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1192 Börsenblatt f. d Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. ^ 22, 28. Januar 1910. (vr. Philippi) einmal die Strafbarkeit der Ausstellung von Schriften wollte, die das Schamgefühl verletzen, viel weniger also von Schriften, die die Phantasie der Kinder überreizen usw. Das alles ist abgelehnt und aus der Reichsgesetzgebung verschwunden. Jetzt will der Antrag des Ausschusses trotz alledem das wieder einführen. Das geht nicht, weil man wieder etwas einführen will, was die Reichsgesetz gebung ganz deutlich nicht gewollt hat Und zwar trifft dies nicht nur auf den Antrag des Ausschusses, sondern auch auf den Antrag Wolfhagen zu, welcher zwar einsieht, daß man unmöglich die Ausstellung von Schriften, die die Phantasie der Jugend zu reizen geeignet sind, unter Strafe stellen kann, der aber immerhin die Ausstellung von Schriften auf öffentlichen Straßen unter Strafe stellen will, die geeignet sind, in sittlicher Beziehung Ärgernis zu erregen. Das ist aber vom Reichstag abgelehnt, und es ist nicht statthaft, es durch die Partikulargesetzgebung wieder einzuführen. Herr vr. Mönckeberg hat daher nach unserer Ansicht mit seinem Antrag insoweit durchaus Recht, als er sich auf den Standpunkt stellt, daß im Wege des Strafgesetzes gegen den Einfluß schlechter Literatur nur durch die Reichsgesetzgebung etwas geschehen kann. Wie er dort aber mit seinem Anträge weiterkommen will, ist uns nicht recht begreiflich. Es ist jetzt in allerletzter Zeit der Vorentwurf eines neuen Strafgesetzbuches veröffentlicht worden. In der Begründung dieses Vorentwurfs ist ganz ausdrücklich zu den 88 184 und 184a gesagt worden: ein wesentliches Bedürfnis, über die jetzige Rege lung hinauszugehen oder die Wirkung abzuschwächen, ist seitdem, nämlich seit dem Erlaß vom Jahre 1900, nicht hervorgetreten. (Zu ruf: »Darauf wollten wir gerade fußen«.) Nun wird Herr vr. Mönckeberg wahrscheinlich sagen: »Das ist der richtige Zeit punkt, um dieser irrtümlichen Auffassung entgegenzutreten«. Er wird sich sicherlich damit zu allen denjenigen Parteien im Reiche in einen Gegensatz bringen, die hier in Hamburg Anhänger haben. Auch die Herren auf der Rechten rechnen sich durchweg zur nationalliberalen Partei. (Oho! Rufe.) Es sind stärkere Aus drücke in der Reichstagsdebatte gefallen, aber weil das vielleicht auf die Herren den größten Eindruck macht, habe ich mir eine Äußerung des Abgeordneten Bassermann herausgesucht, der sich dazu ausgesprochen hat. Er hat gesagt: »Ich fühle keinerlei Lust und Bedürfnis, unbestimmte Tatbestände noch weiter in unsere Gesetzgebung hineinzubringen, und dadurch das Unbehagen an der Rechtsprechung, das sich vielfach entwickelt hat, noch zu ver mehren.— Daun aber frage ich: ist cs keine Schädigung für einen Künstler, wenn sein Bild in öffentlicher Auslage erscheint und daun entfernt wird, und der Künstler dadurch zu einem Manne ge stempelt wird, der unsittliche Kunstwerke geschaffen hat.« Diese Bemerkung war überaus gerechtfertigt, da kurz vorher eine Re produktion des Böcklinschen Bildes »Spiel der Wellen« als un züchtig in den Schaufenstern beschlagnahmt war. (Heiterkeit.) Was würden wir erleben, wenn wir durch Gesetz nicht nur die Ausstellung der unzüchtigen, sondern auch derjenigen Bilder ver bieten wollten, die »in sittlicher Beziehung Anstoß zu erregen« geeignet sind. Ich glaube, aussichtslos ist Ihr Versuch, bei der Reichsregierung irgend etwas zu beantragen, sicherlich. Wenn man einen derartigen Wunsch, wie ihn Herr vr. Mönckeberg be antragt, an den Senat richten will, muß man dabei doch auch sagen, wie man sich die gewünschte Änderung des Reichs gesetzes denkt, und wir werden vielleicht in der Beziehung noch näheres von Herrn vr. Mönckeberg hören. Wir können uns kein Bild darüber machen. Die Paragraphen der Gewerbe ordnung, die er anführt, handeln vom Hausierhandel und vom Straßenhandel am Wohnplatz des Händlers. Damit ist nichts anzufangen. Im übrigen nennt Herr vr. Möncke berg die §8 184 und 184 a und d. In letzterem ist ver boten, Ärgernis erregende Berichte über Gerichtsverhandlungen, in denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, zu veröffentlichen. Das hat mit unserer Sache wirklich nichts zu tun. Der 8 184 selbst behandelt unzüchtige Schriften und verbietet bezüglich ihrer alles, was nur irgendwie denkbar ist. Man könnte hier nur auf den Gedanken kommen, daß Herr v,-. Mönckeberg den Begriff der unzüchtigen Schriften weiter zu fassen wünscht. Ich kann aber sagen und bin fest davon überzeugt, daß er vollständig weit genug gefaßt ist. Zum Beispiel ist vor gar nicht langer Zeit vom Reichs gericht ein denkwürdiges Urteil gefällt worden, das die deutsche Übersetzung des »Decamerone« von Boccaccio für ein unzüch- tiges Werk erklärt hat. Ich halte dieses Urteil für zu weit gehend und halte es für bedauerlich, daß ein derartiges Buch, die Mutter aller unserer Novellen, die Quelle der größten Werke Shakespeares, die Quelle, aus der Lessing den Stoff für »Nathan den Weisen« entnommen hat, in Deutschland als ein unzüchtiges Buch behandelt wird und nicht verkauft werden darf. Das ist kein rühmliches Zeugnis für unser Geistesleben, und noch weiterzugehen, das erscheint uns gänzlich ausgeschlossen. Dann bleibt nur noch der ß 181», und da könnte man denk- barer Weise den Wunsch hegen, entweder weiter zu gehen bezüg lich des Objektes oder aber noch etwas weiteres unter Strafe zu stellen, als das Anbieten von Schriften, die das Objekt des Paragraphen bilden, an Jugendliche. Nun, meine ich, ist der Begriff einer Schrift, die das Schamgefühl gröblich verletzt, so weit und unbestimmt, daß man weiter darüber hinaus (wie unser Ausschußantrag dies will) gewiß nicht gehen kann. Wenn Herr vr. Mönckeberg uns etwas Derartiges Vorschlägen würde, dann würden wir seinen Antrag strikte ablehnen. Ebenso würden wir es ablehnen, wenn vorgeschlagen würde, hinausgehend über die Bedrohung mit Strafe des Anbietens an einzelne Kinder, einen andersartigen Verkehr mit solchen Schriften, z. B. wie der Aus schußantrag es will, deren öffentliche Ausstellung unter Strafe zu stellen. Dies aus den Gründen, die ich in meiner sachlichen Be sprechung des Ausschußantrages noch entwickeln werde. Es mag ja sein, daß es Herrn vr. Mönckeberg gelingt, ob wohl es dem Reichstage in mehr als 20 Sitzungen nicht gelungen ist, noch eine Lösung zu finden, wie man dem Einfluß an stößiger Schriften entgegentritt, ohne die Freiheit der Literatur und die Geistestätigkeit zu beeinträchtigen. Gelingt es ihm, in dieser Weise das Ei des Kolumbus aufzustellen, dann soll es uns alle freuen; eine große Erwartung darauf aber können wir nicht setzen. Nun habe ich noch einiges, aber nicht viel, zu sagen über den Inhalt des Ausschußantrages. Auch wenn unsere Gesetz- gebung zuständig wäre, eine derartige Strafbestimmung zu er lassen, würden wir doch unter keinen Umständen unsere Zustimmung geben. Wir halten es für ungeheuerlich, was da beantragt wird; es wird tatsächlich, um dem Einfluß bedenklicher Literatur auf die Jugend entgegenzutreten, unser ganzer Buchhandel und unsere ganze Literatur davon getroffen. Es ist wirklich nicht ohne Grund, daß selbst alle Eiferer des Zentrums sich nicht so weit vorgewagt haben, wie jetzt der Ausschuß sich vorwagen will. Dieses Verbot, Schriften auszustellen, die entweder geeignet sind, in sittlicher Beziehung Anstoß zu erregen, oder geeignet sind, die Phantasie der Jugend zu überreizen, trifft alles, was geschrieben werden kann, abgesehen von absolut Trockenem und von absolut Harmlosem. Es trifft keineswegs allein die schlechte Literatur. Zunächst ist dabei doch zu beachten, daß selbst sehr gute Bücher für die Jugend höchst schädlich sein können. Wenn man auf die einzelnen Arten der Bücher eingeht, so würden in erster Linie solche Bücher in sittlicher Beziehung Anstoß erregen, die geschlechtliche Dinge behandeln. Es machen aber in erster Linie alle bedeutenden komischen Dichter die Tat sachen des Geschlechtslebens zum Gegenstand ihres Scherzes oder ihrer Satire. Es fängt bei Homer an und geht über Griechen und Lateiner zu den französischen Satirikern, z. B. Rabelais (den Dekamerone der Italiener habe ich schon erwähnt), es trifft zu für die sämtlichen englischen Romane, z. B. die be rühmten Humoristen des 18. Jahrhunderts, wie Fielding; es trifft den Don Juan von Byron, es trifft unsere Klassiker,- die kleinen Gedichte von Lessing, die poetischen Erzählungen von Wieland und vieles von Goethe. Ich will aber nicht bei diesen von mir ausgesuchten Beispielen stehen bleiben, sondern auch aus der neuesten Zeit Ihnen eine Tatsache vorführen, die Sie vielleicht alle kennen, an die sie aber wohl nicht gedacht haben. Als vor einigen Jahren der Frenssensche Roman »Hilligenlei« erschien, hat in Hamburg ein bekannter Buchhändler seine Kunden gewarnt, diesen Roman zu kaufen, weil er geeignet sei, in sittlicher Beziehung Anstoß zu erregen. Dieser Roman ! würde also im Schaufenster nicht mehr stehen können. Ferner kann sittlich Anstoß erregen alles, was sich mit der landläufigen Moral in Widerspruch setzt. Alles, was diese Moral ernstlich kriti-