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^ 294. 18. Dezember 1912. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Ltschn. Buchhandel- 16135 Generaldirektor Professor l)r. Adolf Harnack gegen Leipzig. Die Bibliotheksfrequenz. Man schreibt uns: Adolf Harnack läßt in seiner Eigenschaft als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek soeben eine Denkschrift ausgehen unter dem Titel: Die Benutzung der Königlichen Bibliothek und die Deutsche Nationalbibliothek (Berlin, Verlag von Julius Springer), welche um der Bedeutung Harnacks willen nicht ohne Diskussion bleiben wird. Das, worauf es Harnack eigentlich ankommt, ist die Verwirklichung des älteren Gedankens einer deut schen Nationalbibliothek mit dem Sitz in Berlin. Die Engländer, Franzosen und Amerikaner verfügen über vorbildliche Nationalbibliotheken, die deutschen Bücher werden bislang noch nicht an einer einzigen Stelle gesammelt. Zur vollen Ausgestaltung der nationalen Würde gehört es, daß das geistige Leben der Nation, wie es sich in der Bücherproduktion ausspricht, in einer nationalen Biblio thek gesammelt wird und in solcher Sammlung zugänglich ist. Harnack versteht unter einer Nationalbibliothek die möglichst vollständige Sammlung aller nur irgendwie bedeutenden Druckschriften eines Volkes. Er ist überzeugt, daß sie sich schon darum an eine vorhandene Bibliothek angliedern müsse, weil sie nur einen größeren (oder kleineren) Teil der früheren Druckerzeugnisse besitze. Und da eine deutsche Natio nalbibliothek nicht zur Parade da sein darf, sondern zum Studium sich anbieten muß, so muß sie auch die Werke besitzen, die in anderen Län dern und Sprachen über Deutschland verfaßt sind; zudem bedarf man heute zu jeder wissenschaftlichen Aufgabe auch der fremdsprachlichen Bücher. Harnack erklärt, daß nicht einmal die Hof- und Staatsbiblio thek in München trotz ihrer einzigartigen Handschriftenschätze für diese Nationalbibliothek in Frage komme, sondern allein die König!. Biblio thek zu Berlin, die auf verschiedenen Linien bereits auf dem Wege zur Nationalbibliothek begriffen ist. Und nun erhebt Harnack seine Klage gegen Leipzig. Wenn es um Kopf und Kragen gehe, ruft er mit predigender Stimme, so seien wir Deutschen einig, sonst nur, wenn die höchste Not treibt; »bis dahin geht nicht nur der einzelne, sondern auch jeder deutsche Staat am liebsten seine eigenen Wege, zumal wenn in Berlin etwas ge schehen soll». Überall im Reiche versuche man Berlin zu drücken und Preußen seine natürliche und pflichtmäßige Stellung zu erschweren. Harnack ist mit dem Patriotismus der Einzelstaaten einverstanden und freut sich, wenn anderwärts auch wissenschaftlich etwas Eigentümliches geleistet wird, was Berlin nicht leistet. Aber die wissenschaftlichen Hilfsmittel sollen in der Reichshauptstadt in unübertroffener Weise zur Verfügung stehen. Leipzig trug sich mit dem Plau einer deutschen Nationalbibliothek — man weiß ja, welchen Einfluß und welchen Eifer der vorjährige Leipziger Rektor der dortigen Universität, Karl Lamp- recht, für die sächsische Hochschule aufwendet. Man war in Berlin über diesen Plan entsetzt bis zum Galgenhumor und beruhigte sich erst, als das Leipziger Programm in der ersten Fassung fallen gelassen wurde. Nun ist jedoch seit wenigen Wochen die große Idee in einer veränderten Form wieder aufgelebt — die Sorge um den alten und neuen Rivalen für seine Berliner Bibliothek drückt Harnack die Feder in die Hand: der Börsenverein der Deutschen Buch händler errichtet in Leipzig eine Deutsche Bücherei als Archiv des deutschen Schrifttums und des deutschen Buchhandels: eine öffentliche, an Ort und Stelle unentgeltlich zur Benutzung frei stehende Bibliothek. Inhalt: die gesamte deutsche und fremdsprachliche Literatur des Inlandes und die deutsche Literatur des Auslandes, welche vom 1. Januar 1913 an erscheint. Die Stadtgemeinde Leipzig hat den Bauplatz gestiftet, die sächsische Staatsregierung bewilligt aus Landesmitteln drei Millionen Mark. Der Börsenverein wird freier Eigentümer der »Bücherei, und ihres Heims zu unveräußerlichem Besitz. Staat und Stadt verpflichten sich zu den laufenden Unkosten. Das ist ein Kapital von zusammen mindestens zehn Millionen Mark. Mit einem nur halb unterdrückten Seufzer stattet Generaldirektor Harnack seine Anerkennung für die »großartige« Stiftung an den Bun desstaat ab. Aber da er, nicht ohne Grund, trotz des veränderten Namens, den für seine Bibliothek beanspruchten Plan der deutschen Nationalbibliothek hinter der Deutschen Bücherei wittert, so wandelt sich seine Klage zu einer (in maßvollen Worten) heftigen Anklage. Berlin wird nicht mehr unbestritten dastehen, das Interesse des Publi kums und der Verleger wird sich spalten, und vielleicht wird sogar das Reich, wenn es den sächsischen Plan nicht unterstützt, auch die Beihilfe zur nationalen Ausgestaltung der Berliner Bibliothek versagen. Har nack macht der sächsischen Staatsregierung den sanften Vorwurf, wenn sie Opfer bringen wollte, so hätte sie sich den Dank der Nation ver dient, wenn sie auch nur 20 000 Mark jährlich ohne Vorbehalt (mit Opferung Leipzigs) für die deutsche Nationalbibliothek in Berlin zu gesagt hätte. Aber es sollte eben Leipzig der Ort sein! Nun steht in Berlin die Königl. Bibliothek, die alles das enthält, was jener Bücherei fehlt (alle Literatur bis zum Jahre 1913 und die außerdeutsche Literatur), aber die ein Drittel von dem entbehren muß, was jene sammelt. Harnack meint, dieser seltsame Zustand sei nur in Deutschland möglich. Auf Grund dieser verwickelten Situation fordert Harnack mit ver schärftem Nachdruck die Bereitstellung der nicht allzu erheblichen laufenden Mittel, um seine Berliner Bibliothek zur deutschen National bibliothek (mit oder ohne diesen Namen) vervollständigen zu können. Die Leipziger Bücherei würde damit zu einem privaten Vereinsunternehmen mit wesentlich lokalem Charakter herabgedrückt werden, trotz der Stiftung der Regierung des Bundesstaates aus Landesmitteln. Hier liegt der politische Punkt in der Kundgebung der preußischen Behörde, welche Harnack vertritt, gegen Sachsen. Dabei hat er natürlich recht mit seinem Hinweis darauf, daß die Leipziger Bücherei grundsätzlich die Entleihung ver bietet. Doch dem steht entgegen, daß nach Harnacks statistisch gewonne nem Zugeständnis an den preußischen Universitätsbibliotheken durch schnittlich von fünf bis sechs Büchern, die vorhanden sein müßten, immer mindestens eins fehlt, und daß auf der Königl. Bibliothek von hundert Büchern, die dort sein müßten, mindestens fünf nicht vorhanden sind (auf den Universitätsbibliotheken fehlen etwa zwanzig). Wenn man nach Harnack auf der Königl. Bibliothek vier Werke verlangt, erhält man nur drei — doch das ist die prozentuale Durchschnittsziffer, für den einzelnen Zeitgenossen stellt sich die Er fahrung bei seinen wissenschaftlichen Bücherbedürfnissen erheblich schlimmer. Im letzten Etatsjahre sind rund 700000 Bücher bei der Königl. Bibliothek bestellt worden, und 36000 Aufdrucke brachten den Bescheid: Nicht vorhanden! Das ist noch kein idealer Zustand für eine Bibliothek, die von ihren Entleihern bekanntlich nun auch eine nicht unerhebliche Semestergebühr für die Benutzung der Königl. Bibliothek einzieht! Trotz manchen Vorzügen und großen Verbesserungen, welche Harnack seit den sieben Jahren seiner Generalleitung erzielt hat, und welche er in seiner Denkschrift mit berechtigtem Stolz ins Helle Licht rückt, bleibt seine Kundgebung eine Klage und Anklage, die angesichts der bevorstehenden Vollendung des Neubaues und der reichen zur Verfügung gestellten Mittel und Zuwendungen nicht verfehlen wird, Aufsehen zu erregen und in Leipzig wie in Berlin eine lebhafte öffent liche Diskussion zu veranlassen. In der Feuilleton-Beilage der Leipziger Neuesten Nach richten Nr. 326 vom 23. November 1912 erschien ein Artikel vom Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek Leipzig, vr. Otto Günther über: Tie Königl. Bibliothek in Berlin und die Deutsche Bücherei in Leipzig. Bei der lebhaften Teilnahme, die die jüngste Leipziger Biblio theksgründung — die am 1. Januar 1913 ins Leben tretende Deutsche Bücherei — in allen Kreisen unserer Stadt gefunden hat und findet, dürfte es für Leipziger Leser von Interesse sein, eine kleine Schrift kennen zu lernen, in welcher der Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliotheken gelegentlich der Frage nach einer Deutschen Nationalbibliothek zur Deutschen Bücherei Stellung nimmt. (A. Har nack, Die Benutzung der Königl. Bibliothek und die deutsche National bibliothek. Berlin, Springer 1912.) Den äußeren Anlaß hierzu bietet ihm eine Stelle in der Bekanntmachung betreffs der D. B., die der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler unterm 25. September erlassen hat. Darin wird im Eingang von der D. B. als dem Archiv des Deutschen Schrifttums und des Buchhandels gesprochen, am Schlüsse aber heißt es: eine möglichst lückenlose Nationalbibliothek ersteht in Leipzig usw. Diese letztere Bezeichnung findet der Verfasser irreführend, positiv unrichtig und im Widerspruch stehend mit der elfteren und erblickt in dem Umstande, daß in diesem Zusammenhänge der Königl. Bibliothek in Berlin nicht gedacht wird, einen tatsächlichen Angriff auf diese große preußische Staatsbibliothek. Dafür, was unter der deutschen Nationalbibliothek zu verstehen ist, gibt 2098*