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ästhetische oder literarhistorische Ansprüche und Maßsräbc an der Sache Vorbeigehen würden. Weil das natürliche Ver hältnis von Volk und Buch so beschaffen ist, war eS ein Irrtum, zu meinen, daß in jedes deutsche HauS ein sogenanntes Prachtwcrk gehöre. Es spielt dort lediglich die Rolle der guten Stube, die man selber nur wenig oder gar nicht betritt, während eine echte Beziehung zwischen Buch und Leser sich nicht ein stellt. Ebenso ist es aber auch umgekehrt falsch, zu meinen, dem Volkslesen sei am ehesten und besten mit dem billigen und billigsten Buch zu dienen, dem Schmöker, dem Groschenheft und der Volksreihe. Ich möchte hier die Frage unberücksichtigt lasten, wie diese - wie ich sie nennen möchte - Konsumlitcratur letzten Endes zu bewerten sei. Es ist sicherlich so, daß eS sie immer geben wird und der Volksbildner wird sich davor zu hüten haben, sich bei ihrer Beurteilung allzusehr auf das hohe Pferd zu setzen. Aber eS wäre ein verhängnisvoller Trugschluß, wenn man an- nehmcn würde, daß die Grenze zwischen der Konsumliteratur und dem volkhaften Schrifttum im Sinne eines oben und unten zwischen oberen und unteren Volksschichten verliefe. Tatsächlich ist es so, daß es in den sogenannten gehobenen und gebildeten Schichten genau so viel wenn nicht mehr Liebhaber einer reinen Konsum- und Zeitvertreibsliteratur gibt als in den Grundschichten des Volkes, nur daß sie hier in einer be stechenderen und besser getarnten Aufmachung verbreitet ist. In Wirklichkeit gibt es für das gute volkhafte Buch ebenso wenig eine untere wie für die Konsumliteratur eine obere Grenze. Das gute volkhaste Buch hat im Grunde eine unbe grenzte Wirkungsmöglichkcit. Es kann ja auch wohl nur dann ein Buch als zum ewigen Besitz eines Volkes gehörig be zeichnet werden, wenn an ihm das Gesamtvolk einen echten Anteil nimmt. Mag auch sein voller Gehalt vielleicht nicht zu jeder Stunde jedermann gegenwärtig sein, so sind doch seine Anschauungen, Lehrsätze und Aussprüche Allgemeingut und allgemein verständlich. Als ein Beispiel für die Wirkungsmöglichkeit des guten volkhaf ten Buches möchte ich die Erfahrungen nennen, die die öffentlichen Volksbüchereien seit vielen Jahren mit HanS Grimms „Volk ohne Raum" machen. Es handelt sich bei „Volk ohne Raum" ohne Zweifel um ein Buch, das sowohl seinem Umfange wie auch seinem kompositorischen Aufbau nach erhebliche Ansprüche an den Leser stellt. Trotzdem gehört gerade dieses Buch zu den stark ausgcliehencn Büchern der öffentlichen Volksbüchereien, und seine Leser setzen sich aus Menschen jeden Alters, aller Volks schichten und Berufe zusammen. Bei allcrlciSondcrvcrhalten im einzelnen ergibt sich grundsätzlich die Tatsache, daß die Einsatz- fähigkcit des Buches sich eigentlich überhaupt nicht auSschöpft. Diesem einen Beispiel ließen sich Dutzende ähnlicher anrcihcn. Man kann daher aus vielfältiger Erfahrung heraus getrost den Satz aufstellen, daß die Lescfähigkcit und Lescfreudigkcit, die in unserem Volke lebendig ist, nur allzuoft unterschätzt, nur sel ten aber überschätzt wird. Der Volksbibliothekar etwa, der auf dem Dorfe und in der Arbeitervorstadt in seine Bücherei das volkhaftc und weltanschaulich-politische Schrifttum unserer Zeit cinstcllt, indem er sich hierbei gleicherweise auf Buch und Volk verläßt, wird sich in seinem Vertrauen kaum jemals be trogen sehen. Er verfährt instinktiver und richtiger als ein Überpädagoge, der vielleicht am liebsten nur mit auszugS- wcisen und popularisierten Volksausgaben ack usum äelpbini arbeiten möchte, oder auch als der Nur-GeschäftSmann, der sich auf den so gern zitierten Publikumsgeschmack beruft. Der eine befördert die schöpferische Begegnung von Buch und Volk, Volk und Buch, die anderen beiden errichten Schranken, die im natürlichen Volkscmpfinden zunächst gar nicht vorhan den sind, die vielmehr erst durch ein falsches Sichabschlicßen der Bildungswelt und aus einem tiefen Mißverstehen des Volkslebens entstehen. Wenn heute diese gegenseitige fruchtbare Durchdringung von Buch und Volk noch nicht in dem Maße sich vollzogen hat, wie sie möglich wäre, so liegt das nicht an einer Abnahme des BuchlcsenS und der Buchleser. Es fehlt noch an den richtigen Büchern in der Hand der Leser. Man muß sich vergegenwärtigen, daß wir aus einer Zeit kommen, in der Bücher und Bücherlesen noch als ein Vorrecht galten, an dem breite Schichten des Volkes keinen Anteil hatten. Wir stehen, was die Verbreitung des Buches und des Bücherlesens anbelangt, nicht am Ende, sondern erst am Anfang einer Ent wicklung, deren größere Möglichkeiten wir erst zu erschließen beginnen. Von einem erlahmenden Interesse für das Buch zu sprechen, kann daher mit Fug und Recht solange als gegen standslos bezeichnet werden, solange die obengenannten Mög lichkeiten noch nicht voll erschlossen sind. Die bereits eingangs erwähnte Statistik des öffentlichen Volkübüchereiwesenö lehrt beispielsweise, daß so gut wie in jedem Orte die Zahl der Bücherleser und Buchentleihungen in dem Maße steigt, in dem die vorhandenen Büchereien ausge baut werden. Das Lesebedürfnis ist also vielerorts da, aber die Bücher gelangen noch nicht in die Hände derer, die lesen würden und lesen möchten. Daß in diesem Betracht die öffent liche Volksbücherei ein Schrittmacher des Buchhandels ist, sei nur nebenbei angemerkt. Denn die Zahl der Menschen, die vom entliehenen Buch zum Kaufen von Büchern geführt wer den, ist weitaus größer als die kleine Gruppe literarisch viel seitig Interessierter, die ihren eigenen Buchbcsitz durch die 10