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235, 8. Oktober 1912. Amtlicher Teil. «öH-ndlaa >. d. Dtschn. «llchha»d-I. 12023 vorher bereit waren, Deutschland in dem kulturellen Wettbewerb mit den interessierten Mächten wirksam zu unter stützen, zog sich die zum Geben bereite Land wieder zurück, weil man glaubte, daß die Arbeit in den aufgeregten Revolutionszeiten doch von wenigem Nutzen sei, und daß nun auf geraume Zeit hinaus von praktischer Kulturarbeit in China nicht die Rede sein könne. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Rascher, als heimische Kreise glaubten, denen die chinesische Revolution wohl als eine Revolution nach berühmten westländischen Mustern vorgeschwebt hat, folgte auf die politische Umwälzung bald die geistige oder wenigstens das durch äußerliche Begleiterscheinungen ge kennzeichnete Verlangen nach einer solchen. Die chinesische Jugend, die die Republik errichten half, ist heute für wissenschaftliche Einflüsse des Auslands zugänglicher als je. Die Revolution hat den Boden gelockert, der nun zur Aufnahme des Samens bereit ist. Frei lich ist dieses Verlangen iveniger natürlich, als durch die Amstände erzwungen. Aber Nacht ist aus dem absolu tistischen Kaisertum von Himmels Gnaden eine Republik von Volkes Willen geworden. In diesem neuen Staatswesen verlangen täglich Tausende von Problemen, an die die fortschrittsbedürftigen Heißsporne nie gedacht haben, als sie die Republik erkämpften, nach Lösung. Jetzt, wo nach dem Niederreißen das Aufbauen beginnen soll, erkennt Iung- China die Hilflosigkeit seiner Lage, und es greift nach jedem Strohhalm, der ihm vom Westen gereicht wird, um sich daran zu klammern! Die ruhigen, mahnenden Worte des greisen Chang-Chih-tung: „Lernt" sind heute ein vorwärts peitschendes Schlagwort geworden. Aberall im Reich bereitet sich die lernbegierige Jugend vor, die steile Leiter west ländischer Wissenschaft zu erklimmen. Denn nur in der Aufnahme fremden Wissens wird das Heil für Chinas Zu kunft gesehen. China hat mit der Republik eine neue Form erhalten. Jetzt gilt es, die Form auszufüllen, wenn sie nicht wieder aus innerer Schwäche zusammenfallen soll. Der neuerwachte Drang nach Wissen hat den ausländischen Lehranstalten, die nach der Revolution ihren Betrieb wieder in vollem Amfange ausgenommen haben, viele neue Schüler zugeführt. Insbesondere haben die Schulen der Engländer und der Amerikaner neuen Zuwachs erhalten, die, weil die Zahl ihrer Anstalten den deutschen überlegen ist, infolgedessen mit ihren Kulturbestrebungen wieder einen großen Schritt vorwärts gemacht haben. Die deutsche Medizinschule und die deutsche Ingenieurschule in Shanghai, sowie die Deutsch-chinesische Hochschule in Tsingtau sind aber ebenfalls mit einer großen Schülerzahl ins neue Schuljahr eingetreten, was einen neuen Gewinn für die deutsche Kulturarbeit bedeutet. Verschiedene Anzeichen deuten ferner darauf hin, daß auch das Interesse für die deutsche Sprache in chinesischen Kreisen weiter zu wachsen beginnt. Ans ist bekannt, daß in einer deutschen Missions- schule in Südchina vierundzwanzig Schüler freiwillig Anterricht in der deutschen Sprache erbeten haben. Ein in Deutschland ausgebildeter Chinese, der demnächst mit zwei Freunden in Shanghai eine deutsche Sprachschule eröffnen wird, hat über zweihundert Bewerbungen erhalten, von denen er nur fünfzig berücksichtigen konnte. Bezeichnend ist, daß die sich meldenden Schüler nicht allein aus Shanghai und dessen Amgebung stammten, sondern daß auch An meldungen aus westchinesischen Provinzen Vorlagen. In Hangchou, der Provinzialhauptstadt von Chekiang, haben private chinesische Kreise medizinische Kurse veranstaltet, in denen das Deutsche neben dem Englischen einen Platz im Sprachunterricht behauptete. Eine in Ningpo gegründete Gewerbeschule hat ausschließlich Deutsch als fremde Sprache in ihren Lehrplan ausgenommen. Diese Bestrebungen von rein chinesischer Seite, der deutschen Sprache in China Eingang zu verschaffen, sind gewiß erfreuliche Ergebnisse, die als eine Nachwirkung der Revolution aus der vorher von deutscher Seite geleisteten Arbeit hervorgegangen sind. Es sind verheißungsvolle Keime, die da aus dem Boden zu sprießen beginnen, die aber absterben, wenn es von deutscher Seite unterlassen wird, sie zu hegen und zu pflegen. Es ist Pflicht deutscher Kreise, nicht allein jene Keime am Leben zu erhalten, sondern auch das Bedürfnis nach deutschem Wissen in chinesischen Vvlkskreisen weiter zu erwecken. Professor l)r. Otto hat vor einer Woche an dieser Stelle ausgeführt, wie jeder Deutsche in China an diesem verdienstvollen Werk Mitarbeiten kann. Dazu gehört neben anderen Forderungen, die oft genug in den Spalten dieses Blattes erhoben worden sind die Verteilung oder der Vertrieb volkstümlich geschriebener Werkchen wissenschaftlichen Inhalts, wie sie in einigen von deutschen Verlagsbuchhändlern veranstalteten Sammlungen erscheinen. Denn was der deutsch lernende Schüler zurzeit in die Hände bekommt, sind fast ausschließlich Schulbücher oder kostspielige dickleibige Werke. Die Amerikaner überschwemmen seit Jahren den chinesischen Büchermarkt mit billiger wissenschaftlicher und unterhaltender Lektüre, nach der die Schüler gern in ihren Freistunden greisen. Das deutsche Verlagsgewerbe ist aber in der Lage, ähnliche Bücher weit billiger und geschmackvoller auf den Markt zu bringen. Ob der Vertrieb von einer Zentrale in Deutsch land aus, oder in China im Anschluß an bestehende Buchhandlungen in die Wege geleitet werden soll, ist den inter essierten Kreisen zu überlassen. Für eine Werbetätigkeit des deutschen Buchhandels als unterstützenden Belangs der deutschen Kulturbestrebungen in China ist augenblicklich die Gelegenheit günstiger denn je. Wenn jetzt der „Anschluß verpaßt" wird, ist es für immer geschehen! 15S5"