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8794 Künftig erscheinende Bücher, .V 23g. is Oktober 1904, Wiener VenlgA. Wien und ^eipri§. L-paß. Lieschen erwischte ihn von der Kutsche aus beim Zopf und begann daran wie an einem Glockenstricklein zu zerren. „Hotte hü . . . du hölzerner Chineser, dreh dich . . . schneller . . . ringsum und um . . ." Ein wahrer Wonnetaumel erfaßte das Kind. Seine Wangen brannten wie rote Lichtlein. Bald lehnte es sich tief in die Wagenpolster zurück und schloß selig die Augen; dann sprang es wieder auf und ließ sich stehend im Kreise fahren. Das lange Sitzen vertrug nämlich Lieschen nicht, denn die Striemen von Mutters Schlägen brannten wie Feuer. Dann stieg es wieder aus und wählte sich eine andere Kutsche. „Jetzt die grüne Kalesche mit den zwei Rappen . . . und jetzt die blaue mit den zwei Fuchsen . . . und jetzt steig' ich gar in die große, goldige Kutsche ein . . . mit den vier weißen Schimmeln dran . . . Das kostet doppelt so viele Kreuzer, aber es macht nichts; das Sparschweinchen hat nicht umsonst den dicken Bauch gehabt." Und die armen Kinder, die immer so traurig um die Ring spiele herum stehen, weil sie kein Geld zum Mitfahren haben, schauten Lieschen mit sehnsüchtigen Augen nach. Ein armer Junge in zerrissenen Höschen rief ihr in den Wagen hinein: „O du Glückskind ... du hast es gut . . ." Da winkte Lieschen ganz vornehm aus der Kutsche und sagte herablassend und leutselig wie ein Prinzenkind: „Und du hast nichts! So komm halt in meine Kutsche herein, du armes Teufelein . . . will dich mitfahren lassen!" Husch! war der blasse Betteljunge neben Lieschen in dem goldigen Wagen. „Mich auch laß mitfahren, du Glückskind . . . mich auch . . . mich auch . . ." Vier, fünf Kinder drängten sich an die Kalesche mit den vier Schimmeln und streckten sehnsüchtig bittend die Händchen aus. „Na . . so kommt halt auch herein . . . ihr armen Kinder . . ." sagte Lieschen. Und die armen Kinderlein stiegen, rot und blaß vor Aufregung und Freude, in den Wagen, drückten sich enge aneinander und machten sich ganz schmal, damit sie ja nicht mit ihren zerlumpten Kleidern Prinzeßchens weißes Röckchen streiften. Als sich das Ringelspiel mit ihnen zu drehen begann, schrien sie vor Freude: „Juchheirassa" und rieben vor Lust die bloßen Füßchen aneinander auf und ab, wie die Fliegen beim Zuckernaschen. Lieschen aber tat recht vornehm, als ob es jeden Tag solche Vergnügungen haben könnte. „Sag, du Glückskind," fragte der blasse Junge. „Warum tust denn du nicht sitzen bleiben . . . immer stehst wieder auf!" „Weil mir das Sitzen weh tut," sagte Lieschen. schlagen hat!" „Wißt, ihr lieben Kinder," erklärte Lieschen und rümpfte gegen das Bürschlein nur verächtlich das Rüschen. „Mein Vater ist so vernarrt in mich! Den ganzen Tag tut er mich auf seinen Knieen Hoppen und schaukeln! Uno seine Kniee sind so spitzig . . . wißt ihr, er ist ein Schneider . . . und davon tut es mir weh!" „Und ein dünnes Zöpfchen hast," meinte ein anderes Kind. Denn Lieschen wurde von den scharfen Kinderaugen um und um „Und da hast einen kahlen Fleck, wie ein Taler so groß." An der Stelle hatte die Mutter dem Kinde den Haarsträhn ausgerissen, weil es zu ihr Mutter gesagt hatte. „Glaub's euch schon," meinte Lieschen, „daß ich einen kahlen Fleck Hab'! Die Mutter tut mir immer Haarlöckeln abschneiden! Eines tragt sie wie eine Kette um den Hals . . . eines hat sie in der Geldtasche . . . und eines in der Uhr . . . und eines im Betbuch, und eines unter einem Glassturz auf einem seidenen Kissen neben dem Bett, damit sie immer und überall von mir ein Löckchen zum Anschauen und Küssen hat." Und die Kinder sahen einander traurig an und sagten: „Oh, du hast es gut ... du Glückskind . . ." Ein anderes Kind hatte inzwischen Lieschens dünne Ärmchen besichtigt. „O, deine Ärmlein sind voll blauer und brauner Flecke, als ob man dich geschlagen hält'!" „Glaub's euch schon," sagte Lieschen, „daß ich voll blauer Flecke bin! Weil mich mein Vater und Mutter beim Küssen immer gar so fest drücken! Jede Viertelstunde wechseln sie ab! So haben sie es ausgemacht, damit sie nicht immer in Streit kommen, wer mich zum Küssen haben darf. Wenn mich die Mutter hat und sie läßt mich nach einer Viertelstunde nicht gleich aus, dann scharren an und macht ein böses Gesicht. Und wenn mich dann der Vater hat, paßt schon wieder die Mutter . . . mit der Uhr in der Hand, und schiebt Heimlich den Zeiger vor, damit die Viertel hab'! Ich laufe noch einmal davon . . . denn was zu viel ist, ist zu viel!" „O du garstiges Kind!" rief der blasse Knabe und schwere ich solch Vater und Mutter hätt'!" ^ H h Getobe und Kreischen der Mutter. Sie war schon auf der Suche. Nun ist es Zeit, dachte sich Lieschen. Es erhob sich und sagte: „Fahrt ihr nur noch einmal herum, ihr armen Kinder! Ich muß jetzt gehn . . . mir ist, als hört' ich schon wieder Vater und Mutter nach mir weinen und rufen: .Lieschen, mein Süßchen'!" Lieschen hüpfte leichtfüßig aus der goldigen Kalesche und lief, so schnell es laufen konnte, dem Wasser zu. Hinter ihm her stürmte mit wutverzerrtem Gesicht und wild funkelnden Augen die Mutter. Sie hatte schon von weitem ihres Ännchens weißes Kleidchen mit der roten Masche erkannt. Lieschen hörte nicht auf zu laufen, bis es vor dem tiefen Wasser stand. Die Schneiderin war wie eine Furie hinterdrein und schwang wild drohend den Haselstock. „Tut mir sehr leid, mein lieber Herr Haselstock," dachte sich Lieschen, „aber ich will keine neue Bekanntschaft mehr machen und krabbelte die senkrecht steil abfallende Böschung des Flusses hinunter. Knapp vor dem strömenden Wasser blieb es stehen und dachte sich: „Nun will ich nur noch meiner Mutter zu guter Letzt eine rechte Bosheit antun." Und als es die Mutter auf der Höhe der Böschung auftauchen sah, rief es hinauf: „Mutter, da bin ich . . . Mutter . . ." „Ich will dir schon abgewöhnen das Muttersagen!" brüllte die Schneiderin blaurot im Gesicht und kletterte vorsichtig Schritt für Schritt den Uferdamm herunter. Lieschen benützte die Zeit und rief aus vollem Halse: „Mutter . . . Mutter . . . Mutter . . . Mutier . . ." Es schrie immerzu: „Mutter . . . Mutter!" Bis die Adern schwollen und sich wie kleine Stricke an dem dünnen Hälschen spannten. Und als die Schneiderin endlich unten war und mit der Faust nach Lieschens Zöpfen greifen wollte, da hüpfte es mit gleichen Füßen frischauf in das tiefe Wasser. Es machte einen Plumps, wie wenn ein Frosch zur Abendzeit vor dem nähenden Wanderer Lieschen tauchte nicht mehr auf. Und nun war es, als wäre der Frau Schneiderin niemals beim Nachhausegehen in der Kirchweihnacht ein Malheur passiert. Die armen Kinder aber kehrten mit geröteten Wangen und glänzenden Augen heim und erzählten, was sie für ein Kind ge troffen und wie das Kind glücklich sei. Der blasse Junge im zer lumpten Höschen träumte Nächte lang von dem Glückskind und ging jeden Tag zum Ringelspiel fragen, ob es nicht wieder da gewesen sei; erbeschrieb es: ein weißes Kleidchen mit roter Masche habe es angehabt. Aber niemand, niemand wollte es gesehen haben. rur ?robe 2 Exemplare bsr mit 40°/,. bar mit 33 H°/, llLä 7/6, 5 eollä mit 25°/,. vv i 6 n IX., Oar6UixL886 2. I^6iprix, Xurrs8tra886 7. wiener Verlag.