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56, 10, März 1910. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dlschn. Buchhandel. 3041 auf jeden Fall der Bestimmung des § 33a der Gewerbeordnung unterstellt werde. Kann man die Darbietungen anstößiger kinematographischer Bilder etwa vergleichen mit einem zwar unreinen, aber in seiner nachteiligen Wirkung örtlich begrenzten Stoff, so gleichen die Er zeugnisse der Schund- oder Schmutzliteratur großen Mengen scharfen, schädlichen Staubes, der überall, auch durch die kleinsten Öffnungen, in das Leben unseres Volkes eindringt, sich weithin ausbreitet und sich so festsetzt, daß man ihn schwer beseitigen kann. Alle Welt ist jetzt erfüllt von Entrüstung gegen diese Art von Literatur; allseitig ist man der Überzeugung, daß der Schaden, welcher durch diese geistige Nahrung an unserem Volke, insbe sondere an unserer Jugend angerichtet wird, ein kaum zu er messender, sicherlich ein viel größerer ist, als der durch alle Muto- skope und Kinematographen zusammengenommen. In der Haupt sache versagt auch hier die gegenwärtige Gesetzgebung. Wohl sind, wenn der Tatbestand einer strafbaren Handlung durch den Inhalt, auch den bildlichen, einer Druckschrift gegeben ist, auch Redakteur, Verleger, Drucker und Verbreiter haftbar, und zwar soweit sie nicht als Teilnehmer in Betracht kommen, wegen Fahr lässigkeit; wohl kann die Beschlagnahme einer Druckschrift sogar ohne richterliche Anordnung, also auf kürzestem Wege dann vor sich gehen, wenn Zuwiderhandlung gegen 8 184 des Strafgesetz buchs durch die Druckschrift gegeben sein sollte; allein schon der Verleger hütet sich, so weit zu gehen. So bleibt noch die Ge werbeordnung. Sie enthält ähnlich den Bestimmungen über Schaustellungen, Lustbarkeiten usw. auch hier Beschränkungen, soweit der Vertrieb von Druckschriften im Straßenhandel oder mittels Handels im Umherziehen in Frage kommt. Sie macht den letzteren abhängig von der Erlaubnis der Ortspolizeibehörde bzw. Verwaltungsbehörde, und gibt diesen damit das Recht und die Pflicht, auch über die Druckschriften selbst, welche verbreitet werden sollen, zu kognoszieren, schädliche oder sonst ungeeignete vom Handel auf der Straße oder im Umherziehen auszuschließen. Freilich gehen die Anschauungen der Ortspolizeibehörden über die Frage, was auch als zulässig zu bezeichnen sei, weit ausein ander, und auch die Verwaltungsbehörden sind schwerlich immer in der Lage, auf Grund der Gesetzesvorschrift alle Erzeugnisse der Schund- und Schmutzliteratur vom Gewerbebetrieb im Um herziehen fernzuhalten. Der hauptsächlichste Grund aber, aus dem diese Bestimmungen der Gewerbeordnung hier meist ver sagen, ist darin zu suchen, daß neuerdings die Erzeugnisse der er wähnten Literatur gar nicht mehr oder doch nur ausnahmsweise im Straßenhandel oder im Umherziehen, sondern daß sie ständig in Ladengeschäften als Teil der dort verkäuflichen Waren feilgeboten und abgesetzt werden, also im stehenden Gewerbebetriebe, der durch die besprochenen Beschränkungen nicht betroffen wird. Es kommen hier Papier-, Buchhändler- und Buchbindergeschäfte kleineren Umfangs, neuerdings aber auch Geschäfte anderer Art in Betracht, z. B. kleine Zigarrenläden, Händler mit Kurzwaren usw. Was ist und was kann dem gegenüber noch im Wege der freiwilligen Selbsthilfe geschehen? Es ist schon oft betont worden, daß die Verkäufer minderwertiger Druckschriften ihr eifrigstes Publikum, ihre dankbarsten Abnehmer in der Jugend, namentlich der schon halbwüchsigen Generation finden. Vornehmste, ganz selbstverständliche Pflicht der Eltern und Erzieher ist es deshalb, die Lektüre ihrer Kinder und Zöglinge und ebenso die Anwendung des Taschengeldes zu überwachen. Freilich setzt die Überwachung voraus, daß die Eltern und Erzieher nicht etwa, wie es leider auch nicht selten vorkommt, die Lektüre der Schund- und Schmutzliteratur mit ihren Kindern um die Wette betreiben. Hier muß die Mitarbeit der Schule einsetzen, und sie setzt ein. Man darf ihr, man darf unseren Lehrern nachrühmen, daß sie mit Eifer und Geschick bemüht sind, den Feind, der auch ihnen und ihrer Arbeit entstanden ist, zu bekämpfen. Nicht bloß durch Be lehrung und Mahnung in den Schulstunden, sondern auch durch Vernehmung mit dem Elternhause. Auch die Tagespresse hat sich an solcher Aufklärungsarbeit beteiligt, und ebenso hat es an Ab wehrmaßregeln im großen Publikum nicht gefehlt. Zu Hilfe gekommen sind hier vielfach Behörden wie wohlmeinende un beteiligte Dritte. Zunächst die Schulbehörden, indem sie den Rat gegeben, ja mitunter angeordnet haben, daß Schulkinder ihren Bedarf an Büchern, Papier und ähnlichen Artikeln nicht Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 77. Jahrgang. in Geschäften kaufen, in denen minderwertige Literatur feilge boten wird, sodann die Polizeibehörden durch vielfache scharfe Revisionen der betreffenden Geschäfte und deren Schaufenster. Es versteht sich, daß auch die oberste Schulbehörde Sachsens von jeher die wichtige Frage mit Ernst und Aufmerksamkeit verfolgt hat. Freilich würde den Händlern unter Umständen viel zuge mutet, wenn sie mit der Entfernung der minderwertigen Literatur einen oft recht ansehnlichen Gewinn aufgeben und keinerlei Ersatz dafür haben sollten. Dieser aber kann ihnen werden, weil schon aus anderen, tiefer liegenden Gründen man sich nicht auf die bloße Beseitigung der schlechten Literatur, nicht auf die bloße Negative beschränken darf. Unsere Jugend ist lesehungrig, sie will neben den Büchern, deren Inhalt ganz oder zum Teil Gegenstand des Unterrichts bildet, solche, die ihrer Phantasie, ihrem Unterhaltungsbedürfnisse entgegenkommen. Hier gesunde, zum mindesten harmlose Kost zu bieten, ist Aufgabe aller derer, die mit Erfolg gegen die Schund- und Schmutzliteratur kämpfen wollen. Und diese Aufgabe ist in Angriff genommen, zu einem Teile gelöst worden. Es haben sich neuerdings verschiedene Vereinigungen lediglich zu dem Zwecke gebildet, gute und billige Bücher zu verbreiten. Es fehlt also nicht an Ersatz der minder wertigen Literatur, und es sind Bezugsquellen genug vorhanden, aus denen Händler zum Einzelvertrieb sich versorgen können, aus denen aber auch Leiter von Schul- und Volksbibliotheken immer neue und gute Lektüre gegen geringen Aufwand sich zu verschaffen vermögen. Gilt es doch auch, die Masse des Volks immer mehr auf die Volksbibliotheken aufmerksam zu machen. Gerade hierfür seit Jahren und Jahrzehnten sich eingesetzt zu haben, ist ein un bestrittenes Verdienst der Gesellschaft für Verbreitung von Volks bildung, die auch den Kampf gegen die Schund- und Schmutz literatur mit aller Energie ausgenommen hat. Nach dem Gesagten wird sowohl auf dem Wege der freiwilligen Selbsthilfe als auch unter Führung oder doch mit Unterstützung der Schul- und Polizei behörden versucht, der Verbreitung der Schund- und Schmutz literatur, besonders unter der Jugend, entgegenzutreten. In Ham burg, wo u. a. mit Flug- und Merkblättern an die Eltern günstig gewirkt wird, hat die Bürgerschaft einen Antrag angenommen, der Staat möge im Bundesrat dahin wirken, daß zum besseren Schutze der Jugend die Bestimmungen der §§ 184 und 184 a des Strafgesetzbuches und die §§ 56 und 42a der Gewerbeordnung er gänzt und erweitert würden. Dieser Wunsch nach Abhilfe durch Ergänzung der gegenwärtigen Gesetzgebung ist auch mehr oder minder deutlich in beiden Petitionen an die Ständekammer zum Ausdruck gekommen und ist nach Ansicht der Deputation nicht un begründet. In den Beratungen über die vorliegende Angelegenheit war man allseitig der Meinung, daß die gegenwärtige Gesetzgebung nicht genüge, um dem Übel zu steuern, daß schärfere gesetzliche Handhaben von allen Freunden unseres Volkes willkommen ge heißen werden müßten. Als solche Handhaben ließen sich bei spielsweise denken: soweit Darstellungen durch Mutoskope oder Kinematographen in Betracht kommen, deren Unterstellung unter § 33a der Gewerbeordnung, und soweit die Be kämpfung der Schund- und Schmutzliteratur in Frage steht, das (in Hamburg angeregte) Verbot des Auslegens von anlockenden oder sonst anstößigen Bildern oder Schriften in den Schaufenstern. Kommissare des Kultusministeriums und des Ministeriums des Innern erklärten in der Deputation, daß die Regierung der Frage, um die es sich handle, die vollste Auf merksamkeit bereits bisher gewidmet habe und noch widme, daß aber in der Hauptsache hier reichsgesetzliche Vorschriften maß gebend seien und diese nicht überall als genügend und ausreichend erachtet werden könnten. Das Kultusministerium hat im Oktober vorigen Jahres an alle Bezirksschulinspektionen eine General verordnung erlassen, in der es heißt: »Die Schulvorstände und die Schulleiter wollen sich angelegen sein lassen, eventuell durch Anrufung der Polizeibehörden jene Geschäfte am Orte festzustellen und in geeigneter Weise auf deren Inhaber behufs Entfernung anstößiger Schrift- und Bildwerke aus Schaufenstern und Läden einzuwirken, sowie auf die Störungen, die sich aus solchen Darbie tungen für die sittliche Erziehung der Schuljugend ergeben können, aufmerksam zu machen. Insoweit solche Bemühungen ohne Erfolg bleiben sollten, kann den Schulvorständen die Prüfung der Frage überlassen werden, ob nicht, wie bereits an verschiedenen Orten ge- 394