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1184 vörsrnblatt s. d Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. ^ 22, 28. Januar 1910. <vr. Woiffson) Schutze der Jugend« getroffen, und der Ausschuß kümmert sich gar nicht darum, ob jemand 12 Jahre oder 80 Jahre alt ist: er soll unter allen Umständen gegen Unsittlichkeit geschützt werden. (Unruhe.) Ich wende mich nun zur Erörterung der materiellen Bestimmung, die von Sittlichkeit und Unsittlichkeit handelt. Es ist mir zunächst ausgefallen, daß der Ausschußbericht kein Wort darüber sagt, was er unter Sittlichkeit und Unsittlich keit versteht. Ich habe, da ich mir nicht denken konnte, daß dieser wichtigste Begriff unerörtert bleibt, den Bericht mehr fach durchgelesen, und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß wirklich mit keinem Worte erwähnt wird, was sittlich und was unsittlich ist im Sinne des Ausschusses. Deshalb muß ich bei meiner Betrachtung von der Überzeugung aus gehen, daß es sich um Schriften, um Abbildungen und Dar stellungen handelt, die das sittliche Gefühl in geschlechtlicher Beziehung verletzen, mit andern Worten, daß hier unsitttlich identisch ist mit dem in unsern deutschen Gesetzen sich findenden Worte »unzüchtig«. Ich gehe also von der Voraussetzung aus, daß der Ausschuß beantragt, daß unzüchtige Schriften und Ab bildungen weder in Buchläden noch in Verkaufsständen ausgelegt werden dürfen. Wenn diese meine Interpretation richtig ist — und dies ist die Bemerkung, die ich in juristischer Beziehung noch machen wollte —, so ist der Antrag gesetzlich unzulässig. Der § 184 des Strafgesetzbuchs bestimmt, daß bestraft wird, wer un- züchtige Schriften feilhält oder an Orten, die dem Publikum zu gänglich sind, auslegt. Diese Bestimmung bezieht sich natürlich sowohl auf Verkaufsläden als auch auf Verkaufsstände, und es ist in der Judikatur und unter den Schriftstellern niemals der ge ringste Zweifel gewesen, daß zu den Orten, die dem Publikum zugänglich sind, auch die Schaufenster gehören. Wir haben eine Anzahl reichsgesetzlicher Urteile, die sich an der Hand dieser Be stimmung mit unzüchtigen Schriften oder mit Darstellungen, die in den Schaufenstern ausgelegt waren, beschäftigen. Nun ist es aber ein fester Satz des Rechts, über dessen Richtigkeit keine Meinungsverschiedenheit besteht, daß nicht nur ein Partikulargesetz, das einem Reichsgesetz widerspricht, sondern auch ein Partikulargesetz, welches ein Reichsgesetz wiederholt, un- zulässig ist, und da das beantragte Gesetz, wenn meine Inter pretation des Ausschußantrags richtig ist, eine einfache Wieder holung des 181 des Reichsstrafgesetzbuches ist, so ist die gesetz liche Bestimmung nicht zulässig, und wir dürfen auch aus diesem Grunde den Antrag nicht annehmen. Wäre aber der Antrag gesetzlich zulässig, so wäre er im höchsten Grade überflüssig; denn da das Neichsstrafgesctzbuch im ganzen Deutschen Reiche gilt, Hamburg aber eine Stadt des Deutschen Reiches ist, so haben wir dieses Gesetz bereits in Hamburg, und ich sehe kein Bedürfnis, das Gesetz noch einmal in Hamburg einzuführen. Dieser erste Teil der Ausschußanträge ist daher unter der Voraussetzung der Richtigkeit meiner Auslegung ungesetzlich. Ich will aber einmal annehmen, daß meine Auslegung des Ausschuß- antrags unrichtig ist, und daß der Herr Berichterstatter oder die anderen Mitglieder des Ausschusses, die, glaube ich, in ihrer Gesamtzahl sich schon zum Worte gemeldet haben, (Heiterkeit) behaupten werden, daß hier nicht von Unsittlichkeit in geschlecht licher Beziehung die Rede ist, sondern von Unsittlichkeit oder Sittlichkeit im weiteren Sinne des Wortes. Dann, m. H., muß ich mit noch größerer Entschiedenheit, als ich es vorhin getan habe, gegen diesen Antrag Widerspruch erheben. (Sehr richtig!) Die Ansichten über das, was sittlich oder unsittlich ist im weiteren Sinne des Wortes, sind so verschieden, wie die Menschen und ihre Weltanschauungen verschieden sind! (Sehr richtig!) Was der eine für sittlich hält, hält der andere, der auf der gleichen sittlichen Stufe steht, für unsittlich. Wir brauchen nicht nach Beispielen zu suchen, denn sie liegen nahe. Ich will auch nicht auf das Gebiet der Kunst eingehen, bei der sich bekanntlich die schärfsten Gegensätze in bezug auf die Frage, was sittlich und unsittlich ist, geltend machen. Ich will Ihnen nur zwei naheliegende Beispiele vorführen. Denken Sie daran, daß vor nicht langer Zeit die Hamburger Polizei behörde Vorträge verboten hat, weil sie der Überzeugung ge wesen ist, daß diese Vorträge die Sittlichkeit gefährden würden, während der bei weitem größte Teil der hamburgischen Be völkerung und die Altonaer Polizeibehörde der Ansicht gewesen ist, daß diesen Vorträgen eine durchaus sittliche Tendenz zugrunde liegt. Denken Sie daran, daß unter den Pädagogen ein heftiger Kampf ausgefochten wird darüber, ob den gereiften Schülern sexuelle Belehrung zuteil werden soll. Es gibt Pädagogen, welche eine derartige Belehrung für ein Gebot der Sittlichkeit halten; es gibt andere, die sie für unsittlich, ja für schamlos er klären. Ich bin überzeugt, der überwachende Polizeibeamte wird der letzteren Partei angehören. (Heiterkeit.) Wenn also dieser Antrag Gesetz wird, und es würde ein Pädagog eine wissen schaftliche Arbeit über diese Frage schreiben, so würde diese Schrift nach der Ansicht des Beamten zweifellos geeignet sein, in sittlicher Beziehung Ärgernis zu erregen und das betreffende Buch würde auf den Index gesetzt werden. M. H.! Es tut mir leid, daß der Ausschuß, der in seinen prinzipiellen Ansichten so einig gewesen ist, offenbar niemals den Versuch gemacht hat, sich an Beispielen darüber klar zu werden, wie denn das Gesetz in Wirklichkeit arbeiten wird; wenn das nur einmal geschehen wäre, so würde die rührende Einigkeit sofort einem scharfen Kampfe gewichen sein; denn, wenn ich mir die Namen der Ausschußmitglieder ansehe, so weiß ich, daß sie bei kaum einem Roman, der nicht etwa von der Marlitt oder einem ähnlichen Schriftsteller geschrieben ist, einig darüber gewesen wären, ob das Buch eine sittliche Tendenz verfolgt. — Angesichts derartiger Meinungsverschiedenheiten dürfen wir unter keinen Umständen einem Polizeibeamten — das Wort »Polizei« betone ich gar nicht; es kann auch ein Beamter einer andern Behörde sein —, einem Beamten das Recht geben, eine vorläufig voll' streckbare Entscheidung darüber zu treffen, ob ein Buch oder eine Abbildung, eine Darstellung, eine sittliche Tendenz hat oder nicht, und zugleich ihm das Recht geben, diese seine Anschauungen durch zusetzen dadurch, daß den betreffenden Buchhändlern Geldstrafen auferlegt werden und daß, wenn sie sich nicht fügen, eine vierzehn tägige Haft über sie verhängt werden kann. Das sind die Strafen, die bie Straßenordnung vorschreibt, und der Ausschuß hat nicht das geringste Bedenken getragen, seine Anträge unter die Straf bestimmungen der Straßenordnung zu setzen. Man sagt: Der Richter kann es korrigieren! Das ist aber nicht richtig. Wenn auch der Richter nachher sagt, das Verbot sei unberechtigt gewesen, so muß trotzdem die Strafe der Haft eintreten, weil der Befehl nicht befolgt war. Und wenn der Buchhändler gehorcht hat, so wird die richterliche Entscheidung vielleicht ein halbes Jahr oder ein Jahr in Anspruch nehmen; ich bitte Sie aber, zu bedenken, daß nach Ablauf dieser Zeit das Interesse des Buchhandels an der Auslage der Schrift in den meisten Fällen vollständig geschwunden ist und daher eine wirkliche Restitution nicht eintreten kann. Noch viel bedenklicher als der erste Teil ist für mich der zweite Teil des Antrages, in dem verboten und unter Strafe gestellt werden soll »das Auslegen von Büchern, welche die Phantasie des Kindes überreizen und die gesunde Entwicklung eines Kindes hindern«. M. H.! Wenn wir eine derartige Bestimmung annehmen würden, so würden wir mit den Anschauungen, die bisher in unserem Staats wesen gegolten haben, in schärfsten Widerspruch treten und wir würden, nachdem beinahe überall die Zensur abgeschafft ist, eine Zensur schlimmster Art in Hamburg wieder einführen. Diese Bestimmung ist übrigens schon deshalb unmöglich, weil sie einen kautschukartigen Charakter hat! Mit einem derartig verschwommenen Begriff darf ein Gericht nicht operieren und kann eine Behörde, die zur Ausführung eines Gesetzes be- stimmt ist, und ein Richter, der das Gesetz anwenden soll, nicht operieren. Ein Gesetz soll knapp, präzise, abstrakt gefaßt sein! Ein Gesetz muß so scharf umgrenzt sein, daß seine Tragweite deutlich erkennbar ist. Von allem diesen ist hier das Gegenteil der Fall; darüber werden Sie mit mir, glaube ich, einig sein. Der Gedanke, daß die Überreizung der Phantasie ein für die Strafbarkeit ausschlagendes Moment ist, ist meiner Überzeugung nach ebenso ungeheuerlich, wie der Gedanke, daß die Angst vor Störung der gesunden Entwickelung eine Strafe rechtfertigt. Wer den Ausschußbericht nicht gelesen hat und derartiges hören würde, wer ein klein wenig juristisch oder kriminalistisch denkt, der würde es einfach für unmöglich halten, daß ein solcher Vorschlag ge- gemacht wird. Wer soll das feststellen? Das kann weder ein Polizeibeamter noch ein Richter! Durch Auskultieren oder ver-