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in Böhmen an. Dieses Amt trat er 1785 an, und in der Ruhe des weltabgeschiedenen Ortes beginnt, von wenigen früheren Ar beiten abgesehen, die fruchtbare littcrarische Thätigkeit Casanovas, neben der ein umfangreicher Briefwechsel mit einer langen Reihe bekannter Persönlichkeiten einherläuft. Casanova starb auf Dux am 4. Juni 1798, 74 Jahre alt. lieber das etwa 600 Bogen starke, französisch geschriebene Mc- moirenmanuskript findet sich keine Aufzeichnung vor. Erst 22 Jahre später, am 11. Dezember 1820, erschien im Kontor von Friedrich Arnold Brockhaus ein Mann Namens F. Gentzel, der sich als Gehilfe des kaufmännischen Geschäftes von Anger L Co. in Leipzig vorstellte und angeblich im Aufträge eines in Leipzig lebenden Nachkommen Casanovas das Manuskript der Memoiren, nebst solchen dreier kleinerer Werke zum Kauf anbot. Bei dem Kontrakt, der daraufhin zu stände kam, nannte sich der Verkäufer Carl Angiolini und versicherte, -daß sämtliche Manuskripte sein recht mäßiges und unbestrittenes Eigentum seien». (Siehe darüber: Friedrich Arnold Brockhaus. Von Heinrich Eduard Brockhaus. Bd. II S. 336 sg.) Die Frage,'wo diese Manuskripte von 1798 bis 1820 versteckt waren, ist bis jetzt nicht gelöst ivordcn. Ottmann nimmt an, daß Casanova die Manuskripte kurz vor seinem Tode an einen Buch drucker oder Verleger gesandt hätte, der aber nicht den Mut hatte, ein so umfassendes und in seinem lasciven Inhalt gefährliches Werk, wie die Memoiren es sind, zu veröffentlichen. Ob dieser Grund der Nichtpublikation auch von den drei kleinen Manuskripten gilt, die Umfänge von 56 bis 120 Seiten haben, weiß ich nicht. Sie lagern noch unveröffentlicht bei Brockhaus, aber ihre Titel: -Kritischer Essay über die Sitten, die Wissenschaften und die Künste»; ein an Kaiser Josef II. gerichtetes Schreiben -Nachtarbeit über den Wucher. Mittel ihn ohne Strafandrohung auszutilgen.- (Uueubrs-tion sur I'usurs. Ilo^sn äs la. ästruirs saus la soumsttrs ä äss eommiuatoirss) und eine -Träumerei über das Mittelmaß unseres Jahres gemäß der gregorianischen Reform- deuten kaum darauf hin, daß sie so gefährlich wären. Unbegreiflich ist es auch, daß Fürst Karl Josef von Ligne, der Oheim des Grafen von Waldheim, ein klassisch gebildeter und geistreicher Schriftsteller, begeisterter Verehrer der Memoiren Casanovas und dessen litterarischer Vertrauensmann, der in einem -Fragment über Casanova, ihren Inhalt auszüglich mittcilt, bei dieser Gelegenheit seinem Erstaunen über das Ver schwinden des Manuskriptes nicht Ausdruck gegeben haben sollte. Das wäre doch wohl noch auffälliger, als daß er bei Gelegenheit der genannten Veröffentlichung die Angabe unterlassen habe, daS Manuskript sei in seinem Besitz, aus welcher Unterlassung Ottmann schließt, daß es damals schon verschwunden gewesen sei. So plau sibel die Erklärung seines Verschwindens ist, indem man annimmt, der Verfasser habe es an einen Verleger gesandt, bei dem es liegen geblieben sei, so wenig begründet erscheint mir Ottmanns oben angegebener Schluß. Die Güter des Fürsten, in dessen Armen Casanova gestorben ist, wurden 1803 von Bonaparte sequestriert. Konnte das Manuskript, wenn es sich in seinem Besitz befand, nicht bei dieser Gelegenheit verschwinden? Höchst wahrscheinlich ist, daß ein Stück des Manuskriptes auf seiner unbekannten Wanderschaft verloren gegangen ist, denn der erhaltene Teil reicht nur bis zum Jahre 1774, während ein noch vorhandener einzeln beiliegender Titel lautet: Uistoirs äs ms. vis jusqu'ä l'an 1797». Daß diese hier angedeutete Fortsetzung tat sächlich existierte, hält Ottmann für unzweifelhaft, kann aber einen eigentlichen Beweis dafür nicht erbringen. Nachdem Brockhaus die Memoiren nebst den genannten drei übrigen Manuskripten von dem im näheren Unbekannten unterm 24. Januar 1821 erworben hatte, veröffentlichte er in den folgenden drei Jahren in seinem Taschenbuch -Urania- mehrere kleine Epi soden daraus in der deutschen Uebersetzung von Wilh. v. Schütz Sie erschienen später in einer Separatausgabe unter dem Titel -Casanoviana oder Auswahl aus Casanovas de Seingalt voll ständigen Memoiren. Erstes Bändchen-, dem übrigens ein zweites nicht folgte, vermutlich weil Brockhaus seiner schon 1821 begonnenen vollständigen Ausgabe keine Konkurrenz machen wollte. Freilich sind die 12 Bände, die unter dem Titel: -Aus den Memoiren des Vcnetianers Jacob Casanova de Seingalt oder sein Leben, wie er cs in Dux in Böhmen niederschrieb. Nach dem Original-Manu skript bearbeitet von Wilhelm Schütz- erschienen, wie schon in dem Titel angedeutet ist, keine im eigentlichen Sinne vollständige Aus gabe, die überhaupt bis heute noch nicht erschienen ist, sondern eine Bearbeitung, die manche der bedenklichen Stellen unterdrückt und im Interesse des Zusammenhanges eigene Zusätze bringt. Diese Vorsicht des Ucbersetzers war notwendig, wie aus dem Schick sale der von Professor Jean Laforgue von der Ritterakademie in Dresden besorgten französischen Ausgabe heroorgeht, die nach dem 1823 erfolgten Tode Friedrich Arnold Blockhaus' 1826 zu erscheinen begann. Wenngleich sie ebenfalls keinen wortgetreuen Abdruck des Manuskriptes bot, wurde der Wciterdruck nach Erscheinen der ersten vier Bände 1827 von den deutschen Censurbehörden verboten, worauf 1832 die nächsten vier Bände unter einer Pariser Verlags firma und — da auch die französische Censur Anstoß daran nahm — die letzten vier endlich unter einer Brüsseler Firma veröffentlicht wurden. Auf diesen beiden Ausgaben beruhen alle ferneren. Ludwig Buhl hat die vollständigere französische Ausgabe ins Deutsche übersetzt und so stehen wir vor der Thatsache, daß, wenngleich auch die 1850 und 1851 erschienene Uebersetzung Buhls nicht einwandfrei sein soll, doch die deutsche Ausgabe eines Autors in einem fremden Verlag <von Gustav Hempel) vollständiger ist, als diejenige des Originalverlegers. Ilebrigens braucht man die sogenannte Verstümmelung des Autors nicht allzu tragisch zu nehmen. Der Wert der Memoiren liegt in ihren kulturgeschichtlichen Schilderungen. Für diese sind aber die ungemein zahlreichen Cochonnerien, die dem Leser hier vorgesetzt werden, nicht nötig. Ich verkenne nicht, daß die Uebcr- gehung der Ausschweifungen eine große Lücke in diesem Zeitbild entstehen ließe, aber die unerhört drastischen Ausmalungen, in denen Casanova geradezu schwelgt, erscheinen mir recht entbehrlich. Die sehr vollständige Bibliographie, die Ottmann in einem besonderen, und zwar dem besten Teile seines Werkes giebt, führt 18 Ausgaben der Memoiren oder von Teilen desselben auf. Casanova beschrieb außerdem die Geschichte seiner Flucht aus den Bleikammcrn zu Venedig, die auch 1857 in Brockhaus' Reise-Bibliothek und später in Reclam's Universalbibliothek in deutscher Uebersetzung erschienen ist. 1769 ließ er nach eigener Angabe in Lugano (auf dem Titel steht Amsterdam) die -Oonka- tssious äslls Ltoria äsl govsrno vsnsto ä'^wslot äs Is. Houssaio- erscheinen, von welchem 228 Seiten starken Merkchen er in seiner Abhandlung über den Jkosameron sagt, daß es ihm 1000 Dukaten eingebracht hätte. Er verfaßte es in der Citadelle zu Barcelona, wo er wegen einer Liebschaft mit der Geliebten des Gouverneurs sechs Wochen gefangen gehalten wurde. -So schrieb ich denn hier-, sagt er, -in 42 Tagen mit Bleistift und ohne alle Bücher die Widerlegung der bekannten (1693 erschienenen) Geschichte von Venedig von Amelot de la Houssaie, indem ich nur die Citatc offen ließ, um diese auszufüllen, wenn ich das Buch selbst vor Augen haben würde.« Obwohl das Werk in 1200 Exemplaren gedruckt wurde, die innerhalb eines Jahres auch sämtlich Käufer gefunden haben, ist Ottmann doch keines davon bekannt geworden; weder in Antiquariatskatalogen noch in Bibliotheken. Dem dreibändigen Werke -Jcosameron», das die Erzählung zweier Kinder enthält, die bei einer Seefahrt scheiterten und in das im Mittelpunkte der Erde gelegene Reich der Msgamicres verschlagen worden waren, ist 5as einzig authentische Bildnis Casanovas, von Becker gestochen, beigegeben. Die Reproduktion, die dem Ottmannschen Buche vorgeheftet ist, zeigt einen geistvollen Kopf mit scharf geschnittenen Zügen und einer Schillernase. Das absonderliche, weitläufige Werk, von dem der Verfasser selbst sagt, daß niemand auf der Welt imstande sei zu entscheiden, ob cs eine Geschichte oder ein Roman sei, bietet eine Art Utopistenroman, wie ihn fast drei Jahrhunderte früher Thomas More geschrieben hatte. Ottmann, dem der Graf Georg Waldstcin zu Dux Casa novas Handschriften zugänglich gemacht hat, stellt aus einem dort befindlichen Aussatz -blsxrit äs i'Isosa.msron- fest, daß das Werk auf Kosten des Verfassers für 2000 Gulden gedruckt und um 1788 bei dem Verleger Hilcher in Leipzig in Kommission erschien, aber keinen Absatz fand. Casanova schiebt die Schuld des Mißerfolges auf den Verleger und giebt folgendes Urteil über den Buchhandel seiner Zeit von sich: -Die Hilcher in Leipzig sind wie alle Buch händler heutzutage, mit Ausnahme des Berliners Nicolai. Sie sind in allen Stücken unwissend, wofern es sich nicht darum han delt, unerlaubte Nachdrucke zu veranstalten; sie sind feig und dumm und wagen kaum einen Schritt zu thun, weil sie Angst haben, die zehn oder zwölf Gulden zu verlieren, die ihnen das Verschicken der Exemplare kostet.« Ich übergehe die übrigen Veröffentlichungen, die Casanova von seinen Schriften selbst noch veranstaltet hat oder die nach seinein Tode veranlaßt worden sind. Der noch ungedruckte Nach laß, der sich im Schlosse zu Dux befindet, birgt noch viele Schätze, die zu heben es wohl an der Zeit sein wird. Ein Unstern hat bis jetzt über mehrfachen Versuchen dazu gewaltet. Ein Italiener, Antonio Jve, der 1884 viele Kopien genommen hat, ist spurlos damit verschwunden, und der damalige Chef der kaiserlichen Bi bliothek in Wien, Klinkowström, dem die Erlaubnis zur Sichtung drei Jahre später erteilt worden war, starb, bevor er die Ergeb nisse seiner Arbeit veröffentlichen konnte. Nach Ottmann handelt es sich bei dem Nachlaß Casanovas um viele Tausende von Briefen von höchstem Interesse, die er aus allen Mittelpunkten der euro päischen Kultur empfing; befanden sich doch unter seinen regel mäßigen Korrespondenten Namen wie: Kaunitz, Zinzendorf, Lob- kowitz, Balbi, Fürst Lubomiersky, Prinz Karl von Kurland, Graf Brühl, Elisabeth von der Recke, Graf Lamberg, Da Ponte, Clemen- tine Gräfin von Pückler-Muskau re. Ferner findet sich da eine