Volltext Seite (XML)
Redaktioneller Teil. 287, 11. Dezember 1918. »Wißt Ihr denn, wer da eben im Auto saß?« — »Habt Ihr noch keinen General gesehen??« —» . . . Aber nicht solchen .. . der noch viel, viel mehr ist!« — »Na, wen denn?« — »Hin d enb ur g!!« — »Was? Hin —??« — »Ja, Hindenburg!« Und so war es: Hindenburg, der neue Generalstadschef, der uns Sommekampfer besuchte, war an uns vorbeigefahren, und wir, wir hatten ihn nicht erkannt. Einer sagte es dem andern, und jeder setzte in Wehmut hinzu: »Und ich — ich habe ihn nicht erkannt!« Aber er wird Wohl uns erkannt haben, uns Käm pfer von der Somme, die wir so laut sangen: »Haltet aus — haltet aus! »Haltet aus im Sturmgebraus! als das Auto vorüberratterte! Gewiß, ganz gewiß! — und singend marschierten wir weiter, weiter. Nach vier Stunden aber holte uns die Somme wieder, auf donnernden Lastautos fuhren wir dieselbe Heerstraße zurück. Niemand sang, alle dachten Wohl an Hindenburg, den wir gesehen hatten ...undwir — wirhabenihnnichter- kannt! Das Ga st Hans zum verlorenen Ich. Ganz sicher ist es ja nicht, nein. Der Brief kann vielleicht dies- mal einen Tag länger unterwegs gewesen sein. Und dann stimmt meine Berechnung nicht, dann war gestern schon Sonntag, gestern, als wir den schweren Tag in der Stellung hatten. Aber das ist ja auch gleichgültig, s o gleichgültig! Was kümmert uns denn hier draußen, wie andere Menschen diesen Tag nennen. Alle zehn Tage bekommen wir Löhnung, dann schneidet man uns ein Zettelchen vom ersten, zweiten oder letzten Monats drittel aus dem Soldbuch, und wenn wir Nachsehen, wissen wir genau, ob ein Monat um ist oder erst anfängt. Das ist schon mehr, als wir eigentlich zu wissen brauchten. Wir schaffen uns unsere Sonntage selbst: wir sagen: heute, wenn es uns gut geht, i st dieser Tag, dann kann ja in der rich tigen Welt hundertmal Montag sein. Heute ist mein Sonntag: an diesem Hellen, schönen, stillen Tage. Die Kanonen sind so ruhig; alle Soldaten wissen Wohl, daß heute mein Sonntag ist. Ich wandere. Ich nehme meinen Stock, den knorrigen, den ich an der Mouquetferme fand, und wandere mit ihm in meinen Sonntag hinein. Ein kleines silbriges Marienhexchen reitet aus wehendem Faden neben mir in diesen Sonnenglast hinein. Die Herbstblätter fallen; sie sterben den schönen farben prächtigen Tod ihrer Erfüllung. Sie sind satt am Leben — so satt, wie wir hungrig darnach sind, wir Soldaten. Ich schreite über sie hinweg, und nichts schmerzt mich. Aber ich denke an die toten Kameraden und fühle es bitter . . denn die Trauer um jeden Einzelnen ist in ihrem Unterbewußt- sein die Klage über den Verlust einer ganzen Geschlechtsfolge. Wenn Sonntag ist, dann läuten jetzt die Glocken überall in Deutschland, dann singen die Frauen mii dünnen Stimmen zu Gott und denken an uns . . . dann weinen Wohl viele. Und die Orgel spielt. Ich wandere weiter querfeldein durch das Tabaksfeld und die roten, verquollenen Rüben. Neben einem umgekippten Pflug liegt ein Pferdeskelett, zwischen beiden grinst ein Granatloch wie ein -schiefer Mund. Es kann dieses Grinsen noch nicht verbergen, obwohl Gras und Unkraut längst schräg hineinwuchsen. Irgendwann ging Wohl ein Landmann hinter diesem Pslng, dann kam die Granate . . . Und nun sorgt dieser Acker für sich selbst; er wächst und erntet sich ab; der ihn pflügt, mal hin und wieder, ist das krachende Projektil. — 1502 In den Buchen am Abhang, die herbstgelb lodern, versteckt sich ein Häuschen schief und zerschossen. Aus seiner Esse steigt bläulicher Rauch in die weiße Sonne, und auf der obersten Sparre des Dachskeletts sitzt ein zwit- schernder Star im heilen Himmel. So klar ist die Lust, daß man sieht, wie er den Schnabel öffnet und schließt. Er pfeift sehr traurig, so ganz allein, weil seine Kainc- den längst südwärts fortzogen. Vielleicht trieben ihn die Gra naten der italienischen Grenze zurück, vielleicht kennt er noch nicht einmal das Land, wohin er ziehen wollte, und nun legt er das Sehnen in diese kleine, bebende Vogelkehle. Wie er sich freut, wenn ich ihm antworte, da reckt er das Köpfchen zu mir und schüttelt sein plusterndes Federklerd. O, die Sehnsucht, die Sehnsucht, mein kleiner Starmatz, . . . die tragen wir beide zusammen . . . aber ich kenne das Land mit den weiten, weiten Wäldern, das ich so liebhabe. Wenn Sonntag ist, dann läuten jetzt die Glocken überall in Deutschland, dann singen die Frauen mit dünnen Stimmen zu Gott und denken an uns . . . dann weinen Wohl viele. Und die Orgel spielt jetzt das Postludrum und die Leuie gehen aus der Kirche. Denn es ist Wohl Mittag geworden über mein Wandern. - Wie ich so stehe, gestützt auf den Knotenstock der Mouquet- serme, getragen vom Sinn zur Heimat, setzt leise, so leise, daß ich gar nicht erschrecke, eine Flöte ein. Ich verhalte den Atem; mir ist, als müßte gleich eine Helle Mädchenstimme heraussingen. Aber nichts geschieht; weich, ganz weich, wie die warme Viola der Orgel spielt einer die Flöte weiter . . . In mich selbst versunken, setze ich mich aus einen Erdwurs mit brennenden Astern. Mein Arm stützt sich auf einen Stein, einen Grabstein, den ich nachher las. . . . . . . nachher, als sich aus dem gilben Busch der Heckenrose die Melodie »Verlassen, verlassen . . . verlassen bin i, wie der Stein aus der Straßen, kan Dirnd'l mag mi . . « gelöst hatte und wieder verklungen war, als ich gesehen hatte, was an der halbosfenen Tür mit Kreide geschrieben war, und mich leise im raschelnden Laub davonschlich, um niemand, gar niemanden zu stören . . . der seine Seele in die Flöte legte und sie mit weichen, wehen Tönen in den herben Herbsthimmel hinaussandte .... um niemand, gar niemanden zu stören. Denn an der Tür stand geschrieben Das Oasttmus rum verlorenen leb und der Grabstein wußte vom »einzigen Freunde«. Einer spielt die Flöte, weich, ganz weich und gibt seine Seele. Und wenn Sonntag ist, . . . dann hat die Orgel jetzi aus gespielt. Ein schlichtes Kreuz zwischen zwei Ackerfalten . . . An vielen Gräbern marschieren wir vorbei; auf Friedhöfe, die sich lang Hinstrecken, legt sich der Staub unserer Kolonnen. Jedem dieser schmalen Hügel möchten wir Blumen geben. Aber die Pflicht drängt uns vorwärts, immer vorwärts . . . »Kann Dir die Hand Nit geben, - dieweil ich eben lad' . . . .» Wir haben auch Eure Ruhestätte gesehen, Ihr Freiwilligen von Upern, Dixmuiden und Bixschoote, als wir über die Straße zogen, die einmal das Deutschlandlied Eurer jungen Kehlen hörte . . . damals . . . damals . . . vor zwei Jahren! Den einen von Euch suchte ich, den toten, siebzehnjährigen Hellblonden. Der von der Schulbank zur Fahne ging. Und dieser Fahne in den Tod folgte. In langen Reihen stehen die Kreuze der Unbekannten; und dazwischen ruft sein Name wie eine Helle Jungenstimme dicht vor dem gekreuzigten Christus, dem ein Granatsplitter die Dor-