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1046 Nichtamtlicher Teil. ^ 27, 3. Februar 1902. Parteien, von höchster Leidenschaftlichkeit geschürt, trieb das Zeitungswesen, freilich erst nach langwierigen Kämpfen, zu höchster Blüte. Ludwig XVIII. hatte allen Grund, nach der napoleon- ischen Herrschaft, der Zeit der schrankenlosen Willkür und den ewigen Kriegen, dem Lande die Ruhe wiederzugeben, durch eine liberale Regierung seinen Thron auf den Ruinen des ersten Kaiserreiches zu befestigen, sich durch Zugeständnisse aller Art das Wohlwollen seiner Unter- thanen zu erwerben und dem Lande Frieden und Frei heit zu gewähren. Besonders die Presse sollte, wie bereits erwähnt, die weitestgehenden Freiheiten genießen. Es blieb jedoch bei dem Versprechen, denn bald wurden den Zeitungen wieder alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, ein hartes Censursystem suchte die öffentliche Meinung zu knebeln wie unter der Zeit Napoleons. Mag sein, daß dies zum Teil durch den Umstand veranlaßt wurde, daß sich die Franzosen noch nie einer weisen Mäßigung befleißigen konnten; das beweisen gar manche Abschnitte in der fran zösischen Geschichte, und ein allzu ungestümer Drang nach Freiheit, der besonders in der Presse zu Tage trat, der Regierung Befürchtungen aufzwang und sie nötigte, der Bewegung gewaltsam entgegenzutreten. Dadurch entfesselte sie zugleich auch jenen ungeheuren Sturm im Volke und den langwierigen Kampf um die Freiheit der Presse; die ganze litterarische Welt Frankreichs bäumte sich auf gegen den Censurzwang, die Besten und Edelsten der Nation, die her vorragendsten Geister jener Epoche traten in die Schranken und gaben ihr Bestes, um die Rechte zurück zu erobern, die ihr geraubt wurden. Es war ein ideales und gewaltiges Ringen um die Freiheit der Presse, »cstts orsgsuss xsrsvtis äs 1s oivilisstiov moäsrvs qai s äsjL ötö, sst st ssrs 1s plus rnäs sprsnvs äse gonvsrnsivsnts libres st, psr oonsöqnsnt, äss peuplss librse svx-wtzrnss, qni eovt grsväswsllt eorvproinis äsns 1e8 öprsnvss äs Isar govvsrllsrllsllt, pnisqn'sUss out ponr sonelasiov äsrviörs, s'ils ^ sneoombsvt, l'svarsbis on Is t^rsnvis; gouvsrllsmsvts st psuplss librss ll'ont qa'nvs ksyov bonorsbls st eküesos äs vivrs svse Is libsrtö äs ls presse: o'sst äs l'soeeptsr krsvobsillsllt ssvs Is trsitsr oomplsisswmsllt«, wie Guizot in seinen Memoiren sagt, und ich verweise speziell auf Avenels Ausführungen, der die einzelnen Phasen dieses Kampfes (der sich auch unter der neuen Regierung Karls X. fortsetzte) und zugleich die Schicksale und Wandlungen der gesamten französischen Presse während dieser bewegtesten aller Epochen aufs eingehendste schildert und dessen mehr akten mäßige Darstellung unterstützt wird durch viele Citate und biographisches Beiwerk. Der Gewaltstreich vom Juli 1830, der in der Hauptsache für und durch die Presse, die endlich dazu gelangt war, die Volksleidenschaft zu ihren Gunsten zu äußerstem Widerstand, zu offener Revolution zu reizen, so daß die Regierung einfach abgesetzt und ein neuer König gewählt wurde, in Scene gesetzt worden war, brachte der Presse endlich die heiß umstrittene Freiheit wieder, eine gänzliche Freiheit, wie sie diese noch nie vorher in dem Maße genossen hatte In der neuen 6ösrts von 1830 be fand sich sogar der Passus, daß die Censur niemals mehr eingeführt werden könne. Hatten die Revolution von 1789 und die Zeit der Restauration Sturm- und Drangperioden ohnegleichen im französischen Preßwesen gezeitigt, so folgte auf die Juli- Ereignisse des Jahres 1830, der Zeit der unbeschränkten Preßfreiheit, die auch einen vollständigen Umschwung in den Anschauungen, Sitten und Gebräuchen des Volkes mit sich gebracht hatte, eine für die Entwickelung des französischen Zeitungswesens äußerst günstige und fruchtbare Periode. Der Einfluß der Presse, die auf keinerlei Widerstand stieß, wuchs ungeheuer, sie wurde zur wirklichen vierten Groß macht im Staate, ja noch mehr. Es mögen die Aus lassungen eines zeitgenössischen, von Avenel citierten Schrift stellers, Alfred Nettement, der in seiner »üiitoirs äs Is Ilrtä- rstiirs krsoqsiss »ans Is gonvsrllsmsllt äs änillst« den Ent- wickelungsgang des französischen Zeitungswesens in den ersten Jahren nach der Juli-Revolution behandelt, hier in der Uebersetzung folgen, zumal sie auch im Hinblick auf die allgemeine Bedeutung der Zeitung von Interesse sind: »Der Bischof, der Grandseigneur, die Magistrats- und die Militärperson, der Gelehrte, der ehemalige Pair von Frankreich, der einstige Abgeordnete, der Student, der eben die Schulbank verlassen hatte, sie alle ergriffen die Feder und stellten sich in den Dienst der allmächtigen Presse. Ist doch die Zeitung eine so bequeme Redner bühne, von der aus das Wort weit in die Runde schallt! Die Presse, dieses tägliche Zwiegespräch zwischen der persönlichen Intelligenz mit der großen Oeffentlichkeit, giebt allen jenen, die durch ihre Thätigkeit als Journalisten dieses Zwiegespräch herbeiführen, die stärksten Anregungen. Das Buch ist kalt und langsam in seiner Wirkung auf die Allgemeinheit, wie ein Monolog, den man vorliest, anstatt daß er vom Schauspieler vorgetragen wird. In der Zeitung dagegen ist die Wirkung eine unmittelbare: diese oder jene heute aufs Papier geworfene Idee macht morgen schon die Runde durch ganz Frankreich; die Gefühle und Ansichten, die dem Innern des Journalisten entspringen, treten in Tausenden von Herzen übereinstimmend zu Tage; bei dieser Erinnerung, bei jener ausgesprochenen Hoffnung erheben sich die Häupter, fühlen sich gleichgesinnte Seelen neu belebt; die Parteigenossen, beleidigt vielleicht und niedergeschlagen durch irgend welche Vorkommnisse, werden sich wieder auf richten bei diesem oder jenem Worte, das scharf und spitzig wie die Spitze eines Schwertes in die Brust des glücklicheren und triumphierenden Gegners trifft. Man darf auch nicht unberück sichtigt lassen, mit welcher Leichtigkeit man unter dem Einfluß des durch den täglichen Federkrieg erzeugten geistigen und moralischen Fiebers schreibt. Der Ansturm der Ideen bringt Geistesfunken hervor, die zugleich erwärmen und erleuchten. Die Zeitung ist, genau gesprochen, eine geschriebene Impro visation, die allerdings oft nur unvollständige und flüchtige Darstellungen begünstigt. Doch während er schreibt, lernt der Journalist oft mehr, als er über die zu behandelnde Frage weiß, und zuweilen errät er sogar noch mehr als er lernt. Er erwirbt sich inmitten dieses beständigen Jdeen- und Jnteressenkampfes eine besondere Gabe, die Gabe der unmittelbaren Erkenntnis, die dadurch entsteht, daß sich sein Geist ununterbrochen mit den verschiedensten Fragen be schäftigt, daß er sich der Notwendigkeit gegenüber befindet, sich auf der Stelle seine Ansicht zu bilden. Er erfaßt schnell und steht weit wie ein Lotse im Schiff, der in langem harten Dienst seine Augen geschärft hat. Und schließlich knüpfen sich unbewußt unsichtbare Bande der Zusammen gehörigkeit und Freundschaft zwischen ihm und unbekannten Freunden, die er nie gesehen hat und die er niemals sehen wird, für die seine Gedanken jedoch die geistige Nahrung bilden, auf die er seine Empfindungen und Anschauungen überträgt.» — Unter diesem durch die Macht der Verhältnisse zur Nachsicht gezwungenen Regime kamen, wie leicht erklärlich und wie bei dem zu Excessen geneigten Volk der Franzosen wohl selbstverständlich, nur zu bald Ausschreitungen der Presse vor, denen die Regierung schließlich mit wiederholten Strafen zu begegnen suchte. Als sich jedoch derartige Maß nahmen als unzureichend erwiesen und namentlich die Person des Königs vielfachen Angriffen ausgesetzt war, sah man sich gezwungen, zu weiteren Repressiv-Maßregeln zu greifen, und