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71, 26. März 1912. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. b. Dtschn. Buchhandel. 3893 fragt dann wohl, wenn man bei ihm den Tartüsf verlangt, den jüngsten Lehrlings »Das ist doch das Neueste von Gr>p?« — Den anderen aber dämmert es. Sie lernen durch allen Bücherstaub hindurch den mächtigen Kulturfaktor erkennen, in dessen Dienst sie stehen, und bringen ihm in ihren kargen Mußestunden freudige Opfer. Die Gehilfenschaft des deutschen Buchhandels ist mit Gehaltsresolutionen und mit Mindest forderungen ins Feld gezogen. Sie wird erst dann trium phieren können, wenn in dem Wort »Ich bin ein Buch- handlungsgehilse» gewisse Garantien liegen. Wenn es besagt: Ich kenne mich in der Geschäftsform und in der Ge schichte meines Berufes aus. Ich verfüge über ein gewisses Maß allgemeiner Bildung und über leidliche Umgangsformen. Ich bin über unsere Volksliteratur orientiert. — Wenn die Organisationen im Jungbuchhandel, die mit Lohn statistiken und Gehaltsforderungen so eifrig am Werk sind, zunächst einmal nivellieren, zunächst einmal sich bestreben wollten, einen nach Wissen und Einsicht homogenen Stand der Buchhandlungsgehilfen zu schaffen, so würden sie, das ist meine bescheidene, aber feste Meinung, dem Ganzen viel besser dienen als jetzt. Es fehlt den jungen Leuten, die von den Volksschulen kommen, durchgehends und den bester Vorgebildeten meistens an einer klaren Kenntnis unserer deutschen Literatur. Fern liegt es mir, zu verlangen, ein Buchhandelsbeflissener solle den Heliand oder das Wesso- brunner Gebet ini Urtext lesen können. Sein Wissen von unserem Schrifttum kann ganz vorwiegend praktischen Ge sichtspunkten untergeordnet sein. Es wird fast immer ge nügen, wenn der Novize von Heldengedicht und Minnesang, von Meistersang, Palmenorden und schlesischem Schwulst wenigstens eine Ahnung hat. Dagegen sollte er über die Bedeutung des Nibelungenliedes, Luthers und wohl auch Grimmelshausens klar orientiert sein. Mit Lessings Geburt hebt die große Zeit unserer Literatur an, deren Männer und Werke der junge Buchhändler kennen muß. Es lag mir schon lange am Herzen, einmal über die Hilfsmittel zu reden, deren sich der junge Buchhändler bedienen kann, wenn er unserer großen Literatur verstehend nähertreten will, und ich bin der Redaktion des Börsenblatts dankbar, daß sie mir jetzt Gelegenheit dazu gibt. Ich würde mich freuen, wenn meine kurzen Hinweise einem oder dem anderen Anregung geben sollten. Dann würde meine Arbeit, wenn ich sie unter dem Gesichtspunkt meiner Einleitung betrachte, nicht nutz los sein. Wenn jemandem daran liegt, erst einen Grund zu finden, auf dem er seine Kenntnisse aufbauen will, dann soll er nicht, wie das so oft geschieht, dickleibige Historien wälzen, die ein Übermaß von Stoff und Darstellung geben. Er soll sich vielmehr bescheiden, abends im Kämmerlein ein Buch recht andächtig zu lesen, das prägnant und kurz das Wesent liche enthält. Ich empfehle die Grundzüge der deutschen Literaturgeschichte von G. Klee recht nachdrücklich, die im Verlag von G. Bondi in Berlin erschienen sind und 2 kosten. Sie werden viel besser als mancher alte, einge bürgerte Leitfaden auch den Erscheinungen unserer Zeit ge recht. — Dem Fortgeschritteneren würde ich als Meisterwerk unserer historischen Kritik mit Freuden den alten Scherer empfehlen, wenn ich nicht wüßte, daß die Lektüre des Bandes zweierlei voraussetzt: Vertraut heit mit der einfühlenden Betrachtungsweise Scherers und eine nicht geringe Kenntnis unseres Schrifttums. Deshalb will ich lieber auf die treffliche, dreibändige Literatur geschichte Bieses Hinweisen, dis bei Beck in München erschienen ist. Sie ist lange nicht so bodenständig wie der Scherer; sie gibt die Ergebnisse der Forschung aber prächtig zusammen gefügt und klar beleuchtet. Dazu ist sie bis auf unsere Zeit Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 79. Jahrgang. fortgeführt, während Scherer bekanntlich bei Goethes Tode abbricht. Den vielen Vorzügen des Biese gegenüber fallen einige kleine Menschlichkeiten nicht sehr ins Gewicht: daß der Verfasser allzu gern Zensuren austeilt, daß er dann und wann verschwenderisch mit Superlativen arbeitet usw. Durch einen Akt geradezu heroischer Objektivität hat er mein ganzes Herz gewonnen: Liliencron, der Temperamentsvesuv, hat ihn im Poggsred mit allerlei lieb lichen Jnvektiven beehrt, und Biese hat den Poggsred klar und schön als reines Kunstwerk gewertet. — Der Biese also kann meines Erachtens den Jüngern des Buchhandels Belehrung und Anregung geben. Vierzehn Mark für dieses Werk kann ein Gehilfe allerdings nur mit blutendem Herzen opsernl Ist in dem jungen Buchhändler erst einmal der Sinn für die Größe unseres Schrifttums geweckt, dann wird er gern auf dessen Höhepunkten länger verweilen. Er wird sich, wenn er gelernt hat, die ganze Bergkette zu überschauen, der hohen Häupter mit besonderer Hingebung erfreuen. Luther ragt mit seiner ganzen Persönlichkeit in unsere Zeit herein. Er hat der deutschen Dichtung die Sprache, ihr all mächtiges Instrument, gebaut. Er hat die Kirchenlied- dichtung zu neuem Leben erweckt. Er hat der Schule ge waltige Impulse gegeben. Es ist deshalb nie und nimmer Zeitverschwendung, lutherische Schriften oder etwas über den Reformator zu lesen. Jungen Buchhändlern sei die bei Teubner erschienene Lutherbiographie von Buchwald 6.—) bestens empfohlen. Lessing ist der Erbe des Lutherschwerts und des Luther zorns. Er hat die welschen Schädlinge aus dem Tempel unseres Schrifttums gewiesen. Ec hat dem deutschen Shake speare den Weg gebahnt. Er hat mit Minna von Barnhelm unserer Literatur das erste Lustspiel gegeben. Erich Schmidts weitausholende Biographie führt den jungen Buchhändler, der sie liest, vielleicht allzu sehr in die engen Gassen philo logischer Kleinarbeit hinein, ist aber anderseits so gedanken reich und so abschließend, daß man ihr doch ruhig ein paar Wochen opfern sollte. Wohlgemerkt aber nur dann, wenn man über Lessings Stellung in der Literaturgeschichte hin reichend orientiert ist. Sonst gibt auch die Borinskische Bio graphie (Geisteshelden, ^ 6.20) das Erforderliche reichlich. Und nun kommt Goethe. Von ihm zu wissen, daß er in Frankfurt geboren ist, daß er in Sesenheim Liebe gab und Liebe fand, daß er in Weimar als großmächtiger Minister starb, — das genügt nun und nie. Neben der Vertrautheit mit Goethes Hauptwerken sollte eine sichere Kenntnis der Hauptfakten seines Lebens hergehen, wie sie sich aus Dich tung und Wahrheit, aus den Gesprächen mit Eckermann, aus den Briefen an Schiller, an Charlotte von Stein, an Marianne von Willemer trefflich ergibt, und wie sie zusammen fastend das herrliche Werk Bielschowskys (2 Bde. 14.—) vermittelt. Den Eckermann, die Briefsammlungen muß jeder junge Buchhändler kennen, dem sein Beruf etwas Hohes und Ernstes ist. Reine Freude wird er em pfinden, wenn er in der neuen Ausgabe des Hirzelschen jungen Goethe von Morris liest, die der Jnselvsrlag kürzlich abgeschlossen vorgelegt hat. Sie enthält alles, was an Werken, Bildern und Briefen Goethes, Aufzeichnungen, Traditionen usw. irgend erhalten geblieben ist und gibt für die Jahre bis zum Einzug in Weimar die genaueste Biographie, die man sich denken kann. Leider wird wohl der hohe Preis fast immer der Anschaffung im Wege stehen, und ebenso werden wohl wenige Buchhandlungsgehilfen die Biedermannsche Ausgabe der Gespräche Goethes erstehen können, die in prächtiger Weise das Lebensbild Goethes bis zum Jahre 1832 fortführt und vollendet. Deshalb sei die Auswahl in einem Bande empfohlen, die Deibel und Gundelfinger für den Insel-Verlag S07