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idir 34, 9. Februar 1922. Redaktioneller Teil. Bauernkrieg sag! dem Studierten schon viel. Der Dorfjunge ver bindet mit diesen Worten keinen Gedankeninhalt. Der Studierte hat ein bestimmtes Maß vonKenntnissen von Hunderten von Din gen; er hat geistige Fäden in seinem Kopf, an die er die neuen Kenntnisse anknüpfen kann. Z. B. ich lese einen Aufsatz oder ein Buch über die Kreuzzüge oder die französische Revolution. Ich besitze schon etliche Kenntnisse darüber, wenn sie auch verschwom men, lückenhaft oder gar unrichtig sind. Das Neue, das ich nun aufnehme, macht mir das Verschwommene klarer, füllt manche Lücke aus, stellt falsche Ansichten richtig, ruft mir Vergessenes wieder ins Gedächtnis zurück und erfreut mich durch seine leben dige Darstellung; so ist mir das Lesen eine willkommene Berei cherung meiner Kenntnisse, eine Schärfung meiner Urteilskraft, ja es ist mir ein wahrer Genuß — gar nichts von alledem ist beim Dorfjungen der Fall, der anfängt Geschichtliches zu lesen — und das gehört noch zum Leichteren, was Bildungslesen be trifft. 4. Dazu kommt noch die Fremd wörterplage. Sie sind für das Verständnis der Ungeschulten, was Kieselsteine und Schuhnägel für den Magen sind. Neulich hat ein Abgeordneter auf dem Lande über die beabsichtigten neuen Steuern gesprochen und immer die Wendung wiederholt: »Die Substanz darf nicht angegriffen werden.« Der Sinn war aus dem Zusammenhang leicht erklärlich — und doch haben viele Bauern hinterher gesagt: »Was ist denn das, die Substanz?« — Alles zusammengenommen — äußere und innere Schwierig keiten und Hindernisse — macht es leicht begreiflich, daß unsere ländliche Jugend sich nicht zum Buche drängt. Es wird nicht allzu viele Bücher geben, die sich von vornherein, so wie sie sind, für die Jugend eignen zum Selbstlesen und sie geistig fördern. Die Gelehrten können meist nicht in volkstümlicher, anschau licher Weise schreiben. Mir hat der Verleger einer »naturwis senschaftlichen Jugend- und Volksbücherei« gesagt: Die Bänd- chen, die von Wissenschaftern, Professoren geschrieben sind, gehen Iveniger; die von praktischen Schulmännern geschriebenen, von Lehrern hauptsächlich, haben viel besseren Absatz. Wenn wenigstens die Lesebücher für unsere ländlichen Fortbildungsschüler so wären, daß sie gerne zur Hand genom men würden. Ich habe mich früher immer gewundert, warum unsere (in Bayern) Buben ihr schönes, reichhaltiges Lesebuch: »Von der Schule ins Leben« nicht gern lesen mögen. Nachdem ich es aber genau durchgenommen, habe ich mich nicht mehr ge- wundert. — Dieses Lesebuch ist noch eine Verquickung von Lese buch und Lehrstoffsammlung; viele Stücke sind von hervorragen den Schriftstellern, die inhaltsreich und gediegen geschrieben haben — nur nicht für Anfänger im Lesen! Das Lesebuch — überhaupt die ersten Bücher, die man dem Jungen in die Hand gibt, sollten wie eine Lockspeise wirken, nicht wie ein Abschrek- kungsmittel! Freilich kann man nicht alle Schwierigkeiten aus den Büchern für die Jugend und das Volk fernhalten; sie sollen dazu dienen, die Wißbegierde zu reizen, sich Rats zu erholen, weiter nachzudenken — nur dürfen sie nicht z u gehäuft auftreten. III. Noch einige Fragen! I. Was hält der Bauer vom Lesen und was liest er? Ich erinnere an den Vorbehalt, den ich gemacht, und gebe die Ansicht noch vieler auf dem Lande so wieder: »Das Lesen ist nur für die, die sonst nichts zu tun haben; für den Bauer hat es keinen Wert; der mutz arbeiten; die Arbeit nimmt ihm niemand ab, auch die Gelehrten nicht.« W o diese Ansicht noch herrscht, sieht man es nicht gern, wenn die Kinder lesen. Wenn man liest, liebt man kurze Geschichten, wie sie in Volkskalendern stehen; Spannung, Rührung sollen sie haben. Romane hält man z. T. noch für etwas Schlechtes, ohne einen Unterschied zu machen. Das tun nur ältere Leute, Wohl des wegen, weil früher mehr davor gewarnt wurde. Früher hatte man im Hause: einige religiöse Bücher, Kalender, ein Tierarznei, buch — das war so ziemlich alles. Der Bauer will, sagt man, sich nicht selbst dar ge stellt sehen; er will von Fremdem lesen, von Neuem, Außer gewöhnlichem, Heldenhaftem: in eine andere Welt will er schauen, die seine Einbildungskraft anregt. — Das ist ganz natürlich und seelisch leicht zu erklären: ihr Leben kennen sie ohnehin. Pestalozzi fragte einen Bauern, der ihm gut gesinnt war, was er von »Lienhard und Gertrud« halte. Der Bauer sagte: er habe einiges davon gehört, jedoch nichts davon gelesen. »Wir sind Bauern; wir haben unser Tagewerk, was soll in einem Buch von unserm Leben stehen, was wir nicht selbst wüß ten? Und unsere Nachbarn? Wir reden selbst nicht schlecht von ihnen; warum sollen Miir wissen, wie das ein anderer tut?« 2. Wie ist's mit den Büchern mit landwirt schaftlicher Belehrung? 1998 (in Nr. 895 der Köl nischen Zeitung) wurde angeregt, landwirtschaftliche Büchereien zu gründen im Anschluß an Winterschulen zur fachwissenschast- lichcn Belehrung der Bauern. Sie sollten eine Ergänzung dar- stellen der gemeinnützigen Volksbüchereien, die das allgemeine Lesebedürfnis befriedigen. — Würden solche Bücher gelesen? Der Bauer, der keine ordentliche Berufsbildung genossen hat, hat eine Abneigung vor wissenschaftlich begründeten Ratschlä gen für seine Wirtschaft. »Die sollen zuerst arbeiten, bevor sie papierne Anweisungen geben«, sagt er. Als »Praktiker« fühlt er sich aller Wissenschaft überlegen. Dann handelt es sich um Bücher, deren einmaliges Lesen meist nicht genügt. Man müßte sie zum Nachschlagen immer bereit haben. Haben wir viel der artige Bücher in der Form, wie sie leicht verstanden würden? Auch veralten sie ungemein schnell, werden bald überholt. — Am besten wäre es: Der Junge besucht eine Fachschule und bewahrt und erweitert seine Kenntnisse durch landwirtschaftliche Wochen- und Fachblätter. Kleinere Gaben, oft in mehreren Fol gen von gründlichen Aufsätzen, die volkstümlich gehalten sind, geben bei entsprechenden Vorkenntnissen die erforderliche Weiter bildung in der besten Form. Man mutz die Jungen an die Standespresse heranbringcn, die über die wirtschaftliche Lage aufklärt, das Gemeinschaftsgefühl stärkt sowie das Pflichtbe- wußtsein, an den gemeinsamen Aufgaben mitzuarbeiten. 3. Wie steht es mit dem Besitz von Büchern? Man sollte im Bauernhaus selber Bücher besitzen, sie achten und schätzen (man hat oft keinen richtigen Platz für sie, läßt sie von den kleinen Kindern zusammenreißen, die alten wandern aus den Boden) und sie mehren. Man sagt: alle Bildung durch Lesen beginnt mit dem Besitz von Büchern. Das geliehene Buch bleibt ein vorüberziehender Schatten von mehr oder weniger Ein- drucksamkeit, vom Zufall der Gelegenheit herbeigerufen, von anderen ähnlichen Zufällen verdrängt. Erst das eigene Buch, das ein Opfer fordert, das ausgewählt wird, das zur steten geistigen Besitzergreifung mahnt, wird Anlaß zur Sammlung, zur Vertiefung, zur Besinnung und Klarheit (Preuß. Jahrbücher, 164 Bd., S. 64). Der Besitz von Büchern ist ein Gradmesser der besseren bäuerlichen Bildung. In Schwaben und auch anderswo haben die Bauern Fa milienbüchereien. Bei uns nicht in nennenswerter Weise. War um? Aus Mangel an Verständnis, man betrachtet das Buch als etwas überflüssiges, als Luxus; aus Scheu vor Ausgaben. Und doch wäre es so leicht, im Laufe der Jahre gar vieles und Wert volles zu sammeln: Bücher, Kalender mit Eintragung der wich tigsten Ereignisse des Jahres, das gäbe später eine schöne Chro nik; ferner Zeitungen, Wochenblätter mit bedeutsamen Aufsätzen usw. Früher bekamen die Kinder, die sich durch Fleiß und Kennt nisse auszeichneten, als Schulpreise Bücher! Auch Stiftungen mit Büchcrgaben wären sehr am Platze. Wir haben in unserer Ge meinde eine solche: jedes Kind, das aus der Schule tritt, be kommt ein Buch. Es ist zu trachten, daß zu Weihnachten doch auch Bücher gegeben werden. Ausstellungen von Jugend- büchern wirken da anregend. Was hier kurz zusammengestellt wurde, soll in einer Schrift, die in diesem Jahre erscheinen wird: »Die Volksbildung auf dem Lande« eingehender dargelegt werden. In manchen Gegen den stehen wir er st am Anfang der Arbeit. Ein ein heitliches Bild läßt sich nicht geben. Darum wird sich vielleicht mancher Leser mehr versprochen haben, als im Vorstehenden ge halten wurde. Das eine aber ist Wohl klar geworden: es wird I7S