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1«, 18. Januar 1908. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 709 (Singer) einen erkrankten Kollegen einmal eine Arbeit mehr zu über nehmen. Dazu kommt, daß tatsächlich doch zu den Krankenkassen beiträgen der Handlungsgehilfe zwei Drittel, der Prinzipal nur ein Drittel zahlt; wie kommt da die Regierung dazu, dem Prinzipal das Recht zuzusprechen, das Krankengeld aus das Ge halt anrechnen zu lassen? Eine solche Zuwendung an den Prinzipal übersteigt doch alles, was man hätte für möglich halten sollen. Diese Aufrechnung würde lediglich das Verhältnis zwischen Prinzipal und Angestellten zu verschlechtern geeignet sein. Die Aufrechnung des Krankenkassengelds würde die Handlungs gehilfen verhindern, die Hilfe der Krankenkasse rechtzeitig in An spruch zu nehmen. Den Einwurf, die Nichtanrechnung würde der Simulation Tür und Tor öffnen, halte ich nicht für stichhaltig. Die Gehilfen werden doch nicht so leicht ihre Stellung riskieren, und es läßt sich sehr leicht feststellen, ob eine Simulation vorliegt oder nicht. Die Gehilfen werden eine solche Insinuation mit Entrüstung zurückweisen. Vom grünen Tisch ist auch die Meinung geäußert worden,daß die Disziplin gefördert würde, wenn das Krankenkassen- gcld abgerechnet würde. Das Gegenteil ist der Fall. Der Handlungs gehilfe wird sich sagen: was hilft es dir, daß du dich abarbeitest, wenn du im Falle der Krankheit kein Krankenkassengeld bekommst. Diese Bestimmung ist nicht national, sondern im höchsten Grade antinational und den Interessen der Handlungs gehilfen zuwiderlaufend. Der Reichstag hat alle Veranlassung, einen solchen Versuch entschieden zurückweisen. Das Antinationale der Bestimmung tritt um so deutlicher hervor, als sie die schlecht bezahlten Gehilfen trifft; die Gehilfen mit über 3000 unter liegen überhaupt keiner Versicherung. Hätte die Kommission nicht 1897 unfern Antrag abgelehnt, so wäre das. worin heute im Reichstag Übereinstimmung herrscht, schon jetzt geltendes Recht. Ich hoffe, daß der Reichstag diesmal fest bleiben und einmütig sich auf unfern Boden stellen wird. Die Reichsregierung wird dann wohl oder Übel ihren Widerstand aufgeben müssen. Die Handlungs gehilfen sind sich in ihren Petitionen in diesem Punkt einig; da gegen kommen die vagen Petitionen der Unternehmer nicht in Betracht. Mit einer Kommissionsberatung sind wir einverstanden. Staatssekretär des Reichsjustizamts vr. Nieberdirrgr Meine Herren! Ich bin dem Herrn Vorredner dankbar dafür, daß er trotz seines Widerstands gegen den Gesetzentwurf damit einver standen ist, daß derselbe einer Kommission überwiesen werde. Es wird sich dort am besten die Gelegenheit ergeben, an der Hand tatsächlicher Mitteilungen völlig klarzustellen, was in dieser Sache Billigkeit und Gerechtigkeit erfordert. Etwas andres wollen wir nicht. Wenn mir und mit mir zusammen den verbündeten Negie rungen wegen dieses Gesetzentwurfs der Vorwurf gemacht wird, daß wir kein soziales Gefühl besäßen, so lasse ich das ruhig über mich ergehen. Mit derartigen Erklärungen, meine Herren, ist nichts erwiesen, und ich bin der Ansicht, daß es darauf ankommt, Tatsachen anzuführen und nicht derartige Proklamationen ergehen zu lassen. (Unruhe bei den Sozialdemokraten.) Ich habe das Wort nur deshalb ergriffen, weil der Herr Ab geordnete hier erklärt hat, daß die Vorlage gegen das Nechtsgefühl der interessierten Kreise sich richte, und daß da nur vereinzelte Stimmen laut geworden seien, die sich für die Lösung aus gesprochen hätten, die ihnen von den verbündeten Regierungen empfohlen wird. -Gegen das Rechtsgefühl der interessierten Kreise«, meine Herren — ja, was heißt das? Interessierte Kreise sind die Ge schäftsinhaber und die Gehilfen, aber nicht die Gehilfen allein. Es kommt darauf an, beide Teile zu hören, um zu einem richtigen Spruch zu gelangen, und ich habe bei den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Singer eigentlich den Eindruck bekommen, daß er von seinem Standpunkt aus geneigt ist, nur die Handlungsgehilfen in ihren Wünschen zu hören. (Sehr richtig! rechts.) Aber, meine Herren, ich will hier Tatsachen reden lassen. Ich habe schon neulich die Ehre gehabt, vor dem hohen Hause zu erklären, daß die verbündeten Negierungen sich nur ungern gegen den Beschluß der Kommission des Reichstags, der früher im Sinne des Abgeordneten Bassermann gefaßt worden ist, ausgesprochen haben, nicht nur weil sie sehr wohl annehmen durften, daß das gegen sie ausgebeutet werden würde, sondern auch weil sie sich in Zweifelsällen am liebsten den Auffassungen des Reichstags an- Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 76. Jahrgang. schließen (Sehr richtig!), daß sie — habe ich damals erklärt — Veranlassung genommen hätten, nun in weiten Kreisen des ge werblichen Lebens, also in denjenigen Kreisen, die der Herr Abge ordnete Singer doch mit den interessierten Kreisen meinen muß, darüber sich zu unterrichten, was in der Tat die Auffassung und das Rechlsgesühl der Beteiligten sei. Nun, meine Herren, haben sich im Sinne des Entwurfs, den die verbündeten Regierungen Ihnen vorgelegt haben, ausgesprochen die große Mehrheit der preußischen Handelskammern, darunter die Handelskammer in Berlin und die Ältesten der Berliner Kauf mannschaft; ferner von nichtpreußischen Handelskammern die Handelskammern in Gotha, in Heilbronn, in Darmstadt, in Gießen, in Singen, in Worms, in Mainz, in Friedberg in Hessen, in Lübeck, in Bremen; die Gewerbekammer in Bremen; die Kaufmannsgerichte in Hörde, in Worms, in Mainz, in Metz, in Remscheid; der Zentralverband hiesiger Berliner kaufmännischer, gewerblicher und industrieller Vereine, der Kaufmännische Verein in Glogau, der Detaillistenverein in Cöln, die Vereinigung von kaufmännischen und gewerblichen Vereinen des Handelskammerbezirks Bochum, der Verein selbständiger Kaufleute in Magdeburg, der Detaillistenverband von Rheinland und Westfalen, der Zentralverband deutscher Kaufleute und Gewerbtreibender in Leipzig. Meine Herren, das ist nur eine Probe aus der Zahl derjenigen Organe, die sich gutachtlich ausgesprochen haben. Wenn nur diese Organi sationen allein sich ausgesprochen hätten, dann schon, glaube ich, würde der geehrte Herr Vorredner nicht mehr das Recht haben, zu sagen, daß wir gegen das Rechtsgefühl aller be teiligten Kreise verstoßen und daß wir uns auf vereinzelte Stimmen gestützt hätten, als wir diesen Gesetzentwurf dem Hause vorlecten. Darin liegt mindestens eine Übertreibung. Aber, meine Herren, ich hoffe, ich werde in der Kommission Gelegenheit haben, Ihnen nachzuweisen, daß noch eine ganze Menge anderer Organisationen sich nicht in dem Sinne ausgesprochen haben, der zu meinem lebhaften Bedauern bis jetzt hier allein zur Geltung gekommen ist und den auch der Herr Vorredner vertreten hat. Wir haben eine sehr große Anzahl von Organisationen, die sich ausdrücklich gegen den Antrag ausgesprochen haben, der früher in der Kommission des Reichstags Anerkennung fand. Nun, meine Herren, würde es doch ein starkes Stück sein, behaupten zu wollen, daß alle diese angesehenen Korporationen und Organe von einseitigen Interessen ausgegangen seien. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann wird man doch das Vorgehen der ver bündeten Regierungen nicht so verurteilen können, wie das in der letzten Sitzung und heute von dem Herrn Vorredner geschehen ist. Ich muß also Verwahrung dagegen einlegen, als wenn die verbündeten Regierungen oorgegangen wären auf das Urteil vereinzelter oder einseitiger Organisationen hin; ich glaube, sie haben mehr Leute im Lande hinter sich, als hier im Hause bis jetzt zugegeben ist, und es wird die Aufgabe der Kommission sein, in dieser Beziehung den Standpunkt der Regierung näher zu prüfen. Ich hoffe, man wird uns dann mehr Gerechtigkeit wider fahren lassen, als das bis jetzt in der Debatte geschehen ist. Abgeordneter EarstenS (fr. Volksp ): Die Vertreter der anderen Parteien haben erklärt, daß sie dem Entwurf der verbündeten Negierungen ein entschiedenes Nein entgegensetzen. Ich glaube im Gegensatz dazu, daß er kein antinationaler ist, sondern den sozialen Frieden zu fördern geeignet ist. Ein nicht unerheblicher Teil meiner Partei ist für die Vorlage. Die Behauptungen, daß sich die Lage der Handlungsgehilfen durch das Gesetz verschlechtern würde, weil Absatz 1 des § 63 schon heute Usance sei, ist doch nicht beweiskräftig, denn wer bürgt denn dafür, daß sie nun in den nächsten Monaten Usance ist? Die Verhältnis von Absatz 1 und 2 gewissermaßen umkehren. Den Handlungsgehilfen wird ein sehr wertvolles Recht garantiert, also eine bedeutende Verbesserung geboten. Mit Recht hat der Staatssekretär daraus hingewiesen, daß man doch nicht bloß für die Handlungsgehilfen allein Sozialpolitik treiben kann, sondern auch die Interessen der Prinzipale berücksichtigen müsse. Man muß beide Interessen gegeneinander ausgletchen. Für die großen Warenhäuser, also für einseitige Unternehmerinteressen will auch ich kein Gesetz machen. Ich selbst würde als Unternehmer von Absatz 2 nur einen ausnahmsweisen Gebrauch machen. Daß aber 93