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9118 vörl-nilatt f. d. Dtschn. BuWand-I. Nichtamtlicher Teil. ^ ISO, 16. August 1912. »Unsere Mühlen mahlen langsam«, erwiderte mir kürzlich anläßlich einer Reklamation ein VeiwaUungsbeamter. Be« 1 anders langsam mahlen die Gesetzesmllylen, namentlich wenn es sich nicht um neue Steuern oder ein neues Weyrgesetz handelt. Seit Jahren spricht man davon, daß unser ver altetes Strafgesetz durch ei» neues, dem Zeitgeist entsprechendes ersetzt werden soll, aver der Weg zur Reform wird ein sehr langwieriger. Run ist enolich ein Entwurf des Strafgesetzes dem Reichsrale vorgelegt worden, und eine Bestimmung darin hat für den Buchhandel besonderes Interesse. Sticht bloß derjenige, der eine unzüchtige Schrift, bildliche oder plastische Darstellungen zum Zwecke ihrer öffentlichen Verbreitung Herstellen läßt, bezieht oder vorrätig hält, sondern auch wer derartige Erzeugnisse einem Minderjährigen, der Las sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, gegen Entgelt überläßt oder anvietet, soll mit Gefängnis bestraft werden. Der Motivenbericht hebt ausdrücklich hervor, daß durch diese Strafsanktion in die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nicht eingegriffen werden soll; denn nur in vollkommener Freiheit tonnten diese das Höchste leisten. Unzüchtig heiße, was gegen die Regel der Sittenordnung verstoße. Dieser Charakter fehle dem echten Kunstwerk, der ernsten wissenschaftlichen Arbeit. Die vergeistigende Tendenz, die in ihnen waltet, nimmt dem vielleicht gewagten Vorwurf alles Anstößige. Das Machwerk hingegen, das das Gemeine um des Gemeinen willen darstellt, ist unzüchtig. Hier erhebt sich nun die Schwierigkeit, zu entscheiden, ob in einem bestimmten Falle ein Kunstwerk oder Machwerk vor- liegt. Vielleicht wird sich im Laufe der Debatte im Reichsrat eine präzisere Fassung ergeben. Vorläufig ist der Zeitpunkt, wann der Entwurf des mit Spannung erwarteten neuen Strafgesetzes zur Behandlung gelangen wird, noch unbestimmt. Wien, Juli 1912. Friedrich Schiller. I. Internationale Schriftenausstellung in Dresden. Im Anschluß an den IV. internationalen Kongreß für Kunstunterricht und die damit verbundene Zeichen- und Lehr mittel-Ausstellung ist zum erstenmal eine internationale Schriftausstellung organisiert worden. Männer wie Mu- thesius, Ehmcke, Groß, Schinnerer, Sütterlin, Frl. Anna Si mons u. a. bildeten das Komitee; Georg Wagner leitete die tech nische Organisation der sorgsam vorbereiteten Veranstaltung. Das Wörtchen «international« klingt allerdings ein wenig opti mistisch. Außer Österreich-Ungarn war eigentlich nur England vertreten. Und das zwar mit Namen wie John- ston, Emery Walker, Graily Hewitt, M. Ethel Sandell, Percy I. Smith u. a., aber im ganzen doch sehr durch Dokumente, die mehr der Zufall, denn eine planvolle Auswahl nach Dresden geweht zu haben scheint. Wenn man will, war auch die Schweiz vertreten. Sogar ganz ausge zeichnet. Allerdings nur durch zwei oder drei Blätter, die alle von einer Hand geschrieben waren, nämlich von dem Züricher Herm. Rud. Seifert, einem scheinbar noch jungen, aber recht geistreichen Kalligraphen, der mit feinem Gefühl ein paar Prospekte für ein Reklameinstitut geschrieben hat, Prospekte, auf denen in Verbindung mit der gut verteilten Schrift eine kapriziöse Ornamentik entwickelt ist, und die schon wegen der nach dieser Richtung sonst festzustellenden Zaghaftigkeit bemer kenswert wären. Ist so leider die internationale überschau noch nicht zustande gekommen, sind unseren Kalligraphen somit in Dresden auch nicht die Anregungen geboten worden, die man einmal erwünscht hätte, so verbleibt als Entschädigung doch eine Bilanz über die praktischen Ergebnisse, die die neue Schriftbewegung in Deutsch land und Österreich aufzuweisen hat. Zwar muß man wieder einmal mit Bedauern hören, wie kleinliche Rücksichten einen Teil tüchtiger Kalligraphen fernzuhalten wußten, muß leider eine gewichtige Gruppe, an deren Spitze Peter Behrens ""d Rud. Koch stehen könnten und die Wohl nicht zufälligerweise einer großen Anstalt nahesteht, vermissen, aber derlei Luaen erscheinen letzten Endes dem Gesamtbild der Ausstellung gegen über unwesentlich. Mag die Dresdner Ausstellung auch nicht alle auf diesem Gebiete tätigen Kräfte (ohne Schuld der Ver anstalter) zeigen, was dargeboten wird, ist für die Situation in Deutschland charakteristisch und, was mehr bedeutet, wirklich gutes kalligraphisches Handwerk. Geschmacklosigkeiten und Künsteleien fehlen durchaus. Man stelle sich noch einmal im Geiste vor, was für verknautschte, un- lesbare, wirre und phantastische Formen vor zehn Jahren unter der neuen Flagge: künstlerische Schrift segelten, und dann be trachte man die gediegene Selbstverständlichkeit, die charakter volle Abgeklärtheit der vielen Proben, die da aufgetischt werden konnten. Man spürt die Schulung dieser Kalligraphen durch Lehrmeister, Kritiker und Auftraggeber, die unablässig aus eine Befreiung von äußerlicher Bizarrerie orangen, spürt, wie die Phantasie nicht mehr danach lungert, nach abstrakten Begriffen neuartig-seltsame Formgebilde zu er sinnen, sondern wie bei allem echten Handwerk die Phantasie aus der Technik zu quillen beginnt, wie sie wieder im Werk zeug wurzelt und aus dem Werkzeug formalen Reichtum zu ent wickeln trachtet. Wem es nur darum zu tun ist, funkelnde, gleißnerische Impressionen zu genießen, der mag in Dresden eine Enttäuschung erleben. Es ist im ganzen mehr Ge diegenheit als Genie dargeboten, mehr Qualität als künstlerisches Schöpfertum; aber wer wollte sich dessen nicht freuen bei einem Handwerk, das auf den praktischen Alltag eingestellt werden muß und das, wenn es überhaupt Entwicklungsmöglichkeiten findet, aus sich heraus schon die feinen und freien Künstlergeister Hervor bringen wird! Das eine steht schon jetzt fest und wird durch die Dresdener Schau aufs nachhaltigste bestätigt: trotz des einheitlichen Ni veaus, das die deutsche Abteilung bietet, ist ein erstaun licher Reichtum an Individualitäten da, In dividualitäten, die sich ganz der Sache unterzuordnen wissen, die niemals Wider Material und Technik aufzubegehren suchen und trotzdem in jeder Lösung ein Dokument ihrer Persönlichkeit darbieten. Wenn je die These, daß die Handschrift eines der persönlichsten Ausdrucksmittel sei, angezweifelt worden ist, hier findet sie schlagendste Bekräftigung. Was ein Ehmcke, der Kenntnisreichste, ein Czeschka, der Prickelndste, ein Wieynk, der Gediegenste, ein Sütterlin, der Sicherste unter unseren Kalligraphen, durch ihr Schreibwerkzeug auszu- drücken wissen, ist bekannt genug und wirkt doch, in guter Aus wahl wieder einmal aneinandergereiht, überraschend; über raschend durch die Einheitlichkeit und Feinheit, die sich durch sämtliche Dokumente hindurchschlängelt; nicht weniger über raschend durch die immer wieder Neues wagende Frische, die — das mag auch einmal ausgesprochen werden — auch bei den von uns als vorbildlich verehrten Engländern nicht ihresgleichen hat. Zugegeben, daß die Kalligraphen jenseits des Kanals eine ge festigtere Tradition hinter sich haben, daß sie nicht wider solch orgiastische Federausschweifungen anzukämpfen, hatten, immer die guten Beispiele im Auge behalten und das Werkzeug nie ganz verleugnet haben, zugegeben auch, daß in diesen Dingen in England ein reiferer Geschmack und eine sicherere Tüchtig keit im Gegensatz zu uns stets die Oberhand behalten konnten, an dem Willen, zu neuem, eigenem und zwingendem Aus druck zu kommen, und an regsamem Streben nach diesem Ziel sind wir ihnen längst über. Gewiß, bei uns wird das alles noch ein bißchen zu absichtlich, zu kleinlich »kunstgewerb lich«, zu sehr mit dem Schöpfernamen unten dran betrieben. Aber das Wesentliche ist doch von unseren Kalligraphen erkannt und wird, was nicht weniger anzuerkennen ist, schon von einem beträchtlichen Teil ihrer verschiedenartigen Auftraggeber be griffen und unterstützt. Es würde wenig besagen, wenn sich das nur bei jenen längst bekannten und allgemein geschätzten Federhelden zeigte. Aber auch den jüngeren Leuten, die für ihre Versuche nicht einen Namen oder autoritative Urteile hinter sich haben, ist es keineswegs versagt, ihr kalligraphisches Talent praktisch zu üben. Ich könnte zum Beweis fast das ganze Ausstellerverzeichnis abschreiben. Genannt seien deshalb nur ein paar besonders in die Augen springende Beispiele von prak -