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.1k 289. 13. Oktober 1904. 8793 Künftig erscheinende Bücher. Wiener Verlag, Wien unci i^eipriK. auf die Hand. Dann stieß sie das Kind in die dunkle Küche hinaus zu den Russen und Schwaben. Und das war nun sehr traurig, wo sich doch Lieschen von der Pflegefrau hatte blutig schlagen lassen, um zur Mutter heim geschickt zu werden. Die glücksstille Schneiderstube miderhallte nun von Streit und Zank. Der Ziegenblüh saß wild verbissen beim Essen und seine Augen schauten kreuzweise übereinander. Er hatte kaum von der Suppe gekostet, da warf er auch schon den Löffel hin: „Es ist kein' Ordnung mehr in der Welt . .." Die Meisterin überflog prüfend den Tisch, ob etwa Messer oder Gabel oder das Salzfaß fehle. „Alles ist verkehrt ... es geht nichts mehr der Reihen nach..." „Nichts mehr der Reihe nach," fuhr die Schneiderin drein: „Stellt man dir vielleicht dein' Mehlspeis' vor der Suppe auf?" „Ja ... ja ... die heilig' Schrift hat recht ... die ersten werden die letzten sein. . . nach dem Fünfjährig', nach dem Einjährig' kommt das Siebenjährig'." Dann flogen seine kreuzweis gestellten Augen wieder ver gleichend zwischen Lieschen im Winkel und der Meisterin hin und sich wieder tief in Meisterins Gesicht. „Kein Glcichnus ist. . . kein Gleichnus," fing er dann kopf schüttelnd zu brummen an. Meisterin fragte: „Und was soll kein Gleichnus sein?" „Kein Gleichnus . . . keinen Zug hat es von dir . . . hm . . . hm . . . wem mag es denn nur gleichen ... so hat es wohl seine Augen . . . und seine Nase . . . war er ein schöner Mann ... he... oieÜeicht von der Garde. . . he. . ." Der lange, dürre Schneider begann vor Eifersucht zu Hüpfen: Nun kam sie auch in die Hitze. „Ja! . . ." schrie sie ihm in die Ohren. „Ein schöner Mann... kein Schneider!" Da sprang er auf und begann sie zu würgen und mit der Faust nach ihr zu schlagen. „Du Laster . . . denkst wohl noch an ihn . . ." Dann riß der Glücksschneider Ziegenblüh wieder seine Schild kappe vom Nagel, stürzte aus der Stube und schlug die Tür hinter sich zu, daß die Fenster klirrten. Die Schneiderin stand da wie begossen und hätte vor Scham und Zorn in die Erde sinken mögen. Nun hatte er sie geschlagen und gewürgt, zum erstenmal seit ihrer Ehe. Nun war es vorbei mit allem Frieden. Sie warf sich hin und begann bitterlich zu Kleinlieschen kam aus dem Küchenwinkel herangeschlichen und sagte mit den Augen „Mutter"! Denn mit dein Mund durfte es nicht Mutter sagen. Aber die Schneiderin hatte nicht acht auf Lieschens Augen sprache; sie weinte fort und fort, daß es sie nur so stieß. Und endlich faßte sich Lieschen ein Herz, zupfte die weinende Schneiderin sachte am Rock und sagte halt doch leise: „Mutter!" Da fuhr die Schneiderin auf, als hätte sie eine Natter gestochen. „Hab' ich dir nicht verboten das Muttersagen? Soll der Teufel dein' Mutter sein!" Hoch auf loderte ihr Zorn. Das Kind war ja an allem schuld. „Deinetwegen hat er mich geschlagen und gewürgt, du Naben kind. Wirst noch einmal Mutter sagen?" Und sie hieb blindlings auf das Malheurkind los. Lieschen krümmte sich unter den Schlägen und beteuerte: „Nein . . . Mutter ... ich sag's gewiß nicht wieder." Das Kind verschnappte sich immer. Die Schneiderin schlug immer ärger zu. Sie riß das Kind an den Haaren, daß ihr ein ganzer Strähn in der Hand blieb. „Wirst noch einmal Mutter sagen?" „Nein. Mutter, gewiß nimmer!" Immer verschnappte sich das unvorsichtige Kind. Allen Zorn und Scham über ihres Mannes Roheit schlug die Schneiderin in das Malheurkind hinein. Dann stieß sie es wieder in den Küchenwinkel zu den Russen und Schwaben. bette von einem Schläfchen und seufzte. Im Nu war die Mutter bei ihm, gab ihm gleich einen Löffel voll Himbeersaft und nötigte ihm ein süßes Viskuitchen auf und fing mit ihm an zu kosen und streichelte ihm die dicken Ärmchen und tat so wunderlieb: „Mein Liebling . . . mein Einziges . . . mein krankes Süß- chen . . . und bist du erst ganz gesund, dann sollst du sehen, was Das Malheurkind hatte sich in der Küche auf die Zehenspitzen gestellt, damit es durch das kleine Gucksensterchen in die Stube sehen könne. Die Mutter holte aus dem Kasten ein neues weißes Röckchen mit roten Maschen; das hatte sie während Lieblings Krankheit, wo sie Tag und Nacht nicht von seinem Bette gewichen, unter Tränen geschneidert; dann holte sie die neuen seidenweichen Schüh- chen mit schwarzen Maschen und neue Handschuhlein für die halbe Hand mit grauen, kleinwinzigen Maschchen, und breitete alles auf seiner beim ersten Ausgang warten. Und das tönerne Spar- schweinchen holte die Mutter herbei und ließ die Münzen vor Ännchens Ohren klimpern: „Da horch . . . kling . . . kling! Während du krank warst, mein Herzchen, haben wir es voll gemacht . . . schau nur, was das Schweinchen für ein dickes Baucherl hat! Und jetzt gib mir ein „Ach du mein lieber Gott," sagte Lieschen bei sich, während es so in die Stube sah. „Wie träg sich die dicke Schneiderpuppe bei dieser Arbeit stellt . wie ein Regenwurm! Bis die nur ihre Lieschen wollte gleich die Probe machen. Gesetzt den Fall, der große hölzerne Fleischstock neben dem Herde wäre die Mutter und das Astloch in der Mitte Mutters Mund. Lieschen kniete sich nieder, spitzte gierig seine dünnen Lippen weit vor und be gann mit Inbrunst zu kosen und zu küssen. Fünf- und sechsmal hatte das Malheurkind schon mit seinen mageren Ärmchen den Hackstock umfangen und sieben-, acht-, zehn mal das Astloch geküßt, bis das dicke schläfrige Schneiderkind in der Stube nur endlich sein Mäulchen zu einem fadendünnen Küß- chen an Mutters Mund gebracht hatte. Die Mutter blieb beim Bettchen sitzen, bis ihr Kind einge schlafen war. Sie wehrte ihm die Fliegen, horchte auf seine Atem züge, strich ihm die Haare aus der Stirne, fächelte ihm Luft zu, schob ihm das vorgerutschte nackte Ärmchen sorgsam unter die schützende Decke, damit es ja kein Nheumatismuschen bekomme. Dann schlich sie leise auf den Zehenspitzen hinaus, zur Wohnungs nachbarin hinüber. Ihr Herz war übervoll, sie mußte es jemandem klagen, was ihr heute der Mann getan. Auf dem Wege durch die Küche sah sie das Malheurkind im Winkel kauern. Sie konnte sich nicht helfen, sie mußte im Vorübergehen mit dem Fuße nach ihm stoßen: „Wenn du nur zutiefst im Wasser lägest, ehvor wird kein Friede mehr!" „Kann man auch tun," dachte sich Lieschen. „Besser zutiefst im Wasser bei den Fischen, als man darf sein' Mutter nicht Mutter- heißen. Und wenn einen Bein und Knochen von den Schlägen wie Feuer brennen, ist das Liegen im kühlen Wasser das schlech teste nicht!" Als die Mutter fort war, ging Lieschen in die Stube und zog Ännchens weißes Kleidchen an, damit es nicht wie ein Bettler kind im Wasser liegen müsse. Dann schlug es dem tönernen Spar- schweinchen den Bauch entzwei und steckte die Kreuzer zu sich, damit es doch auch ein Geld habe auf dem Wege zum Wasser. Dann ging es fort und gedachte so bald nicht wiederzukommen. Auf dem Wege zum Wasser kam es an einem Ringelspiel vorüber. Die Mittelachse des Ringelspieles bildete ein riesig langer, dicker hölzerner Chinese. Der drehte sich immer ganz langsam und hölzern wie ein echter Chinese im Kreise, während die Rößlein und Wagen an den äußeren Hebelenden nur so dahinflogen; und so komisch wackelte er mit dem drei Ellen langen Zopf, daß die Leute alle lachen mußten. Die Stimme des Ausrufers hatte einen Klang, wie wenn man kleine Holzklötzchen in einer Blechbüchse schüttelt: „Einsteigen, meine Herrschaften . . . Kopf für Kopf zehn Neu kreuzer . . . Kinder und Militär vom Feldwebel abwärts zahlen die Hälfte . . . wer keinen Kopf hat, darf ganz umsonst mitfahren!" Dann scheuchte er wieder die armen Kinder fort, die immer um die Ringelspiele herumstehen: „Wer kein Geld hat, ist ein Lump . . . husch, husch, ihr kleinen Lumpen! Aber du komm nur immer vor, du kleines Prinzeßchen im weißen Kleide. Du bist brav— du hast Geld . . . steig ein!" „Laß mich gern noch einmal drehen," dachte sich Lieschen und stieg ein. „Im kalten Wasser lieg' ich noch lang genug ruhig!" Je rasender die Rößlein mit den Kutschen im Kreise flogen, desto mehr freute sich Lieschen. Es begann zu lachen und in die Hände zu patschen und zu jauchzen: „Ach du mein ... ist es doch schön!" Alles wirbelte nur so dahin; nur der hölzerne Chineser drehte sich immer gleich langsam und steif im Kreise und das war ein