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MWs WW'Hckl. Erstklassiges Theater lebender Photographien. Am 1. und 2. Pftngstfeiertag Große Extra U orstellung. Anfang 3 Uhr. Um gütigen Besuch bittet die Direktion. Programm. Bewohner der Lüfte, Natur, koloriert. Lin Hasenfuß, Humor. Der Hund als Schornsteinfeger, Humor. Lin Satte, der nur blond liebt, Humor. Dar Herz -er Sträflings, ergreifendes Drama. Marter einer Vaters, Drama. Die hexe vom Gestade, Drama. sucht, was es verschuldet. Tage, wo die Freude einkehrt und das Füllhorn des Glückes über uns ausschüttet. Um fünf Uhr kam eine Drahtnachricht an, sie lautete: O „Examen gut bestanden. Dr. med. Alfred." Alle jubelten bei dieser Nachricht, denn der älteste Bruder war ein besonderer Liebling. Die Mutter aber blickte glück selig zum grauen Himmel empor der wieder voll schwerer Wolken hing, ihr Auge sah sie nicht, es war hell in ihr, heiße Freude bewegte ihr Herz. In mehreren Absätzen beantwortete Thekla Grotenbach den Brief ihrer Jugendfreundschaft Anna Haideck. „Meine liebe Anna, lange habe ich mich nicht so herzlich gesreut, wie über dein Schreiben, es kam völlig unerwartet in meine Hände. Auch mir war es schon lange Bedürfnis, von dir zu hören, es ist mir jetzt unbegreiflich, warum ich dir nicht früher schrieb, die lange Trennung ist daran schuld. Denke dir, ich habe sogar deine Handschrift nicht mehr erkannt, sie muß sich sehr verändert haben. Mit großem Interesse habe ich deine Zeilen gelesen, ich teile deine Trauer um den Verklärten und dein Glück über deine Karla. Du sprichst mit warmen Herzenstönen von deinem verstorbenen Gatte», auch mir ward ein volles, reiches Eheglück zu teil. Die erste Zeit unserer Ehe lebten wir, wie du ja weißt, in Bromberg, wo mein Edgar an einer Bank angestellt war. Hier wurden unsere drei ältesten Kinder geboren, von denen du leider nur Lina und Alfred kennst. Später wurde mein Mann nach Memel versetzt, wo wir seitdem wohnen. Ich bin jetzt die glückliche Mutter von drei Söhnen und vier Töchtern." Frau Grotenbach legte die Feder fort, sie fürchtete all zuviel von ihren Sorgen zu verraten; der Stolz ist der Reichtum der Armut, es lag nicht in dem christlichen Sinn Theklas zu klagen. Nur ihrem Gott gegenüber sprach sie sich aus und fand im Gebet die Heilquelle, die nie versiegt. „Ich will dir nun alle meine Lieben beschreiben", hieß es weiter. „Von meinem Edgar muß ich leider sagen, daß er säst ein Greis geworden ist; er strengt sich zu viel an und arbeitet über seine Kraft. Wenn ich einen Stolz besitze, so ist es der, die Frau dieses edlen Mannes zu sein, von dem ich nur lernen kann. Er nennt mich am liebsten auch: „Mutting", sowie cs die Kinder tun; er ist oft ebenso hilfs bedürftig wie diese und in den praktischen Dingen des täglichen Lebens auf mich angewiesen. Unsere Erstgeborene heißt Lina, wie du dich wohl noch erinnerst; sie ist jetzt vicrundzwanzig Jahre alt und ein großes, kräftiges Mädchen, aber nicht eigentlich hübsch, da das Lernen ihr nicht leicht fiel, haben wir sie nicht damit gequält. Sie ist sehr praktisch und tatkräftig und hat auf einem Gut in Ostpreußen die Wirtschaft erlernt; was sie augreift, hat Hand und Fuß. Oft wundere ich mich, daß gerade mein ältestes Kiud so geworden ist, so ganz anders als ich, die in der Jugend schwärmte und heimlich Gedichte machte. Lina ist die verkörperte Prosa, aber eine wohl tuende, ziemlich herrschsüchtig, aber dabei stets hilfsbereit. Sie war mehrere Jahre in Stellung, augenblicklich ist sie zu Hause zum Jubel der jüngeren Geschwister, die mit großer Liebe der ältesten Schwester zugetan sind. Zuweilen ver gesse ich ganz, daß Lina mein Kind ist, und betrachte sie fast wie eine Freundin, mit der ich über Leid und Freude spreche, denn sie weiß stets einen guten Rat, es liegt viel Selbst losigkeit in ihrem Charakter. Unser Alfred folgt seiner Schwester, er ist dreiundzwanzig; äußerlich ist er seines Vaters Ebenbild. Er ist zielbewußt und energisch, lebhaft fühlend und sehr begabt, sein Studium als Mediziner hat er eben in Königsberg beendet und möchte gern nach Berlin und Wien gehen, um dort noch seine Kenntnisse zu erweitern. Nach Alfred kommt Eva, sie ist achtzehn. Wie soll ich sie dir beschreiben, Liebste. Wenn Lina die verkörperte Prosa ist, so ist unser Evchen die holdeste Poesie, sie ist sehr musikalisch und möchte sich gern als Klavierlehrerin ausbilden. Ich glaube, daß sie einmal sehr hübsch werden wird mit ihren großen, dunklen Augen und feinem Gesicht. Neben viel Temperament besitzt unser liebes Kind eine fast krankhafte Empfindsamkeit, möchte das Leben sie nicht allzu hart an- faffen; Klara ist zwei Jahre jünger, ein stilles, ruhiges Mädchen, die Lina gleicht, sie ist leider etwas träge und beim Lernen unlustig, ich hoffe aber, das wird mit der Zeit besser." Hier wurde der Vrief unterbrochen; erst nach einigen Tagen schrieb Frau Grotenbach weiter, es fiel ihr schwer, über die kleine Blinde zu berichten. „Unsere zwölfjährige Irma ist unser Sorgenkind; in Folge einer Gehirnentzündung vor vier Jahren erblindete sie. Sie ist sehr kränklich, sehr zart, wir fürchten oft, daß sie uns nicht erhalten bleibt. Ich kann nur beten, daß Gott sie zu sich nimmt, wo sie das ewige Licht steht. Ich kann dir nicht mehr schreiben über mein blindes Kind. Der Brief brach hier wieder ab, Theklas Augen standen voll Tränen. „Heute will ich endlich diese Zeilen beenden", hieß es weiter, „es bleiben nur noch unsere beiden jüngsten Söhne zu beschreiben übrig; Adam ist elf, Kurt sieben Jahre all, es sind frische, fröhliche Jungen, Kurt ist begabter und lernt gern und leicht, wohingegen Adani leider etwas träge ist. Nun habe ich dir meine ganze Familie vorgestellt. Trotz mancher Sorge bin ich glücklich und zufrieden, der Gott, der die Lilien kleidet und den Vögeln ihr Brot gibt, hat auch uns nicht vergessen. Ich hoffe, wir bleiben jetzt im Brief wechsel, meine liebe Anna. Mein Manu empfiehlt sich dir bestens, die Kinder küssen deine Hand, ich erzählte ihnen von deinem Brief und wir suchten auf der Landkarte Rügen auf. Dein liebes Töchterchen umarme ich im Geist. Lebe wohl, meine liebe, gute Freundin, in alter Treue deine Thekla. Memel, im März 1890. 2. Kapitel. Ein Sommer in Rügen. Diese ersten Briefe der Jugendfreundinnen führten zu einem Briefwechsel, der in beiden die alten, lieben Erinnerungen auffrischte. Frau Haidecks scharfer Verstand las zwischen den Zeilen und sie beschloß helfend einzugreifen. Ende Mai schrieb sie und lud die ganze Familie zum Sommer nach Rügen ein. „Du darfst es mir nicht übel nehmen, meine liebe Thekla, wenn ich dich bitte, das Reisegeld anzunehmen", hieß es, „du bereitest mir eine große Freude dadurch. Ich habe einst in deinem Elternhause so viel Freundlichkeit entgegengenommen, ich trage nur eine Schuld der Dankbarkeit ab. Karla braucht aleichalterige Gespielen, es wäre doch schön, wenn die Jugend freundschaft der Mütter sich auf die Kinder vererbte. Deinem Mann wird eine Erholung auch gut tun, Ihr alle sollt Euch hier in der See- und Waldluft recht stärken." Ein reichliches Reisegeld war beigefügt, Anna Haideck schloß mit der Bitte, über „diese Kleinigkeit" nicht weiter zu sprechen. Als die Gatten abends allein waren, teilte Thekla alles ihrem Mann mit und stellte ihm die Entscheidung anheim. Grotenbach stand auf und ging auf und nieder, er rauchte heftig, ein Zeichen seiner Erregung. Sein treues Weib legte den Arm um ihn und sagte: „Es sällt dir schwer, Edgar, natürliib sage ick dann ab." Seine Stimme bebte, liebkosend strich er Uber ihr blasses Gesicht. „Mutting", entgegnete er weich, es wäre ein falscher Stolz nicht „ja" zu sagen, wo es so freundlich gemeint ist, es brächte euch um eine große Freude und ihr braucht eine Erholung, alle unsere Bekannten ziehen im Sommer fort, — nur — ich war zu arm . . ." Er vollendete nicht und strich seufzend über seine Stirn. „Wirklich, Alterchen, es fiele mir nicht schwer, ich schreibe Anna, daß wir verhindert sind und schicke ihr das Geld zurück." Das gute, geduldige Gesicht Theklas zeigte keine Spur von Enttäuschung, ihr Gatte dachte an die vielen Ent behrungen ihres arbeitsreichen Lebens; noch eine Minute kämpfte er mit sich, dann sagte er: „Ihr sollt reisen, ich freue mich, daß ihr diese Erholung haben werdet." „Und du selbst?" fragte Thekla; dir täte die Reise besonders gut." „Ich kann nicht fort", lautete Grotenbachs Antwort. „Dann bleiben wir auch!" rief Thekla, „ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich viele Wochen allein zu lassen." „Vielleicht kann ich Ende Juli für vierzehn Tage komnien, morgen werde ich es dir wohl sagen können." „Gut, so warte ich mit der Antwort." Am nächsten Morgen schrieb der Sohn Alfred Grotenbach, er hätte bei einer reichen, russischen Familie die Stelle eines einstweiligen Arztes angenommen; die Kinder wären kränklich, man hätte ihm ein glänzendes Gehalt angeboten. Der junge Mediziner war froh darüber und nahm an. Als Groten bach zu Mittag Heimkehrte, flüsterte er seiner Frau zu: „Ich werde Urlaub bekommen, Mutting." An der Hellen Freude seiner Frau sah er, wie schwer ihr die Absage gefallen wäre. Den Kindern wurde erst am Schulschluß das wichtige Ereignis mitgeteilt; ein stürmischer Jubel erhob sich, die Jungen schlugen Purzelbäume und brüllten vor Freude, Eva und Klara hatten sich umfaßt und tanzten, wobei sie sangen: „Wirreisen, wir reisen!" Lina sprach in ihrer praktischen Art von der Zahl der Reisekörbe, nur die kleine Blinde saß still da. „Freut sich mein Jrmchen auch?" fragte die Mutter. Da nickte das Kind und sagte: „Ja, Mutting, du wirst mir von allem Schönen erzählen." Die Reisevorbereitungen waren in einigen Tagen beendet, die Unruhe der Kinder hatte sich so gesteigert, daß sie kaum zu zügeln waren, lieber Berlin sollte die Fahrt gehen, von da mit dem O-Zuge über Stralsund und Bergen nach Saßnitz. „Ich werde alles erst genießen, wenn du bei uns bist," sagte Thekla, von ihrem Mann Abschied nehmend, „wir haben uns noch nie aus solange getrennt." „Ich habe dem Mädchen gesagt, daß sie gut für dich sorgen soll, Papachen," fiel Lina ein, „ich unterwies sie in der Zubereitung deiner Lieblingsspeisen und lehrte sie ein weiches Beefsteak machen." „Meine praktische Tochter sorgt für mich," scherzte Grotenbach. „Lebe wohl, Väterchen, adieu Papachen!" rief groß und klein durcheinander und zahllose Küsse begleiteten die Worte. „Gott behüte euch alle!" sagte der Zurückbleibende. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Reise war angetrete». In Berlin blieb man eine Nacht, da Irma geschont werde» mußte; am folgenden Tage gegen Abend war Rügen glücklich erreicht. Thekla war froh erregt, klopfenden Herzens sah sie dem Wiedersehen mit der Jugendfreundin entgegen. Nun stehen sie sich gegenüber nach langen Jahren, zwei reife Frauen, die des Lebens Leid und Lust kennen lernten. Beide sind bewegt und halten sich stumm umfangen, in warmen Worten heißt Anna Haideck alle willkommen. „Du hast mir deine Kinder so genau beschrieben, daß ich sie gleich erkenne, liebe Thekla," sagte die freundliche Wirtin, „doch nun kommt, ich will euch den Weg zeigen." Sie gingen über die breite Steintreppe, die zur Loggia führte, und von da durch den großen, herrlichen Garten nach der Villa Petersburg, die für die Grotenbachs mit dem beauemsten Komfort eingerichtet war. Karla und Evchen schienen schon gut Freundschaft geschlossen zu haben, sie gingen Hand in Hand und plauderten munter. Von der Loggia übersah man den Hafen des Badeortes Saßnitz, in vier Stunden konnte man mit den Tourendampfern „Reese" und „Imperator" die Küste Schwedens erreichen. „Hier ist es hübsch unter dem Sonnenzelt," sagte Karla zu Evchen, „hier wollen wir oft sitzen." „Nochmals herzlich willkommen auf Rügen," sagte Frau Haidcck, als sie die Villa Petersburg betraten, „möchte es euch hier gefallen!" Lächelnd hielt sie der Freundin die Hand entgegen. Als die Grotenbachs allein blieben, sagte der kleine Kurt: „Lina, sind wir hier im Feenschloß der Prinzessin Rosenrot?" Alle lachten, aber das viele Neue und Schöne über wältigte sie fast, die es so einfach gewöhnt waren. Nach dem trefflich zubereiteten Mahl schlug Frau Haideck einen Rundgang durch den Garten vor, der sich weithin erstreckte und im englichen Stil gehalten war. lieberall waren große geschorene Rasenplätze, seltene Bäume und Ziersträucher boten Schatten, und laulchige..Bänke luden zum . Ausruhen ein; Karl au!, d ihre Mutter weidtten sich airwer Bewunderung ihrer Gäste. Die Jugend und die Kinder sind mit Tennisspielen oder Schaukeln beschäftigt, die Jugendfreundinnen sind allein ge blieben, sie sitzen nebeneinander, die vielen Jahre der Trennung schwinden. „Weißt du noch?" Mit diesen Worten leiten sie ihr Gespräch ein und frischen die alten Erinnerungen auf und das fast gelockerte Band schlingt sich fester. Währenddessen sitzen Karla und Evchen müde vom Tennisspiel unter dem Sonnenzelt des Hafen platzes; die beiden Mädchen bilden einen reizenden Kontrast, sie sehen wie zwei liebliche Knospen aus, noch unberührt von den Stürmen des Lebens. „Du gefällst mir", erklärte Karla in ihrer offenen Art, „weißt du, wir müssen ebensolche Freundinnen werden wie unsere Mütter, ich habe nie Geschwister gehabt und habe mir immer eine Schwester gewünscht, keinen Bruder." „Aber warum nicht, Brüder sind doch auch lieb!" „Nein!" Karla schüttelt den hübschen Kopf, „die Jungen von Mamas Vetter, die oft Herkommen, sind schrecklich wild; sind Adam und Kurt es nicht?" „Ich dachte an Alfred", versetzte Eva. „Wer ist das?" forschte Karla neugierig. „Unser ältester Bruder; er ist dreiundzwanzig Jahre alt und Mediziner und hat in Königsberg studiert." „Ach, er ist schon so alt!" rief Karla, „ich dachte, er ist Kadett und wird Offizier, ich schwärme für sie, sie sind so schneidig." „Alfred ist Reserveleutnant," sagte Eva stolz. „Warum ist er nicht auch hier?" „Er begleitet eine russische Familie in der Schweiz als Hausarzt", entgegnete Eva. Lina hatte die kleine Irma zur Ruhe gebracht. Alle übrigen versammelten sich auf der großen, säulenge tragenen Steintreppe Strandhofs, dort wurde der Tee gereicht. Der Ausblick auf das Meer und das gegenüberliegende Binz war sehr schön, der Mond war aufgegangen und um spann mit seinen Silbernetzen Land, Wasser und die herr lichen Buchenwälder, die sich bis an das Ufer ziehen. Das eintönige Lied der Fischer klang von Saßnitz herauf und Frau Haidcck erzählte von den alten Sagen Rügens, vom Herthasee und der Buche, die noch aus der Heidenzeit stammt. Wie ein Märchen erschienen die Tage und Wochen des Grotenbachs, so reich waren sie an Abwechslung und Freude für diejenigen, die Jahr um Jahr in der staubigen Stadt bleiben mußten. Die Wangen der beiden Knaben bräunten sich und Irmas zartes Gesicht färbte sich rosig, während die drei älteren Schwestern frisch und blühend aussahen. Mit stiller Freude bemerkte es Frau Haideck auch, daß der müde Zug in Theklas Antlitz weniger hervortrat, daß sie mehr und mehr der einstigen Jugendfreundin glich. (Fortsetzung folgt).