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288, 12. Dezember 1892. Nichtamtlicher Teil. 7693 Indes derselbe Gesetzgeber, dem diese traurige Lage der Rechtssprechung unzweiselhaft genau bekannt ist, erklärt sich hierzu für unfähig, unternimmt es aber trotzdem, die Zahl der Gesichts punkte zu vermehren, unter denen jemand zur Verfolgung ge zogen werden kann. § 184 (Abs. 1) lautet in seiner gegenwärtigen Fassung: »Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen verkauft, verteilt oder sonst verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft.« Der neue Gesetzentwurf schlägt dagegen folgende Fassung vor: »Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, verteilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt, oder sonst verbreitet, wer sie zur Verbreitung herstellt, oder zum Zweck der Verbreitung im Besitz hat, ankündigt oder anpreist, oder wer durch Ankündigung in Druckschriften unzüchtige Ver bindungen einzuleiten sucht, ingleichen wer an öffentlichen Straßen oder Plätzen Abbildungen oder Darstellungen ausstellt oder anschlägt, welche, ohne unzüchtig zu sein, durch grobe Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Aergernis zu erregen geeignet sind, wird mit Gefängnis bis zu sechs Mo naten und mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit einer dieser Strafen bestraft. »Ist die Handlung gewerbsmäßig begangen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten ein, neben welcher aus Geldstrafe bis zu eintausendsünfhundert Mark, auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, sowie aus Zulässigkeit von Polizei- Aufsicht erkannt werden kann. »Die Strafen des Absatz 1 treffen auch denjenigen, welcher aus Gerichtsverhandlungen, für die wegen Gefährdung der Sittlichkeit die Oeffentlichkeit ausgeschlossen war, oder aus den diesen Verhandlungen zu Grunde liegenden amtlichen Schriftstücken öffentlich Mitteilungen macht, welche geeignet sind, Aergernis zu erregen.« In Zukunft soll also erstens die Strnfthat schon vollendet sein mit dem Feilhalten und dem Jnbesitzhaben zum Zwecke der Verbreitung. Es ist nicht ersichtlich, daß die hier gedachten Fülle nicht schon jetzt durch das Verbot des Aus- stellens in der Praxis getroffen werden könnten. Lediglich ver größert aber ist die Gefahr der Strafverfolgung dadurch für jeden Buchhändler. Wir wollen nicht wiederholen und streifen daher nur die Schwierigkeit für den Buchhändler, sich darüber schlüssig zu machen: ist dies und jenes Buch wohl nach Z 184 des Reichs- Strafgesetzbuchs strafbar. Hat er es im Laden und ist er sich noch nicht darüber schlüssig, ob dieses oder jenes Werk, das er kaum ausgeschlagen hat, etwa »bedenklich« sein könnte, so hat er zwar sicher noch nichts Schlechtes gethan, aber wer schützt ihn vor Verurteilung, namentlich, wenn der Richter mit ebenso falschen Vorurteilen an die Beurteilung der buchhändlerischen Thätigkeit herangeht, wie anscheinend der Verfasser der Motive? Es wird ferner vorgeschlagen, die Herstellung unter Strafe zu stellen. Diese Ausdehnung der Zahl der Strafbaren wird damit motiviert, es würden unzüchtige Schriften w. zum Teil in ausschließlich diesem Gewerbszweige gewidmeten Verlagsan stalten und Druckereien hergestellt und im geheimen an die Ab nehmer versandt. Zunächst müssen wir als Fachleute erklären, daß diese Be hauptung nicht richtig sein kann, bis etwa auf ganz verschwindende Fälle. Die Motive lassen ganz vermissen, was hiermit gemeint sein soll. Es könnte sich dies höchstens aus »Schweinereien«, ein anderes Wort giebt's dafür in der deutschen Sprache nicht, be ziehen, wie sie in Frankreich und vielleicht auch in Deutschland Aeunundfünszigster Jahrgang. in versteckten Winkeln angefertigt werden. Gegen diese Erzeug nisse, durchsichtige Spielkarten, Photographieen und pornographische Bilder rc. kann und wird schon jetzt mit ausreichender Schärfe eingeschritten, und fällt der Fabrikant, da er diese Sachen doch verkauft, schon jetzt voll und ganz unter das Strafgesetz. Die Gefahr liegt aber darin, daß bei Annahme der Novelle jeder Drucker — auch jeder Zeitungsdrucker — unter ein Strafgesetz gestellt wird, dem er bei einigermaßen gutgehendem Geschäftsbetrieb gar nicht ausweichen kann. Jeder Zeitungsdrucker stellt das ihm in Auftrag gegebene Blatt gewerbsmäßig her! Man könnte entgegnen, daß an solche Fälle weniger ge dacht sei, dagegen an die sogenannte Schundliteratur, unter welcher sich unzüchtige Schriften auch leicht verstecken könnten. Dazu bemerken wir als Fachleute, daß diese sogenannten popu lären Sachen so billig verkauft werden, daß die Herstellung nur sn grc>8 sich lohnt, daß also meist von vorhandenen Platten ge druckt wird. Der Plattendrucker ist nun gar nicht in der Lage, zu prüfen, was auf der Platte steht; es wäre deshalb nicht zu verantworten, auch ihn mit Strafe zu bedrohen. Es ist auch unerfindlich, was sich der Verfasser der Novelle von dieser Bestimmung versprochen hat. Bei Verurteilungen können im ganzen Deutschen Reich alle Druckexemplare eingezogen werden, desgleichen auch die Platten. Es scheint hiernach, daß nicht das Gesetz an sich ungenügend gewesen ist, sondern daß der Strafvollzug zu wünschen übrig gelassen hat; denn es steht doch der Staatsanwaltschaft in jedem Falle der Verurteilung frei, sämtliche deutsche Polizeiverwaltungen zu requirieren, bei sämtlichen in Deutschland existierenden Buch händlern nach den kondemnierten Büchern rc. zu suchen und diese zu vernichten. Augenscheinlich geschieht dies nicht. Und da kommen die Regierungen und verlangen mehr Strafgesetze, statt richtiger mehr Requisitionsformulare oder mehr Polizeikräste zu verlangen, oder zunächst es damit zu versuchen, die Staatsanwaltschaften mit entsprechenden Geschäftsanweisungen in Bezug auf die 88 41 und 184 des Reichs-Strafgesetzbuchs zu versehen! Ganz unklar ist, was weiterhin unter Strafe gestellt wird mit der Bestimmung, daß strafbar ist, wer an öffentlichen Straßen rc. Abbildungen ausstellt, welche, ohne unzüchtig zu sein, Aergernis zu erregen geeignet sind durch grobe Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls. Nun ist aber unzüchtig im Reichsgerichtsdeutsch, was geeignet ist, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Be ziehung gröblich zu verletzen. Daß es sich bei der vorstehenden Strafbestimmung nicht um andere Darstellungen handeln kann, als um solche, bei welchen »geschlechtliche Beziehungen« vorhanden sind, oder bei welchen der männliche oder weibliche Körper teilweise unverhüllt dargestellt ist, ergeben die Motive. Etwas anderes läßt sich schlechterdings auch unter den Worten der Novelle nicht denken. Dann ist aber die Gesetzes bestimmung ein völliger Widerspruch in sich, denn es lassen sich Darstellungen nicht denken, welche geeignet sind; das Scham- und Sittlichkeitsgesühl gröblich zu verletzen, dadurch sogar Aergernis zu erregen, ohne dabei nnzüchtig zu sein. Die mit in den Paragraphen hineingebrachten Annoncen zwecks Einleitung unzüchtiger Verbindungen gehen uns nichts an; es sind dies Ungezogenheiten, gegen welche das Leserpublikum oder die Konkurrenzblätter wirksamer als der Gesetzgeber ein- schreiten kann. Auch scheint die Aburteilung dieser ans 8 184 Reichsstras- Gesetzbuchs durchaus unbedenklich ; die Staatsanwälte sollten nur Anklagen gegen die Uebclthäter erheben, dieselben dürsten wohl 1036