenschlaf, rundum wuchern Gassenhauer- und Schlagcrheckc», und tm übrigen ist die Menschheit an das Mikrophon de» Senderaumcs ängcschlossen. Mit dem Theater geht es uns ja ähnlich. Es will nicht mehr erheben und er freuen. sondern durch Monstrositäten verblüffen, damit neu gierige Zahler kommen. Kür dt« übrigen SV Prozent der Bevölkerung ist das Kino da. Das Kino läßt immer noch ein letzte Sehnsucht offen: bei dem Zuschauer die nach dem lebendigen Wort, nach einem wirklichen Jubel, einem wirklichen Schluchzen: und bei dem Darsteller die Sehnsucht, „einmal eine dramatische Handlung von der Exposition, langsam schauspielerisch steigernd, bis zum Schluß entwickeln zu können", wie kürzlich Henny Porten wörtlich sich geäußert hat. Der Ftlmschauspielrr gibt nur unzusammenhängend einzelne Szenen, je nach dem Ausbau, der gerade fertig im Hauptatelier -asteht. Da werden etwa zuerst alle Szenen heruntergcmimt, die „Bor der Kirche" sich abspiclcn, ganz gleich, ob sie zu Beginn oder in der Mitte oder am Ende des Stücke» stehen. Dann folgen vielleicht, wieder einfach hintereinander summiert, die Szenen tm „Mondänen Tanzsaal". Ist man damit durch, so wird von den Leuten des Filmarchitekten der Tanzsaal abgebrochen und vielleicht die „Schlucht im Walde" aufgebaut, in der wiederum Bruchstücke dargestcllt und gekurbelt werden. Der Regisseur hat sozusagen den KlavierauSzug vor sich. Da steht beispielsweise: Mondäner Tanzsaal. 11 Bilder. 88 Einstellungen. 7 a -- p, 18 a — ck, 20 a — k. 83 a -- ck, 86 a — u, 40 » — «, 63 a — g. 108a — i, 120a — ck, 182 a — k, 168 a — I. Es fängt also gleich mit der siebenten Szene an, die ersten sechs spielen in anderer Umrahmung, und man rasselt zu nächst alles herunter, was im Tanzsaale spielt. Bon dem In- halt des Stücke» haben die Darsteller ungefähr eine Ahnung, denn er ist ihnen erzählt worden oder sie habe« die Stich worte des Manuskriptes gelesen. Da sie aber nie das ganze Stück, allmählich selber in die Nolle htneinwachscnd, im ganzen geben können, sondern nur die hcrauSgerissenen einzelnen Szenen kunterbunt durcheinander, so sind sie abhängig vom Regisseur, der ihnen die jeweilige Stimmung einzugcben ver sucht und jede Bewegung mit ihnen exerziert. Schon deshalb wird der Film, obwohl er es auf anderen Gebieten über- trisst, in der Menschenbarstellnng nie das Sprechtheater er reichen. Der „holde Wahnsinn" ergreift nur den Darsteller auf der wirklichen Bühne. Ta gibt sich der Mensch ganz au», da gerät er „außer sich", da kommt e» zur dämonischen Deelen» wanbermlg. Im Filmatelier dagegen kann Fräulein Müller, auch wenn sic eine Larmen agiert, immer Fräulein Müller bleiben: und die Fltmmerleinwand verrät e» nicht, wenn Fräulein Müller tm Atelier mitten in einer LiebcSszene unter süßem Lächeln giftig gezischt hat: „Pfoten weg, Sie dummer Affe, da» gibt ja Schatten!" Gebt ihr dem Volke wieder eine Sprechbühne, z» erträg. liche» Preisen, mit handfester Moral, ein wenig Derbheit und gutbürgcrlichem Humor, da läuft es tn Hellen Schare« hin. ES braucht kein Moissi oder Kraus oder Thimig zu spielen. Es kann ruhig „Provinz" sein: ihr mögt es auch Borstadtbühne oder Licbhaberthrater nennen. Das ist das Theater in der Lützowstraße. Also alter Westen dort, wo nicht mehr der Gcheimrat, sondern der kleine Angestellte und die Gemüsefrau typisch sind. Lützowstraße 112, nahe an der Klottwellstraße, sozusagen verbotene Gegend, die „man" nur im Auto durchrast. Es gibt zwar bei Werthcim einen Vor. verkauf der Theaterkarten auch für dieses Kunstinstitut, aber cs spart sich die teuren Zeitungsanzeigen: nur in der ganzen Umgegend liegen in jedem Laden die Reklamezettel aus. bei deren Borweisen man sehr billig, bis zu 46 Psg. herunter einschließlich Garderobegebühr, den Eintritt erhält. Einst war das hier in der Lützowstraße 112 rin tn ganz Berlin bekanntes Gartenlokal, in dem die Stettiner Sänger auf- tratcn. Dan» wurden Fcstsälr daraus, die auch gut gingen. Im Kriege hauste hier das Garnisonregiment Nr. 1. Nach her installierte sich in dem inzwischen von Wrrtheim ge kauften Hause ein Kino, das schließlich Bankrott machte. Und jetzt ist es, wie das ganze Lützow-Viertel stolz erzählt, ein „richtiggehendes" Theater, tn dem allabendlich die Gesangs» posse „Der fröhliche Kreuzberg" die Besucher entzückt. Sic hat nicht» mit einer ähnlich klingende« Saftigkeit Znckmayer» zu tun. SS ist nur eine Modernisierung des alten Kyritz- Pyritz-Motivs. nur daß diesmal nicht Kyritz an der Knatter, sondern Havelbera an der Havel die abenteuerlustigen drei Spießbürger hergibt, die nach Berlin reisen, heimlich gefolgt von ihren eifersüchtigen Gattinnen. Natürlich gibt es in dem Stück auch „Schlager", ohne die es nun einmal nicht geht. Wenn der lange Lulatsch von Hausbursche im Hotel zum Kreuzberg, Fritz Kalmann, der in seiner schnoddrigen Eleganz beim Rixdorfer an den seligen Giampetro gemahnt, mit seinem kleinen Pusselchen von Stubenmädchen tanzt und beide singen: „Küss' mich doch, noch und noch, Meine Mutter sicht's ja nicht! Küss' mich doch, noch und noch. Daraus bin ich so erpicht! Schenk' mir'n Küßchen Und ein bißchen Kille-killc-kille mach' am Ohrl", dann ist daS Publikum selig, der Rcichswchr^Obcrgefreite neben mir drückt seinem Mädel heftig die Hand und die Portiersfrau zwei Rethen vor mir — sie hat sich für 46 Psg. ungestraft auf den 6-Mark-Platz gesetzt — wackelt im Takte mit dem Kopfe und meckert. Natürlich wird unter verständ nisinnigem Gcjuchze auch derb berlinert. „Pape oder Pupe, det is mir piepe!" Ihre Tugend iS ntch in Gefahr, olle Oualmtutcl" „Brechen Sic sich man keette Verzierungen ab, — wenn Ihnen zu heeß iS. denn rin in die Badestubc!" Und wenn der Schirmmachcr aus Havelberg beim Abschied seiner Frau sagt: „Tein Bild trage ich sowieso immer aus dem Herzen!" und die Photographie dann aus der Gesäßtasche Her vorholt, werden Tränen gelacht. Selbstverständlich siegt di« Tugend in dem Stück, selbstverständlich machen die Laster- lüsternen sich lächerlich, zum Schluß gibt's auch noch Ver lobung tm nächtlichen Viktoria-Park am Kreuzberg. — Herz, was verlangst du noch mehr? „To richtig Theater, det's doch ville scheeiter, al» Tchaplin un so!" sagt glücklich aufscufzcnd jemand halblinks hinter mir. .«Haste jcschn, eene feste Backfeife hat der olle Astloch, gucker jckricht!" triumphiert eine andere Stimme halbrechts. .Liekemal, jenau so een Jcsichte wie die da macht imma unse Madam!" stößt atemlos ein junge» Dienstmädchen aus. Nach der Schlnßapotheose leert sich das Theater unter den Foxtrott, klängen der Kapelle: ein eisgraues Mütterchen geht schmun zelnd und im Tanztakt sich wiegend im Hüpfschritt hinaus. Und ich fahre mir mit dem Taschentuch über den Nacken. So sehr hat ei« junger Mann hinter mir vor Lachen geprustet. Rumpelstilzchen. ^^7 IO o unseren /Lny,H»reisk»?en di» /en v/r e/vns Lessn«keres F.'5<7/jo//s 14" E« 21«« 2L" kvmrmimt Osten unc, Nercie I-rrnspr IS262 1em»pr. IS262 vsuerbrsnrlöfen Xoklenkeröe / / Ssrkerüe «Ut ai« n«»e»Ien AU»»«««!« Uiingen Ilmen me IiSel,,!« NInniIim». 1U»!r Ir»I krqueinr 7>Ur«I>I»n» I 8ira"»u LliemnUr <22S> >1,MNM»MM«lNN1MMIMtt»INsiMIIM»UM,II,»,,I,I,,,,II1IIIMIMItiNMM»tttt«IllRM»sMttMNW^ HHVbvI-Naus VeiAmiglk lirekIkiMektei', Vw8l!en e. v. m. d. x. Wolmrimmsl, 8vtil»kimmss, Kvvksnsiimklillmgsn In «Ink««t»»e UN» vorn»I»m«r ^«»»lldeung Oi-sscisn-/^., I'rompslvi-Ati'sko 12, 5 M. v. lkuptdstinkiol IXt»ck>-Ig» k^srnrus 2O3SS ^IIIIIIIIIItMlMMMMMIIMMIMIIlNIMNIINilNNNMMIIMIN'N NI!"!'!!""!!'!""!' 1