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72, 28. März. Nichtamtlicher Theil. 1185 schlagnahme deshalb gestellt wissen, weil die Polizei mit derselben vielfach den allerärgsten Mißbrauch getrieben hat, und zwar ist dieser Mißbrauch ein böswilliger gewesen. Ich erinnere mich eines Polizeipräsidenten von Berlin, der einem hiesigen Blatte gegenüber — war es die Volks-Zeitung oder die frühere Urwählerzeitung oder die Vossische Zeitung — erklärte, er werde diese Zeitung dadurch vernichten, daß er sie täglich werde mit Be schlag belegen lassen. (Hört!) Commissarius v. Brauchilsch wendet sich gegen die Behauptungen von einer politischen Tendenz bei polizeilicher Beschlagnahme. Abg. v. Kardorff befürwortet nochmals seinen Antrag. Abg. vr. v. Niegolewski: Meine Herren, es ist mir zugleich peinlich und erfreulich, daß Sie sich selbst ein Gesetz bereiten, das Ihnen in Zukunft sehr unbequem sein kann. Sie haben auf die polnischen Landestheile hingewiesen und behauptet, daß dort hochverräterische Plane geschmiedet werden. Es kann ja bei uns auch ohne eine Dictatur dictatorisch regiert werden; ich begreife aber nicht, daß Sie sich unsertwegen das Leben verkümmern wollen. Es kommt hier wieder das Wort zur Geltung: „Das ist der Fluch der bösen That, daß sie fortzeugend Böses muß gebären." Auch das Preßgesetz wird in seinen Folgen sein der Fluch der bösen That. (Heiterkeit.) Abg. Majunke spricht gleichfalls gegen polizeiliche Beschlag nahme. Bei der Abstimmung werden sämmtliche Amendements mit sehr starken Majoritäten abgelehnt (für den zweiten Theil des An trages von Kardorff stimmten auch v. Treitschke und v. Schulte) und wird tz. 27. in der Fassung der Commission gegen die Stimmen der conservativen und einiger freiconservativen Abgeordneten angenommen. Für diese Fassung stimmen auch Friedenthal und Graf Bethusy-Huc. Die folgenden Paragraphen des fünften Abschnittes werden ohne erhebliche Debatte genehmigt. §. 34. lautet: Die für Zeiten der Kriegsgefahr, des Krieges, des erklärten Kriegs- (^elagerungs-)Zustandes oder innerer Unruhen (Aufruhrs) in Bezug auf Gewerbesteuer findet eine besondere Besteuerung der Presse und der einzelnen Preßerzeugnisse (Zeitungs- und Kalenderstempel, Abgaben von Inseraten rc.) nicht statt. Hierauf beantragen: 1) Krüger: die Worte „der Kriegsgefahr" zu streichen. 2) vr. Brockhaus: Hinter Absatz 1. als Absatz 2. die Worte zu setzen: „Auch werden durch dieses Gesetz die Vorschriften der Landes gesetze über Abgabe von Freiexemplaren an Bibliotheken und öffentliche Sammlungen aufgehoben." 3) Oncken: Als zweiten Absatz Folgendes aufzunehmen: „Die in den Landesgesetzen ausgesprochene Verpflichtung zur Abgabe von Frei exemplaren an Bibliotheken und öffentliche Sammlungen haben Verleger und Verfasser, beziehungsweise Herausgeber gemeinsam zu tragen; von Prachtwerken mit Abbildungen können Freiexemplare nicht verlangt werden." 4) v. Schulte als zweiten Absatz den folgenden Passus aus der Regierungsvorlage aufzunehmen: „Ebenso werden durch dieses Gesetz die Vorschriften der Landesgesetze über Abgabe von Freiexemplaren an Bibliotheken und öffentliche Sammlungen nicht berührt." Abg. Or. Oncken: Der gesetzliche Rechtszustand, betreffend die Abgabe eines Pflicht exemplars an die Landesbibliotheken, den der Abg. Or. Brockhaus abschasfen will, besteht in Oesterreich, in Frankreich, in England. In England werden sogar fünf elegant gebundene Einbände von jeder Druckschrift an die Bibliothek geliefert. In keinem dieser drei Länder ist jemals ein Mensch darauf gekommen, diese wohlthättge Einrichtung abschasfen zu wollen. Für mich ist einzig und allein maßgebend das Interesse der Wissenschaft, das Interesse an der Aufbewahrung der einheimischen Literatur, an der Sicher heit des Fortbestehens der Bibliotheken und ihrer Sammlungen. Sie werden schwerlich geneigt sein, den Bibliotheken des Landes denjenigen haben, welche ihnen der Antrag Brockhaus entziehen will. Nehmen Sie diesen Antrag an, so geben Sie damit ganze Gattungen der Literatur einem sicheren Untergange preis. Eine solche Gattung umfaßt zunächst Einundvierzigster Jahrgang. die Flugblätter, die literarischen Tages- und Streitschriften, in denen sich die Zeitgeschichte selbst aufzeichnet und zwar in den frischesten Farben, in der unmittelbarsten Weise. Eine zweite hochwichtige Gattung der Literatur umfaßt diejenigen wissenschaftlichen Werke und Arbeiten, welche in einem ihrer Verbreitung und ihrem Bekanntwerden ungünstigen Augenblicke erscheinen. Sie bleiben alsdann unbekannt, werden todtgeschwiegen, von dem Verleger schließlich als Macnlatur verkauft und gehen so zu Grunde. Nun trifft aber ein solches Schicksal leider sehr häufig Werke, deren hoher wissenschaftlicher Werth sich erst nach 20, 30, ja 50 Jahren herausstcllt. Sie werden als dann zufällig in den Bibliotheken wieder entdeckt und feiern so nicht selten eine glänzende Auferstehung. Gerade solche Werke sind es dann, die, wenn eine neue wissenschaftliche Richtung sich Bahn gebrochen hat, als die kostbarsten Funde benutzt und hochgeachtet werden. Abg. Dr. Brockhaus: Ich kann meine Eigenschaft als Mitglied des Reichstages nicht so auffassen, daß sie verpflichtet, eine Schädigung des Standes, dem ich an gehöre, gutzuheißen. Ich spreche dabei nicht pro äoino; denn im König reich Sachsen besteht diese Maßregel der Abgabe eines Pflichtexemplars nicht mehr. Ich stelle mich ganz auf den Rechtsstandpunkt und sage: es Eigcnthums, eine derartige Vermögcnsschädigung sich auserlegen^ soll. Diese Verpflichtung zur Abgabe eines Freiexemplars an die Bibliotheken stammt aus der Zeit der Censur und des Concessionswesens. Es liegt kein Grund vor, sie n«ch gegenwärtig aufrecht zu erhalten. Abg. v. Schulte: Ich bitte Sie einfach, den betreffenden Passus der Regierungsvorlage wiederherzustellen, wonach es bei der Abgabe des Pflichtexemplars an die Bibliotheken verbleibt. Wie man von einer Vermögensbeschädigung oder Besteuerung wegen dieser Maßregel sprechen kannn, ist mir wirklich unbegreiflich. Die Verschwendung von Exemplaren von Druckschriften zum Zwecke der Reclame und Recensionen an Zeitungen und Zeitschriften ist eine ganz maßlose. (Sehr wahr! Sehr richtig!) Die Augsburger- Allgemeine Zeitung beispielsweise veröffentlicht allmonatlich eine solche Uebersicht der ihr zugesendeten Bücher, obwohl sie gar kein Wort weiter nennt als nur den Titel des Buches und den Namen des Verlegers, er hält sie die kostbarsten Werke zugeschickt. Aber nicht nur die großen Zeitungen, auch die kleinsten Wivkelblätter, die Provinzialpresse in jeder Stadt werden mit derartigen Recensionsexemplaren geradezu überschüttet. Und da will man von einer Vermögensbeschädigung reden, wenn im Interesse der Wissenschaft die Ablieferung eines einzigen Exemplars an die Landesbibliothek verlangt wird? (Sehr wahr!) Ich muß es leider aus meiner eigenen genauesten Kenntnis; der Dinge hier offen vor dem Lande aussprechen: Das Bibliothekwesen ist in ganz Deutschland eine wahre Partie stoutouLe. Wir stehen gegen Frank reich in dieser Beziehung in unglaublicher Weise zurück. Ich habe ganz Frankreich durchwandert, und da ist von Nord bis Süd, von Ost bis West auch nicht eine einzige Departementalhauptstadt, ja kaum eine einzige Stadt eines Sousdepartcments, die nicht eine ausgezeichnete und vor trefflich eingerichtete Bibliothek besitzt. Man wetteifert förmlich von allen Seilen, auch von Seiten der französischen Verlagsbuchhändler, diese Bibliotheken zu vermehren. Wie aber steht es in Deutschland? Wie viele unserer größten Städte haben überhaupt öffentliche Bibliotheken? ES ist geradezu eine Ausnahme, wenn eine Stadt, die nicht Universitäts stadt ist, eine Bibliothek besitzt. Selbst so große Städte wie Aachen und Cöln haben bis zum heutigen Tage kaum das, was man eine Bibliothek nennen kann. Ich kann das Haus nur dringend bitten, die Verpflichtung zur Abgabe eines Exemplars an die Landesbibliothek auch ferner bestehen zu lassen. (Beifall.)*) Bei der Abstimmung wird zunächst das Amendement Krüger, so dann der Antrag Brockhaus und Oncken abgelehnt, der Antrag v. Schulte dagegen angenommen und mit dieser Einschaltung der tz. 34. der Commissionsvorlage. H. 35. endlich lautet: Dieses Gesetz tritt am 1. Juli 1874 in Kraft. Seine Einführung in Elsaß-Lothringen bleibt einem besonderen Gesetze Vorbehalten. Die Abg. v. Hoverbeck u. Gerber beantragen selbständig und ge sondert den zweiten Sah des Paragraphen zu streichen. *) Bei dem besonder» Interesse, welches die Frage von dem Fort bestand oder der Aufhebung der sogen. Pflichtexemplare für die Leser des Börsenblattes hat, werden wir die bezüglichen Reden von den Abgeord neten Or. Oncken, I)r. Brockhaus und v. Schulte noch ausführlich nach den stenographischen Berichten zur Mittheilung bringen. D. Red. 161