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Beziehungen und geschlechtlicher Verhältnisse spielt fraglos in unserer Literatur eine viel größere Rolle als früher. Unsere Erzähler und Dramatiker sind großenteils bei den Realisten der neunziger Jahre in die Schule gegangen, und diese stehen wiederum auf den Schultern der großen Franzosen, der Gon court, Balzac und Zola, der Skandinavier oder der Slawen. Bedenkt man aber, daß Tendenz und Technik füglich nicht mit einander verwechselt werden dürfen, daß die Äußerlichkeiten sittlichen Empfindens (nicht das Empfinden selbst!) im Wan del der Zeiten Entwicklungen durchzumachen haben, wie alles Existierende, dann wird man für unsere Literatur den Vor wurf der Sittenlosigkeit trotzdem zurückweisen dürfen. So wahr es ist, daß ein halb enthülltes Fragonard-Dämchen zehn fach aufreizender wirkt als Giorgiones ruhende Venus in Dres den oder gar die hohe Frau von Milo, so wahr ist — mein Vergleich soll beileibe keine Klassifikation enthalten — die schwüle Atmosphäre etwa von Heinses Ardinghellv oder das verführerische Lächeln von Friedrich Schlegels verrufener Lu- cinde gefährlicher als etwa Heinrich Manns Buch von der Herzogin von Assh oder Wassermanns Roman der Renate Fuchs oder Clara Viebigs Weibcrdorf. Das Loblied der guten alten Zeit, das immer wieder freundliche Hörer findet, ist vielleicht auch in unserem Falle mehr gutgemeint als inner lich berechtigt. Damit wäre die Betrachtung des Themas erledigt, wenn gleichzeitig mit der Materie selbst auch die Folgerungen fort fallen würden, die daraus für den Buchhändler entspringen. Dem ist aber leider Gottes nicht so. Dem ist nicht so, weil der berufene Vermittler zwischen dem Produzenten und dem Publikum die Grenzlinien der Kunst häufig verkennt, weil er Erzeugnisse als Literatur anpreist, die ent weder wilde Sprößlinge sind, die keinen Segen bringen kön nen, oder gar Elaborate, die mit der Kunst nicht das min deste zu tun haben. Ich denke in erster Beziehung an Dinge wie den (glücklicherweise verbotenen) Dialogzyklus eines Wiener Dramatikers oder die Lohenstein« und Gryphius- Kopien eines unserer Jllngstdeutschen oder gar die Klimakterium-Bekenntnisse einer vielgenannnten Dänin. Das sind alles Produkte, die Wohl in sich durchaus berechtigt sind, die man aber niemals der breiten Masse auslicfern sollte, der für derartige Bücher durchaus die feinen Organe fehlen. Man sollte sie vor allen Dingen nicht, wie das bei einem der Erzeugnisse, die ich meine, geschehen ist, durch billigen Preis jedem dummen Jungen zugänglich machen, oder gar die Re klametrommel mit Gewalt und Pathos dafür rühren; es ist gut, auch den bloßen Schein zu vermeiden, daß man auf die schlechten Instinkte des Lesepublikums spekuliere. Der Wie ner Verlag unseligen Angedenkens, der seinen pornogra phischen Erzeugnissen sehr beflissen ein literarisches Mäntel chen umhing und ihnen, gewissermaßen als Folie, Produkte ernsthafter Literatur mit erotischer Tendenz beigeselltc, hat keine Aussicht, vor dem Richtstuhl der Geschichte besser zu bestehen als irgendein Budapester Schmutzwarenvertreiber; im Gegenteil, man wird ihn füglich für raffinierter und für viel gefährlicher halten dürfen. Nebenbei mag hier auch die Frage aufgeworfen werden, ob es gutzuheißen sei, daß man neuer dings den Boccaccio und sogar den Casanova in neuen, durch den billigen Preis allgemein erreichbaren Ausgaben auf den Markt gebracht hat. Wenn die betreffenden Herren Ver leger der Meinung sind, unser Publikum sei zu unbefangenem Genuß solcher Werke mit durchaus erotischer Grundnote reif, dann setzen sie eine hohe Kultur des Geschmackes und des sitt lichen Empfindens bei unseren Bücherverkäufern voraus. Wir wollen froh sein, wenn man überall im Lande zu solcher For mulierung der Tatsache und des Beweggrundes gelangt. Dem Sortimenter aber erwächst unter allen Umständen die Pflicht, jene beiden Bücher und anderes gleicher Art nur solchen Per sonen zu empfehlen, die seiner Meinung nach weder zu den Frivolen, noch zu den Zeloten gehören. Die Pseudoliteratur, die sich künstlerisch gebärdet, fährt heutzutage schweres Geschütz aus, und es ist für den Buch händler wahrlich nicht leicht, sich ihrer zu erwehren. Ich meine die Pseudoliteratur, die sich an Gedankengängen und Situationen, die jeder poetischen Verklärung spotten, kraft- genialisch versucht. Die zur Zeit des jüngstdeutschen Materialismus, zur Zeit des jungen Karl Bleibtreu und des leider kürzlich zu neuem Tode erweckten Hermann Conradi erfundene und seither so oft wiederholte Behauptung, ehrliche Kunst adele jeden Stofs, ist und bleibt eine leere Phrase. Sadistische Orgien und Freudenhausszenen, homosexuelle Ge- oankengänge und nymphomanische Verstiegenheiten kann leine Künftlerschast einem gesunden Empfinden nahedringen; wer es dennoch versucht und die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen nicht einsieht, dokumentiert dadurch nur, daß ihm vom heiligen Salböl des Künstlers kein Tröpfchen verliehen ward. Und der Buchhändler, der solche Produktion befürwortet und gar mit dem Stempel Kunst versieht, der versündigt sich, sei er Ver leger, sei er Sortimenter, zwiefach: an unserer Kunst, der er Bastarde ins Haus bringt, so daß sie sich selbst von wohl meinender Seite allerlei Angriffen und Vorwürfen ausgesetzt sieht, und an unserem Volk, das die zweifelhaften Dinge als Erzeugnisse deutscher Kunst verwundert zwar, aber dann doch ganz gern und schließlich immer lieber entgegennimmt. Die Pseudoliteratur, ich wiederhole es, ist groß in unseren Tagen, und viele Buchhändler stehen in ihrem Dienst. Ich nehme an, daß die Herren sich ihres hohen Vermittleramtes und der Verantwortlichkeit, die daraus entspringt, bewußt sind. Ich glaube ferner, daß ihnen jede Spekulation aus schlimme Instinkte, jedes Geschäftemachertum saus pbcass fern liegt. Ich glaube, wie ich weiter oben schon einmal gesagt habe, daß sie die Grenzlinien echter Kunst verkennen, weil sie — vielleicht — den Anschluß an die guten Traditionen unseres Schrifttums verloren haben, oder weil sie mangels eigenen Urteils den Anpreisungen sehr subjektiver Kritiker nolens volens vertrauen. Dem entgegenzuwirken gibt es nur ein Mittel: nehmt nähere Fühlung mit unserem literarischen Edelgut, lest selbst, sobald ihr Zeit habt, und stellt eure besten Instinkte unbeeinflußt auf eure Lektüre ein! Dann werdet ihr bald im eigenen Gefühl einen guten Richter für das haben, was euch Autor oder Ver leger mit überzeugenden Worten aufdrängen. Und laßt den Richter dann aber auch maßgebend sein! Der Verleger, der zuvörderst auf sein Gewissen hört, ehe er einen Vertrag ab- schließt, der Sortimenter, der einen Roman, der ihm mit 50 Prozent geliefert wird, in der Ecke stehen läßt und dafür lieber ein mäßiger rabattiertes gutes Buch verkauft, sind wahr lich keine übermenschlichen Selbstbezwinger, keine närrischen Idealisten! Sie fetzen sich, wenn sie mit Ausdauer zuwerke gehen, schließlich doch durch. Die großen Organisationen, die jetzt allerorten an der Hebung unserer Kultur arbeiten, werden ihnen Dank wissen, werden ihnen Helsen und werden sie schließ lich nicht im Stiche lassen. So fügt sich die Mahnung an die Adresse des Buchhandels, die in der eingangs erwähnten Be zichtigung unserer Literatur enthalten ist, nur ungefähr zu diesen Worten: nicht mit dem Talmigut, das sich heutzutage vielfach als Literatur ausspiclt, sondern allewege mit unserer guten alten und neuen Literatur zum Segen der Nation! In koo signo vinoos! March icus. Aus dem italienischen Buchhandel. VIII. (VII siehe Ml. Nr. 201.) Zur Bodoni-Feier. — Neue Satzungen des Buchhändler-Ver bandes. — Grundstock zu einer Bibliothek italienischer Werke. — Vorlage der neuen Lohntarife für Arbeiter der graphischen Ge werbe in Mailand. — Neuigkeiten: Bücher: Musikalien. Dem Buchhändler und Sammler Federico Pezzi in Turin ist es gelungen, sämtliche von G. B. Bodoni verlegten Werke in seinen Besitz zu bringen. Die kunstgewerblich kostbare