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22, 28, Januar 1S1V. Nichtamtlicher Teil, Börsenblatt f. d. Ttschn. Buchhandel. 1193 <vr. Philippi) siert, erregt natürlich bei ihren Verteidigern sittlichen Anstoß, so alles, was Ehe und »freie Liebe« behandelt und dergl. Nietzsche auf der einen Seite und Tolstoi auf der andern. Alles dieses würde Anstoß erregen und aus dem Schaufenster verbannt werden müssen. Tolstoi ist ja auch schon einmal beschlagnahmt worden. Nun die andere Seite: Die Bücher, die durch Überreizung der Phantasie der Entwicklung der Jugend schädlich sein können. Damit wird doch jedes Werk getroffen, das sich überhaupt an die Phantasie wendet, denn ein jedes solcher Werke ist für sensitive Kindergemüter zu viel. Es ist für Heranwachsende Knaben sicher lich schädlich, wenn sie die 12 Bände des Grafen von Monte Christo verschlingen. Deshalb kann man doch solche Bücher nicht ächten. Solche Beispiele lassen sich vertausendfachen. Ich will noch eins hinzufügen, weil es aus der Praxis stammt. Vor einigen Jahren habe ich mich mit einem Herrn, der der Partei der Rechten dieses Hauses angehörte, unterhalten. Er sagte mir, es schiene ihm sehr bedauerlich und verfehlt, daß eine Auslese aus Detlev von Liliencrons »Kriegsnovellen« für die Jugend veranstaltet wäre; denn diese Novellen schilderten die grausigen Ereignisse des Krieges in so krasser Weise, daß es die Kinder übermäßig errege, ja sie krank machen könnte, ihnen also in der Entwicklung schaden könnte, und man dürfte nicht erlauben, daß die Kinder solche Dinge lesen. Auch diese Novellen würden also nicht mehr im Schaufenster paradieren können. Denn das ist sicher, daß diejenigen, die sich mit der Durchführung solcher Maßregeln befassen, sie am engsten und schärfsten auffassen. Man kann vielleicht auch sagen, daß sie das tun müssen, um sich von Verantwortung frei zu halten. Nun, m. H., wenn dem so ist, und niemand wird dem widersprechen können, dann ist es doch eine Tatsache, daß durch den Antrag des Ausschusses die ganze Literatur, der ganze Buch handel und das kaufende Publikum, was die Ausstellung der Bücher betrifft, der Entscheidung und dem diskretionären Ermessen der Polizeibehörde überantwortet wird. Und wenn jemand, wie der Ausschuß dies wollen sollte, dann kann er doch auf die Frage, wie er es rechtfertige, wie mir scheint, nur zwei Ant worten geben. Entweder sagt er: wir wollen vor allem die Jugend auch in den anfälligsten Individuen gegen jede leiseste Möglichkeit der Verführung schützen, dagegen ist es uns gleich, ob wir den Buchhandel, die Literatur und die bildende Kunst und das interessierte Publikum, das Anspruch darauf hat, daß ihm die Erzeugnisse öffentlich gezeigt werden, beeinträchtigen. Ob wir überhaupt alles frische geistige Leben beengen, das wiegt uns federleicht gegenüber den anderen Gefahren. — Wollen Sie das sagen, dann höre ich auf, mit Ihnen weiter zu disku tieren; dann können wir uns über den Wert der Güter unserer Kultur nicht verständigen. Die Herren, die das wollen, die ge hören mit zu den ärgsten Eiferern der katholischen Kirche, zu den englischen Puritanern, aber können wir über sie hinweggehen, dann werden Sie für Ihre Anträge in einer protestantischen Stadt wie Hamburg niemals Boden finden. Oder aber, und ich glaube, daß ich von den meisten Mitgliedern des Ausschusses diese Antwort bekommen werde: Sie sagen, das wollen wir gar nicht, wir wollen nicht die geistig bedeutende, wir wollen nur die Schmutz- und Schundliteratur treffen. Dann aber glaube ich Ihnen bewiesen zu haben, m H., daß Sie nicht nur die treffen, sondern das gesamte Gebiet der Literatur, und weil Sie ganz etwas anderes tun, ganz etwas anderes sagen, als Sie eigentlich gewollt haben, so werden Ihre Anträge nicht angenommen werden können. Vielleicht könnten Sie mir entgegenhalten: Dann schlagen Sie uns eine bessere Fassung vor. Aber das ist ja gerade un möglich. Die Frage, was Schund und was ernst zu nehmen ist, ist eine literarisch.ästhetische, und es kann nicht im Wege des Gesetzes und abseiten derVerwaltungsbehörde eine ästhetische Grenze gezogen werden. Was ist Schmutz- und Schundliteratur und was nicht? Deswegen können wir den üblen Einflüssen schlechter Literatur nur entgegentreten mit geistigen Waffen, mit positiver Arbeit, und die wollen wir nach Kräften fördern. Und nun kommt noch ein weiteres: Sie werden wahrscheinlich sagen: Die Polizei behörde wird verständig entscheiden. Ich glaube, wir haben wenig Garantien dafür. (Sehr richtig.) Wir kennen schon verschiedene Beispiele der Entscheidungen der Polizeibehörde. Wir haben ge hört, daß die Polizeibehörde öffentliche Vorträge über Sexual- Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 77. Jahrgang. ethik verboten hat, die in Altona gestattet waren. Herr vr. Popert hat damals die Polizeibehörde mit der freundlichen Be merkung bedacht, daß sie uns vor ganz Deutschland lächerlich ge macht habe. Jetzt will er ihr ganz unbegrenztes Vertrauen schenken. (Heiterkeit) Wir haben ferner die kleinlichen Tribulationen erlebt gegen den Monistenbund, denen das Reichsvereinsgesetz jetzt glücklicher weise ein Ende gemacht hat; und wir haben ferner erlebt das Verbot des Verkaufs des »Simplicissimus« auf den Straßen. Diese Sache muß ich ausdrücklich erwähnen, trotzdem ich mir be wußt bin, daß ich bei vielen Mitgliedern dieses Hauses auf keine Sympathie treffe. Ich will auch zwischen dem »Simplicissimus« und mir einen entschiedenen Strich ziehen; was er brachte, hat auch mich oftmals verletzt. Aber daraus kommt es nicht an. Auf eine ästhetische oder moralische Kritik kann man nicht eingehen, dazu sind wir nicht berufen. Aber zwei Tatsachen führe ich an, die niemand wird leugnen können, auch der größte Feind des »Simplicissimus« nicht, weil sie ganz offen vor aller Augen stehen. Erstens werden die Zeichnungen des »Simplicissimus« von ernsten Kunstfreunden geschätzt, sie werden seit Jahren von ernsten Sammlern, die den Tendenzen der Zeitung abhold sind, gesam melt, weil man sie für namhafte Produkte unserer graphischen Kunst hält! Und es ist zweitens Tatsache, daß in der politischen Satire des »Simplicissimus« die politische Stimmung weiterer Kreise unseres Volkes sehr treffend wiedergegeben ist. (Sehr richtig!) Das ist ihm gerade von seinen Gegnern bezeugt worden dadurch, daß sie fortwährend davon sprachen, daß sich eine »Sim- plicissimus-Stimmung« des deutschen Volkes bemächtigt habe. Es ist deshalb Tatsache, daß sich an diesem Blatt potente künstlerische und geistige Kräfte betätigt haben, und die kann und darf man nicht zu dem Schmutz und Schund werfen, selbst wenn man davon überzeugt ist. daß sie verderblich wirken. Wer das tut, wie die Polizeibehörde es getan hat, der zeigt damit, daß er zur Be aufsichtigung von Bewegungen des geistigen Lebens nicht geeignet ist; dem kann man solche Macht nicht anvertrauen. Nun will man der Polizeibehörde noch einen Beirat geben, bestehend aus sechs von der Bürgerschaft gewählten Mitgliedern. Wenn man solche Anträge stellt, sollte man sich in der Tat etwas genauer ausdrücken, als es hier geschehen ist. Es ist aus den An trägen nicht zu ersehen, wie die Tätigkeit dieser Kommission ge dacht ist. Soll die Polizeibehörde das Recht haben, diese Kom mission zu fragen, wenn sie sich selber keinen Rat mehr weiß, oder soll sie nur einschreiten dürfen, nachdem die Kommission dieses genehmigt hat? Sollte das letztere die Meinung sein, dann würde man eine Oon^e^atio inäieis in Hamburg haben, die Verzeichnisse der verbotenen Bücher aufzustellen hätte und die die ganze Literatur einzuteilen hätte in zwei Abteilungen, eine, die harmlos ist, und die andere, die in den Giftschrank gehört. (Heiterkeit.) Ich möchte wissen, wer, wenn ihm eine derartige Aufgabe gestellt würde, sich dazu hergibt! Wenn man aber eine würden gar keine Gewähr dafür haben, daß in dieser Kommission eine größere Weitherzigkeit zur Geltung käme, als sie im Aus schüsse geherrscht hat. Es würde nötig sein, daß Sachverständige der Literatur und Erziehung hineingebracht würden, und aus Lehrern und aus literarischen Sachverständigen wäre eine der artige Kommission zu bilden. Schließlich hat Herr Or. Popert noch betont, daß in letzter Linie immer noch die Gerichte zu sprechen haben würden; aber ich habe schon gesagt, daß sie gar nichts nützen können. Wenn die Polizeibehörde eingreift und die Ausstellung irgendeines Buches oder Bildes im Schaufenster untersagt, dann kann kein Buch händler es darauf ankommen lassen, daß er es doch ausstellt und sagt: »Ich habe recht, das ist nicht anstößig und widerspricht dem Gesetz nicht!« Erstens würde er der Beschlagnahme des Gegen standes ausgesetzt sein, und zweitens würde er, wie das Herr vr. Wolffson auch schon in seiner Rede ausgeführt hat, dem ausgesetzt sein, daß er wegen zweier Vergehen angeklagt würde, erstens: wegen Ausstellung des Gegenstandes und zweitens: wegen Un gehorsams gegen den Befehl der Polizeibehörde. Er würde dann entweder, wenn das Gericht auf die Seite der Polizeibehörde tritt, wegen zweier selbständiger Übertretungen bestraft werden; gibt das Gericht aber dem Buchhändler recht und der Polizei- 166