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Buch und Unterhaltung Von Dr. phil. h. c. Waller Hofmann Buch und Unterhaltung, - ein Problem von besonderer Viel schichtigkeit ! Für das praktische Handeln, für Buchpolitik und Lcsererziehung bietet jede dieser Schichten besondere Aufgaben, aber auch besondere Schwierigkeiten, die klar erkannt und sorg fältig beachtet sein wollen, wenn praktisches Tun nicht Ver wirrung stiften, nicht im Leerlauf enden und damit im Wider spruch zum Leistungsprinzip stehen soll, dem auch wir Diener am Buch verpflichtet sind. Es ist nun freilich ganz unmöglich, in einem nur wenige Spal ten umfassenden Aufsatz diesen Problemknäucl aufzulösen. So mag cs heute genügen, eine erste Vorschau auf das Ganze zu versuchen und im Anschluß daran wenigstens die Seite der Angelegenheit näher zu beleuchten, die uns alle bei der Be schäftigung mit der Frage der literarischen Unterhaltung be sonders bedrückt. Lassen wir daS gesamte wissenschaftliche und belehrende Schrifttum, das Fach- und Sachbuch jeder Art, auch das poli tische Buch im engeren Sinne beiseite, so können wir sagen: Von vier ganz verschiedenen geistig-seelischen Lagen aus sucht der Mensch Zugang zum Buch. Es sind die folgenden: Erstens: Die Verfassung geistig-seelischer Abspannung und Leere. Nichts trostloser als dieser Zustand. Diese Trostlosigkeit gilt es zu vergessen. Ein Mittel hierzu, unter anderen, ist daS Buch. Mit dessen Hilfe wird die Vorstellung mit bunten und fesselnden Bildern von Gestalten und Geschehnissen angcfüllt. Der geistig-seelische Leerraum wird gleichsam ausgefüllt. Das allein ist'S, worauf eS hier ankommt. Zweitens: Wir alle sind, in dieser zivilisierten Welt mehr denn je, in unserem Alltagsleben eingeengt. WaS uns in der Wirk lichkeit nicht vergönnt ist, die Erweiterung dieses engen Le- benSspielraumcS, versuchen wir in einem Akt der Phantasie zu vollziehen. Wir greifen zum Buch. Zum Buch, das uns in die räumliche oder zeitliche Ferne, zum Buch, das uns in die Ursprünglichkeit von Wald und Feld oder in das Kräftespiel der modernen Großstadt, zum Buch, das uns in die Idylle oder zu Kampf und heldenhafter Tat führt. Die Wahl zwischen die sen vielfältigen Möglichkeiten wird bestimmt durch Alter, Ge schlecht, innere Veranlagung und äußere Lebensumstände. Drittens: Des Menschen Seele will wachsen, will sich selbst erkennen in Berührung mit anderen Seelen. Aber der Möglich keiten, unmittelbar von Seele zu Seele zu sprechen, sind nicht viele. So greifen wir wieder zum Buch. Im Dichter, der unö hier entgegentritt, suchen wir den Widerklang, die Ergänzung, die Lösung, Reinigung und Bereicherung unseres eigenen Wesens. Viertens: In der Wirrnis des Lebens, auch des starken und reichen, suchen wir immer erneut nach der Besinnung, nach dem wahren Pfad, nach der echten Einsicht und Weisheit. Aber nicht immer ist uns gegeben, Einsicht, Klärung, Weisheit in der glasklaren Gestalt der Lehre aufzunehmen, oft ziehen wir vor, ihr in der Gestalt des Symboles, des Gleichnisses zu be gegnen. Und noch einmal greifen wir zum Buch, zum Buch des Dichter-Weisen. Vier Bewegungen zum Buch, von vier Stufen aus, und jedes mal geschieht ein Gleiches. Auf jeder der weiteren drei Stufen ist'S wie auf der ersten: unsere Vorstellung wird erfüllt von Bildern und Gestalten, unsere anschauende Phantasie wird bewegt, wir vergessen Zeit und Raum, - wir werden unter halten. Und doch, - welch äußerste Gegensätzlichkeit innerhalb des Gemeinsamen! Indem wir uns in jedem der vier Fälle unter halten, ist es in jedem Falle gleichsam ein anderer Mensch in uns, der angesprochen wird. Aber so groß auch die Unter schiede und Gegensätzlichkeiten zwischen den einzelnen Stufen sind, sie werden überschattet durch den Gegensatz, in dem sich die letzten drei Stufen zur Stufe eins befinden. Was sie eint, ist das: bei ihnen stehen Phantasiebewegung und Unterhal tung im Dienste einer Substanz; ein echter Lebensdrang be dient sich des Organes der Phantasie und der Möglichkeit der Unterhaltung. Hingegen fehlt eben gerade dieser substantielle Ansatzpunkt bei der ersten Stufe. Hier ist nicht ein Lebcns- keim, der sich entfalten möchte, sondern hier soll die „Leere" ausgefüllt werden. Und weil dieser Leser nicht von einer LebenSbewegung auS zum Buch greift, verändert sich bei ihm auch nichts, wenn er liest, - weder zum Guten noch zum Bösen! Nach beendeter Lektüre ist er der absolut Unveränderte. Und im Augenblick, da er das Buch auS der Hand legt, ist auch die Leere, die Öde wieder in ihm, und er greift mit der gleichen Gier zum nächsten Buche. Und jedes Buch ist ihm recht, wenn es eben nur jene Ausfüllung verspricht. Der Leser dieser Stufe kennt keine substantielle Ausrichtung, weder vom Gegenstand, 21