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78, 2. April. Nichtamtlicher Theil, 1565 hoch erregten Leidenschaften des Volkes, zu einem Morast, der den literarisch-künstlerischen Niederschlag des entsesselten Egois mus ausnimmt, zu einem öffentlichen Tummelplatz, auf welchem sich Genie, Trivialität und Unanständigkeit um die Herrschaft streiten. Der patriotische Schmerz und die ohnmächtige Wuth der Besiegten toben sich in Wort und Bild bis zum Exceß aus; wie durch ein geöffnetes Ventil strömt nach dieser Richtung hin die überschäumende Leidenschaft aus, und da es leicht zu be denklichen Katastrophen führen könnte, wollte man den Versuch machen, dies Ventil zu schließen, so läßt die Regierung die Zügel schießen. Das betreffende Volk geräth nach und nach in eine literarisch-künstlerische Gluthhitze, in eine Art von Pa- roxismus, der zwar psychologisch sehr interessant, ästhetisch aber einfach widerwärtig ist. Die großen öffentlichen Bibliotheken haben uns derartige Sammlungen überliefert aus den Zeiten Cromwell's, aus der großen französischen Revolution am Ende des vorigen Jahr hunderts, aus der Zeit der Gewaltherrschaft des ersten Napo leon, aus der achtundvierziger Revolution und auch vom letzten französisch-deutschen Kriege. Unter anderen verdankt die könig liche Bibliothek in Berlin der Munificenz unseres Kaisers eine sehr umfangreiche Sammlung aller Caricaturen, Spott- und Schmähschriften, welche sich auf den letzten Krieg beziehen. Wer sich für den Gegenstand interessirt, sollte nicht versäumen, diese Sammlung zu studircn. Das gewaltige Ringen der germanischen Race mit der romanischen um die politische Suprematie in Eu ropa hat sich damals täglich vom Schlachtfelde her auf die Pas quille und Caricaturen übertragen, die in unglaublicher Menge, wie die Pilze über Nacht, emporschossen, den Ereignissen aus Schritt und Tritt folgend. Der persönliche Angriff in Schrift und Bild wurde auch vor 13 Jahren mit der denkbar rücksichtslosesten Schärfe ge- handhabt, die geringste gegebene Blöße des Gegners wurde auf beiden Seiten auf das Schonungsloseste ausgebeutct; man staunt, wenn man sieht, welche Freiheiten, um nicht zu sagen Frech heiten, die Presse sich in unserem gesitteten Zeitalter erlauben durste in ihren Ausfällen gegen Menschenwürde, Religion, Staalseinrichtungen und gute Sitte, mit einem Worte gegen alles Hohe, Schöne und Edle, was dem Menschen heilig ist. Man muh sehr objectiv urtheilen, muß sich als Kritiker auf einen sehr kaltblütig prüfenden Standpunkt stellen; sonst kann man sich bei der Betrachtung der vielen Verirrungen, welche damals — namentlich auf französischer Seite — in Wort und Bild geschaffen und geduldet wurden, leicht sittlich entrüsten. Es würde uns zu weit führen, wollte ich hier aus Eiuzeln- heiten dieser Erscheinungen eingehcn; ich gestatte mir nur zu erwähnen, daß die Kriegsjahre von 1870 u. 71, wie mit so manchem Unhaltbaren auch in der Caricatur aufgeräumt haben mit zwei Lieblingsfigurcu, welche in Europa lange Zeit hin durch eine große Rolle gespielt haben. Die eine, die Schlaf mützenfigur des „deutschen Michel", ist durch die glorreiche Wiederherstellung des deutschen Kaiserreiches ebenso hinfällig ge worden, wie die andere, die Caricatur des dritten Napoleon. Es war vor etwa 30 Jahren eine der feinsten Caricaturersin- dungcn des Punch, dem französischen heraldischen Adler die Ge- sichtszügc Ludwig Napoleon's zu geben. Lange Jahre hindurch hat sich dies geistreiche Spottbild an die Fersen des Impera tors geheftet, bis es mit ihm bei Sedan gefallen ist. Der deutsche Michel verschwand damals ebenso spurlos, wie vor ihm die Eisele und Beisele, die Wühlhuber und Heulmeier u. A. verschwunden sind. Denn die politische Caricatur und die Spottschrift ver lieren sofort den Boden unter den Füßen, sobald die bekämpften Zustände sich normal gestalten, sobald die öffentliche Meinung ihre Opposition aufgibt. Nur wenige der verschiedenen deutschen Caricaturzeitnngen, welche aus der unsere nationale Wiederge burt vorbereitenden Volksstimmung ihre Nahrung schöpften, haben die entscheidende Krisis gesehen oder überdauert. Die von Kalisch in den vierziger Jahren redigirte Mainzer „Narhalla", die „Düsseldorfer Monatshefte", der Stuttgarter „Eulcnspiegel" die „Leuchtkugeln" u. a. m., sie alle sind längst vom Bücher märkte verschwunden. Nur der Kladderadatsch und einige seiner Epigonen haben sich gehalten, und auch bei diesen ist die heu tige Bedeutung gegen die frühere sehr gesunken. Wo ist die gewaltige Herrschaft über die öffentliche Meinung geblieben, der sich beispielsweise der Kladderadatsch zur Conflictszeit vor 1866 mit vollem Rechte rühmen durste? Die Reactionsperiode von 1849—1860 und die daraus folgenden Verfassungsstreitigkeiten mit Bismarck's ungestümem Auftreten waren ausgezeichnete Vor bedingungen für die Begründung und das Aufblühen eines geistreich redigirten Witzblattes wie der Kladderadatsch. Es war ein gegebener Tummelplatz, auf dem sich verhältnißmäßig leicht Thaten aussühren ließen, welche damals geradezu befreiend auf die Gemüther wirkten. Wie der Kladderadatsch seine Aufgabe erfaßte und löste, das bleibt allerdings ein unbestreitbares Verdienst der „Gelehrten des Kladderadatsch". Diese führten eine so gewandte Feder, unterstützt von einem politisch satirischen Illustrator ersten Ranges, daß die besten geistigen Kräfte un serer Nation es sich zur Ehre anrechncten, zu den Mitarbeitern des Kladderadatsch gezählt zu werden. Nennt man doch unter diesen keinen Geringeren, als den König Friedrich Wilhelm IV! Indessen, die Mitarbeiterschaft gekrönter Häupter an der Oppo sition gegen ihre eigene Regierung ist eine so vielfach erzählte ! Anekdote, daß auch die hier erwähnte vermuthlich als Unkraut aus dem Acker der Wahrheit gewachsen sein dürfte. Die Wahr heit aber bleibt unanfechtbar, daß die öffentliche Meinung da mals den Bestrebungen des Kladderadatsch einen so hohen Grad der Achtung zollte, daß die Anekdote bereitwillig Glauben fand. Thatsächlich übte das Blatt im politischen Leben einen ganz gewaltigen Einfluß aus, einen Einfluß, welcher bis in die allerhöchsten Kreise hinaus salonfähig wurde durch das umsassende Wissen, durch die elastische Form und durch die geistige Vor nehmheit, welche den „Gelehrten des Kladderadatsch", namentlich dem jüngst verstorbenen Ernst Doh m in so selteneni Maße eigen waren. Der Kladderadatsch hat seine Mission erfüllt. Wenn er trotzdem sich noch eine ausreichende Lebenskraft bewahrte und heute noch als ein vielgelesenes politisch-satirisches Wochenblatt sich hält, so verdankt er dies, wie der Punch, lediglich der vor erwähnten hervorragenden Begabung und dem Takte seiner Re daction. Aber diese wird ihm schwerlich wieder seine frühere Bedeutung verschaffen können, ja, vielleicht erlebt es unsere Generation noch, daß auch der Kladderadatsch, wie alle seine Vorgänger, zu seinen Vätern cingeht. Der Abbruch, den sein Ansehen erlitten, ist nur zum Theil darauf zurückzuführen, daß die Reihen seiner Mitarbeiter aus der guten Zeit stark ge lichtet sind; die gegenwärtigen ruhigen Zeitverhältnisse sind cs, welche überall dem Gedeihen der politischen Satire in Wort und Bild nicht günstig sind. Wir Alle aber wissen es Gott und unserem Kaiser Dank, daß dem so ist, daß wir nach langen schweren Kämpfen endlich zur Ruhe gelangt sind. Und damit lassen Sie mich schließen mit dem Wunsche, daß uns der gegenwärtige politische Frieden noch recht lange erhalten bleiben möge — sei es auch zum Nachtheile der Cari caturen und Pasquille!