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Kurt Kluge: Die Zaubergeige Also Stunden geben! Andreas gab Stunden in Esper stedt, in Besenroda, in Ettersfelde — überall, wo in der näheren oder ferneren Umgebung Kranichstedts ein beun ruhigtes Menschenkind auf den Gedanken kam, mit Hilfe der Geige die andre Welt schon hier auf Erden zu suchen, da erschien Andreas und gab den nötigen Unterricht. Fünf Mark die Stunde. Man kann sich denken, daß nicht allzu viel Leute wöchentlich fünf oder zehn Mark für einen solchen Zweck auswarfen. Einer aber saß in jedem Ort, an manchen Plätzen saßen auch zwei. Leider lebte keiner in der nächst- gelegenen Großstadt, der den Andreas zu sich rief: Leipzig verfügt natürlich innerhalb der eigenen Mauern über an gesessene namhafte Meister auf allen Instrumenten. Aber trotzdem und ungerufen reiste Andreas in kurzen Abständen nach der alten Kantorenstadt, und Kranichstedt hätte gern gewußt, was der Zweite Geiger dort eigentlich Zu suchen habe, denn — merkwürdig — er nahm nie seine Geige mit. Daß er in Leipzig geboren war und zuweilen die Straßen der Kindheit wandeln mußte, erklärte noch nicht die Regelmäßigkeit dieser Fahrten. Erst eine gute Weile später erfuhren die Kranichstedter unter schweren inneren und äußeren Aufregungen, was es gewesen war, das diesen Mann gewaltsam nach Leipzig gezogen hatte: vom Haupt bahnhof eilte er ohne links oder rechts zu sehen über Plätze, durch Straßen, dann über Treppen und Gänge und wieder über Treppen und Flure in den Saal, der die Sammlung der historischen Musikinstrumente barg. Achtlos ging er vorbei an Spinetten, Cembalos, an Oboen und Gamben, um wie angenagelt stehenzubleiben vor einem Glaskasten, in dem auf einem altitalienischen Sammetstreifen eine Geige lag... „Antonius Stradivarius, Geigenbauer in Cremona, 1710" stand auf dem Zettel. Nicht zu jeder Zeit war diese Stradivari hier zu sehen. Ein frischer Staubhauch von Kolophonium zwischen Steg und Griffbrett zeigte, daß sie zuweilen namhaften Geigenmeistern zum Spielen anver traut wurde. Jetzt aber lag sie stumm auf Sammet und hinter Glas, und ihr Anblick erschütterte nicht nur Musi kanten: auch ein Bildhauer muß tieferstaunt stehenbleiben vor diesem wunderbaren plastischen Werk. Jungfräulich herb fchmiegt sich das köstliche Holz um ihren Körper, den freilich kein menschliches Auge erblicken kann: um ihren Hohlraum spannt sich die tiefschimmernde Haut, um ein körperliches Nichts, um Luft nur, um geformte Luft — ja. um ihr Geheimnis. Die Gestalt dieser Geige saugte Andreas mit seinen Augen in sich, ihre Seele hörte er in seiner Seele wideitönen. er war wirklich ein Geiger. Er hörte den un- gespielten Klang so deutlich, wie ihn der Schöpfer dieser Geige vernommen hatte, ehe die Geige geschaffen war, denn jener Meister Stradivari vernahm erst den Klang in sich, und dann hat er auf diesen nur ihm vernehmbaren Klang zu die Hölzer gebogen, gestreichelt und geschnitzt — wie von jedem lebendigen Werk erst die Seele im Dasein ist und dann der Leib. Andreas sah die Spiralen der Schnecke an, in die der Geigenbau mündet: frei zu schweben schienen sie, Tonwellen, die am Ende in königlichem Schwung zurück kehren in die Kraft, die sie erregte. Er fühlte die Innenseite seines Daumens an den Geigenhals sich schmiegen. Seine vier Spielfmger bogen sich, hämmerten, glitten in Lagen — Andreas fühlte sich die Stradivari spielen. Der Aufseher Schurch war ja allerhand Besucher in diesem Saal gewohnt — Musikanten sind seltsame Leute — aber wenn er diesen Mann da in seinem fadenscheinigen Anzug und mit schiefen Absätzen vor dem Glaskasten stehen und geigen sah mit leeren Händen, nahm Schurch eine Prise mehr; denn Andreas spielte auf der Stradivari lange Stücke. Halbe, ganze Stunden stand der Verliebte vor seiner Geliebten, und die Luft Gottes geigend, erlebte er sie in ihrem gläsernen Sarg. Manchmal setzte er auch die un- umschlossene Geheimnis an, folgte fast verzagt mit seinen Augen der unfaßbar kargen, dieser in aller Wahrheit keuschen Form des Resonanzholzes, welches tief bernsteinrot schimmernd das dichte Zellgewebe jenes Tannenholzes durch weinen läßt, wie es vorzeiten auf den mageren Alpen-- hänqen der Lombardei gedieh. Und wie gerne hätte Andreas das Ahornholz der Zargen und des Halses gestreichelt, das der Eremoneser Meister weither aus Dalmatien und aus der Türkei verschrieb, das er sondernd durchforschte, von hundert Ahornstücken das eine wählend, welches eben nur Stradivari erkannte als fügsam dem gewollten Klang. Andreas sah diese in unendlicher Sorgfalt ineins gefügten Holzblätter mit Augen und hörte mit Ohren ihre Musik: den reinsten Erdenklang, den Sopran des Knabengesangs der L-Saite, bis zum O-Saitenton, der, dem Horn ver wandt, aus einer unbekannten Ferne heranzukommen scheint auf langen, langsamen Wellen. Fortsetzung morgen I. Engelhorns Nachf. Adolf Spemanii Stuttgart Nr. 86 Sonnabend, den 19. April 1940 i