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28. 3 Februar 1912. Nichtamtlicher Teil. Böricnblou z. o. Dljchn. Buchhandel. 1475 «L Vom Reichsgericht. — Beiträge zur Sexualethik des Reichsgerichts. Abbildungen aus dem »Pariser Salon« auf Postkarten. (Nachdruck verboten.) Am 29. Januar kamen vor dem Reichsgericht mehrere Prozesse zur Entscheidung, die die strafbaren Handlungen aus § 184 des Reichsstrafgesetzbuchs zum Gegenstand hatten. Mit Strafe wird hiernach bedroht, wer unzüchtige Schriften, Abbildungen usw. feilhält, verkauft, ver breitet oder anpreist. So war von der Strafkammer des Landgerichts I zu Berlin der Kaufmann K., Inhaber einer Postkartengroßhandlung, wegen Vergehens gegen diese Vorschriften zu 75 ^ Geldstrafe verurteilt worden. Diese Verurteilung bezog sich auf zwei bestimmte Kartenserien, betitelt »Im edarabro sepures« und »Erika«, während eine Freisprechung des K. erfolgt war, wo es sich um den Verkauf von Pariser Salonkarten handelte. Der Angeklagte hatte gegen seine Ver urteilung, die Staatsanwaltschaft gegen seine Freisprechung im 2. Falle Revision beim Reichsgericht eingelegt. Es interessiert hier weniger eine Darlegung der tatsächlichen Verhältnisse, als vielmehr die prinzipielle höchstinstanzliche Auslegung der Begriffe »unzüchtig«, »anpreisen« usw. und die rechtliche Begründung der Reichsgerichtsentscheidung: Unzüchtige Abbildungen und Dar stellungen sind nach Ansicht des Reichsgerichts solche, durch welche in den gesitteten Kreisen des Volkes das normal geltende Gefühl für Scham und Sittlichkeit in geschlechtlicher Be ziehung verletzt wird. Nun stellt das Bild auf der Karte, be- titelt »Im edamdrs keparse«, eine Dirne dar, die auf einem Tische sitzend Sektglas und Champagnerflasche schwenkt, vor ihr ihr Liebhaber. Beine und Brüste des Mädchens sind stark entblößt. »Erika« ist die grobe Nachbildung einer entkleideten Frauensperson, ein wertloser Buntdruck. Im ersten wie im zweiten Bild ist das Geschlechtliche stark hervorgehoben: die herausfordernde, ver führerische Stellung, der sinnliche Ausdruck, bestimmt, die Lüstern heit zu reizen. So sind die Darstellungen, weil ohne das Äquivalent künstlerischen Wertes, geeignet, das sittliche Gefühl zu verletzen, also unzüchtig im Sinne des Gesetzes. Nach diesen Grundsätzen verwarf das Reichsgericht die von dem Angeklagten eingelegte Revision. Die Beschwerde des Staatsanwalts betr. die Freisprechung des An geklagten wegen Verkaufs von Abbildungen aus dem Pariser Salon ging dahin: das Urteil der Strafkammer stehe mit der Judikatur in Widerspruch. Denn es sei allgemein anerkannt, daß zunächst nur künstlerischen Zwecken dienende Abbildungen und Kopien von an sich nicht als unzüchtig geltenden Kunstwerken durch Vervielfältigung auf Postkarten unzüchtig wirken könnten; denn Postkarten seien ein Massenartikel, der, weil billig, besonders von der Jugend und urteilslosen Leuten aus dem Volk gekauft würde. Daher dienten diese Abbildungen nicht zur Befriedigung künstlerischen Interesses, sondern lediglich dazu, die geschlechtliche Lüsternheit zu reifen. — Hierzu machte der Angeklagte geltend, man könne unmöglich dem plutokratischen Gesichtspunkt des Staats anwalts beitreten, der scheinbar jedes künstlerische Empfinden in unbemittelten Volkskreisen für unmöglich halte. Unter Umständen hätte der Bauernbursche, der seinen Freunden ein Bild seiner nackten Braut zeige, viel mehr Empfindung für das künstlerisch Schöne, als jener Kommerzienrat, der nach einem opulenten Diner unter seinen Gästen das luxuriöse Bild einer Leda mit dem Schwan herumgibt. — Auch der Reichsanwalt trat für die Ver werfung der Revision des Staatsanwalts ein. Es ist bekannt, daß in dem »Salon« der jährlichen großen Gemäldeausstellungen in der Elysee-Straße zu Paris nur Kunstwerke von anerkannt hohem sittlichen Wert zugelassen werden. Daher kann auch eine wahrheitsgetreue Kopie niemals eine unzüchtige Darstellung sein. Der künstlerische Gedanke herrscht, wie schon das landgerichtliche Urteil festgestellt hat, auch in der Reproduktion vor. Auch ist in diesem Urteil auf die weite Verbreitung der Salonpostkarten Be zug genommen, die bisher nur immer künstlerisches Interesse hervorgerufen haben. Wahre Kunst, auch wenn billig gegeben, wird nicht dadurch gemein, daß der eine oder der andere sie nicht versteht und falsch auffaßt Das gesunde, sittlich normale Em- pfinden ganzer Volkskreise wird nicht in schlechter Beziehung durch sie beeinflußt. Das Reichsgericht bestätigte auch in diesem Punkte das Urteil der Vorinstanz und verwarf die Revision der Staats- anwaltschaft als unbegründet. (Aktenzeichen: 2 v 1056/11.) Anders dagegen lag nach Ansicht des Reichsanwalts ein Fall, der ebenfalls Reproduktionen aus dem Pariser Salon auf Post karten betraf. Hier waren die Kaufleute H. und O., ebenfalls aus Berlin, vom Landgericht I wegen Vergehens gegen § 184 Nr. 1 zu je 30 Geldstrafe verurteilt und auf Einziehung und Vernichtung der betr. Abbildungen erkannt worden. Die Angeklagten hatten in ihren Schaukästen Darstellungen nackter Frauengestalten und zwar Abbildungen aus dem »Salon« auf Postkarten aus- gehängt. Diese Bilder erregten die Neugierde der Schulkinder, die jedesmal, wenn sie an dem betreffenden Laden vorbei zur Schule gingen, stehen blieben, einander in die Höhe hoben, um besser zu sehen und lebhaft über die Bilder diskutierten. Nunmehr zogen die Angeklagten die nackten Weiber an, wenigstens teilweise, indem sie ihre Brüste und Geschlechtsteile mit Papier streifen überklebten. Dadurch glaubten sie alles Anstößige ent fernt und der Sittlichkeit Genüge getan zu haben. In dem gegen sie anhängig gemachten Verfahren, in dem sogar die Pro- fessoren Kampf und Stahl als Sachverständige genannt wurden, sprach das Gericht dennoch ihre Verurteilung aus. Nunmehr legten sie beim Reichsgericht Revision ein. Der Reichsanwalt plädierte auf Verwerfung derselben, denn: an sich nicht unzüchtige Abbildungen können nach Ort und Form der Schaustellung un züchtig sein, das normale Sittlichkeitsgefühl verletzen. Die An bringung der betr. Bilder im Schaukasten, alles nackte Frauen- gestalten, Reihe bei Reihe, könne in der Tat in diesem Sinne wirken. Der Charakter des Kunstwerkes ist nicht mehr beachtlich, wenn die Art der Schaustellung diese Wirkung unterdrückt und vielmehr das geschlechtliche Moment hervorhebt Wie das Uber kleben der Papierstreifen beweist, haben die Angeklagten sehr wohl das Bewußtsein gehabt, daß die Postkarten in dieser Form der Schaustellung nur in unsittlicher Weise wirken würden. Das Reichsgericht verwarf denn auch die Revision der Beschwerde führer als unbegründet. (Aktenzeichen: 2 v 894/11.) In dieser Hinsicht interessiert noch ein Fall, dessen Schauplatz das bekannte »Kramm-Cafe« in Berlin war. In diesem Lokal war ein gewisser W. Pächter des Poslkartenverkaufs. Durch einen Angestellten ließ er Postkarten an den einzelnen Tischen herumtragen und feilbieten. Nun befanden sich, wie bei einer Durchsuchung am 24. April 1911 festgestellt wurde, unter einer großen Anzahl vollkommen harmloser Karten einige andere, die nach Ansicht des kontrollierenden Beamten unzüchtige Dar- stellungen enthielten und daher beschlagnahmt wurden. Auf den Karten waren zu sehen u. a. die schon erwähnte Scene aus der »Obumbrs köpLrös« und ein stark dekolletiertes Mädchen mit geschürzten Röcken, dem ein kniender Liebhaber das Strumpfband bindet ; mit lüsternen Mienen stehen eine Anzahl Männer herum und weisen auf den Vorgang hin. Die Strafkammer war zur Freisprechung des Angeklagten gekommen, da die Karten zwar unanständig, aber, nur vereinzelt unter einer Menge harmlosen Inhalts und weil das normale Schamempfinden nicht gröblich verletzend, nicht unzüchtig zu nennen seien. — Die vom Staats anwalt hiergegen eingelegte Revision hatte Erfolg. Nicht nur die gröbliche, sondern jede Verletzung des Schamgefühls sei ent scheidend. Im übrigen aber sei das objektiv Unzüchtige von Ab bildungen nicht nur in dem zu finden, was sie zur unmittelbaren Anschauung bringen, sondern auch in dem mittelbar verständlichen Nebensinn. Bei den genannten Darstellungen weise alles, die Stellung, die Kleidung, auf einen unsittlichen Vorgang hin, das Geschlechtliche sei dabei stark betont. Alles dies habe der Richter erster Instanz nicht genügend gewürdigt, auch den Begriff der Verbreitung und des Massenbetriebes nicht genügend berücksichtigt. Der Senat verwies die Sache daher zur anderweitigen Verhand lung an das Landgericht zurück. (Aktenzeichen: 2 I) 1012/11.) Wissenschaftliche Stiftungen. — Man schreibt der »Frks. Ztg «: Der Verein deutscher Chemiker hat aus Anlaß seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens eine Jubiläums-Stiftung er richtet, für die bisher schon 200 000eingegangen sind. Während der größte Teil dieses Betrags dem weiteren Ausbau der »Zeit schrift für angewandte Chemie« dienen soll, werden 36 000 davon als Reisestipendien an zwölf junge angestellte Chemiker aus Wissenschaft und Industrie verteilt werden, denen auf diese Weise die Teilnahme an dem im Herbst dieses Jahres in New York stattfindenden achten Internationalen Kongreß für an gewandte Chemie und an der sich daran anschließenden Studien reise durch die Industriegebiete der Oststaaten ermöglicht werden 193*