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118, 24. Mai 1907. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 5267 Die Ästhetik der Plakatsäule. über dieses Thema hielt in der letzten Sitzung des »Vereins der Plakatfrcunde- in Berlin Herr Schriftsteller Paul West heim einen Vortrag, behandelte dabei das Plakat besonders vom Standpunkte des praktischen Geschäftsmannes, gab den Bestellern und Plakatmalern verschiedene Winke und Anregungen, stellte an ausgestellten älteren und neuern Plakaten verschiedener Geschäfts zweige Vergleiche betreffs ihrer Reklamewirkung an und wies nach, wodurch die einzelnen Blätter wirken. Seine Ausführungen gipfelten etwa in folgendem: Das Plakat ist kein Gemälde, keine sinnensüße Kunstschöpfung, kein anheimelnder Zimmerschmuck und auch keine liebliche, bunte Straßeuverzierung. Cs ist nicht vornehm wie eine wohlerzogene Dame, es ist eher ein lustiges Straßenkind. Das Plakat hat keinen Eigenwert und keinen ästhetischen Selbstzweck; es hat eine wirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen und ist nichts als ein Reklame hilfsmittel. Es gibt keinen Geschäftsmann, der sich zum Ver gnügen ein Plakat machen läßt oder um die Sammlung irgend eines Liebhabers zu bereichern. Jeder Kaufmann verlangt von seiner Reklame und seinen Reklameplakaten, daß sie ihm mate riellen Gewinn bringen. Das Plakat ist aber auch nicht ein vernachlässigtes Stiefkind der Kunst, nicht etwa das Produkt aus einer der gegenwärtig in Deutschland so beliebten ungleichen Paarungen zwischen der höchst aristokratischen Kunst und der sehr, sehr liberalen Reklame. Es ist gar kein verkrüppeltes Ding, dem man mit aller Gewalt wesensfremde Elemente aufpfropfen muß, um es schön zu putzen. Das Plakat ist selbst und für sich etwas, und zwar etwas Ordent liches und Richtiges, etwas durchaus Nützliches. Das Plakat soll Reklame machen, soll mit all seinen Kräften Reklame machen, und wer von ihm etwas andres verlangt, ver gewaltigt es zwecklos, wertlos, sinnlos. Jeder Versuch zu einer natürlichen Ästhetik des Plakats muß in der Reklamebedeutung wurzeln und muß in dem Reklamezweck den höchsten Zielpunkt finden. Alles andre ist fein fazettierte Seitenfläche, ohne innern Halt, ohne fruchtbaren Kern. Die ästhetischen Anschauungen des letzten Jahrhunderts haben eine starke Wandlung insofern erfahren, als die Ideen und auch die Harmonie nicht mehr den Hauptpunkt unsrer Ästhetik bilden, sondern der Zweck. Der Zweck, der sich seine Form geschaffen hat, das ist das Neue und Wertvolle. Mit einer gewissen Aufdring lichkeit betont unsre angewandte Kunst ihren Gebrauchszweck — und der Zweck des Plakats ist die Reklame. Es ist ein Markt schreier, der die Sprache verloren hat und nun mit seiner farbigen Gestikulation die Menge anlocken will. Und sein Los gleicht dem des Marktschreiers; wenn er vornehm werden wollte, wenn er aristokratische Allüren annähme, würde ihn sein Herr hinauswerfen. — Wenn das Plakat dem praktischen Geschäftsmann nicht dient, braucht er keinen Künstler und keine Kunstanstalt zu bemühen. Täuschen wir uns nicht, lassen wir uns nicht durch unsre künstlerischen Leidenschaften Hinreißen: das Plakat soll in erster Linie Geld schaffen. Der Kaufmann hat gar kein persönliches Interesse daran, durch seine Plakate das Publikum für die Kunst zu erziehen, er hat gar keine Lust, mit seinem erworbenen Geld Älltagskultur zu treiben oder die Großstadtstraßen zu zieren; er hat aber ein starkes Interesse, seine Waren zu verkaufen, Käufer und Kunden heranzuziehen und das Publikum auf seine Firma aufmerksam zu machen. Wir brauchen keine Plakatmode, an deren üblen Folgen wir gegenwärtig in Deutschland leiden — unsre Geschäftsleute brauchen Reklameplakate. In dem Augenblick, wo dem Besteller dies klar geworden ist, wo er überzeugt ist, daß das Plakat für ihn Reklame macht, daß es ihm den erhofften wirtschaftlichen Vorteil bringen kann, ist dem Plakat geholfen. Ein bewährter Künstlerstab ist hierzu bereits vorhanden, die erfolgreichsten deutschen Plakatmaler haben mehr oder minder bewußt dieses natürliche Prinzip aufgegriffen, und viele von ihnen ließen sich von dem Gedanken leiten, das Publikum durch dies oder jenes Mittel zu fesseln. Soll denn nun das Plakat unkünstlerisch sein oder bleiben? Es muß ein Unterschied gemacht werden zwischen der hohen Kunst und der Plakatkunst, zwischen der Malerei und der Reklame- malerei. Jedes echte Kunstwerk ist eine Erhebung und Offenbarung, jedes echte Reklamewerk ist eine Überraschung; jedes echte Kunst werk ist eine Erlösung und Befreiung, jedes echte Reklamewerk ist eine packende Aufdringlichkeit; jedes Kunstwerk ist eine Be reicherung, jede Reklame will das Gegenteil, will dem Menschen eine Entbehrung zum Bewußtsein bringen. Die Kunst spricht Seele und Gemüt an, die Reklame dagegen den nüchternen Verstand. Jedes Kunstwerk hat das Recht, eine starke Hingabe fähigkeit zu beanspruchen; das Stratzenplakat ist lediglich ein lästiger, störender Eindringling. Das Plakat — allerdings nur das richtige, wirksame — ist in der Tat ein Spiegel der Anschauungen, der Leidenschaften, Neigungen und Instinkte gewisser Kreise; von diesem Gesichts punkte aus muß man die zahlreichen Varistsplakate betrachten, wenn man ihnen gerecht werden will. Es ist der treffende Reflex, es sagt wenig gegen die Künstler, aber viel, sehr viel gegen die Gesellschaft, für die es bestimmt ist. Das Plakat ist so ästhetisch und auch so moralisch wert voll wie das Publikum, auf das es einwirken soll und kann. Verantwortlich für das Aussehen der Plakatsäule ist eigentlich nicht der Künstler, sondern die Beschauer. Bei Betrachtung der ästhetisch-kulturellen Qualitäten des Plakats muß man sich ein gehender mit dem Publikum beschäftigen. Eine Ästhetik der Plakatsäule wird sich weniger mit den technisch-artistischen Eigenschaften der einzelnen Künstler zu beschäftigen haben als mit einer Psychologie der Käuferkreise. Wieso wirkt ein Plakat? Man könnte sagen: indem es die Neugierde erregt. Das wäre aber zu wenig, denn es gibt Plakate, die ständig wirken sollen und können, die die Aufmerk samkeit erregen, wenn der erste Reiz der Neugierde längst ver pufft ist. Dieser Erfolg wurzelt in der Wohlgefälligkett. Wenn das Plakat den Beschauer ansprechen soll, so muß es ihm persön lich in irgend einer Weise angenehm sein. Es muß etwas bieten, was ihn persönlich fesselt, eine Darstellung gewählt sein, die dem Beschauer persönlich behagt. Das Plakat muß den Ton an schlagen, der in dem Beschauer sofort nachklingt. Diese viel seitigen Eigenschaften des Einschmeichelns und Einschleichens lassen sich in dem Begriffe der Wohlgefälligkeit zusammensassen. Verschiedenfach ist erklärt worden, das Plakat solle nicht gefallen sondern auffallcn. Diese Behauptung hat etwas Bestechendes, doch sie bedarf einer Korrektur dahingehend: das Plakat soll ein Gefühl des Wohlgefallens in dem auslösen, für den es berechnet ist. Ein Beispiel mag dies illustrieren: In dem säubern Straßen bahnwagen einer mittler« Stadt hing ein Plakat zur Empfehlung von Insektenpulver. Mit einer gewissen Aufdringlichkeit waren Tierchen abgebildet, die man in einem geordneten Haushalt nicht anzutreffen pflegt. Das Plakat mußte jedem auffallen, und zwar unangenehm auffallen; es wurde von den Fahrgästen direkt lästig empfunden und verunzierte den schönen Wagen. Diese Erbitterung hat wohl den Namen der Firma bekannt gemacht, aber ihr keine Kunden zugeführt. Die brutale Gewalt, die rohe Kraft allein nützt also noch nichts. Fassen wir das Problem der Wohlgesälligkeit noch etwas tiefer, so bietet sich die Erkenntnis, daß das Plakat Begchrungsvorstellungen in dem hastenden Passanten der Straße auslösen soll. Es soll ihn aus dem Zustand der latenten Zufriedenheit ausrütteln, ihm ein neues, lebhaftes Bedürfnis suggerieren. Die Darstellung muß seine Sinne umscheicheln, verlocken, erfassen, bis er eine Entbehrung schlagend stark verspürt. Je wichtiger diese Begehrungs vorstellungen in ihm anwachsen, um so geringer wird sein Wider wille, sein Geld hinzugeben, umso stärker wird ihm das Gefühl, daß er damit lediglich ein zwingendes Bedürfnis befriedigt. Die Aufgabe des Plakatkünstlers ist es daher, jeden oder jede Käufer gruppe in ihrem Ton anzusprechen. Wenn jemand ein Plakat oder einen Entwurf beurteilen soll, so muß er sich zunächst fragen: für welchen Kreis ist diese Reklame berechnet? und dann: kann sie diesen Kreis auch fesseln? Haben wir nun wirklich schon das breite ästhetische Publikum für das reine ästhetische Plakat, ist die Kunst wirklich schon das stärkste Reklamemittel? Der Vortragende wagt dies ernstlich zu bezweifeln. Die ästhetischen Höhenmenschen scheinen noch allzusehr in der Minderheit zu sein, sie verschwinden unter der Masse der vielbezahlenden. Der Kampf der letzten 20 Jahre ist nicht fruchtlos