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136. 15. Juni 1908. «drlmdian >. d. Dtschn. «uchhandci. 6601 Nichtamtlicher T«U- romanen so vielfach geboten wird, durch die Darreichung einer! besseren, ihrem Alter angemessenen literarischen Kost abzu halten, und es wird auch in der Tat von sehr günstigen Erfolgen dieser Einrichtung berichtet. Der Inhalt dieser Bibliotheken ist dem Alter der Leser und Leserinnen ent sprechend in der Weise angeordnet, daß zuerst nur Märchen und Kindererzählungen, dann auch Lebens- und Reisebeschreibungen, geschichtliche und populärwissenschaftliche Bücher u. s. f. im Zu sammenhang mit dem Schulunterricht dargeboten werden. Da es sich indessen herausstellte, daß ein größerer Teil dieser Kinder keine Gelegenheit hat, zu Hause zu lesen, sondern infolge häus licher Verhältnisse seine Abende fast regelmäßig auf der Straße in oft sehr zweifelhafter Umgebung zubringt, so wurden, um auch diesen Kindern wirkliche Gelegenheit zum Lesen dieser Bücher zu bieten, in den beiden Bibliotheken der Stadt eigene -Kinderhallen errichtet, die unter der Aufsicht einer Dame gewöhnlich von 41/2 Uhr nachmittags bis abends 8 Uhr geöffnet sind. Von dieser Gelegenheit wird natürlich zumeist bei schlechtem Wetter Gebrauch gemacht, was indessen die Schulverwaltung keineswegs bedauert, da es ja nicht der Zweck dieser Einrichtung ist, die Jugend vom Spielen im Freien abzuhaiten. Auf jeden Fall erweist diese Ein richtung, wie ernsthaft man in England die Erziehung der Jugend zum Lesen guter Bücher als einen Zweig der öffentlichen Er ziehungspflicht würdigt. (Nach: Dös lübrar^.) "Bitte um kostenlose Zrilschtiftenlieferuug. —DerRedaktion d. Bl. wurde ein Schreiben vorgelegt, worin der »Verein Merkur Kaufmännischer Verein Nürnberg- die Anfrage an einen Verlag richtet, ob er nicht eine ln dessen Verlag erscheinende Zeit schrift -völlig gratis bezw. gegen Erstattung der Portokosten ab geben könnte-. Als Grund für diese Bitte gibt der Verein u, a. an, daß seine -Ausgaben für Bildungszwecke von Jahr zu Jahr wachsen-. *Kapitals>Erhöhu«K« — In das Handelsregister des König lichen Amtsgerichts, Abteilung II 8, in Leipzig ist auf Blatt 11395, betr. die Firma Insel-Verlag, Gesellschaft mit be schränkter Haftung in Leipzig, eingetragen worden: Das Stammkapital ist durch Beschluß der Gesellschafter vom 25. Mai 1908 laut NotariatsprotokolleS von diesem Tage auf 180000^ erhöht worden. » Vom Zeitunglese«. — Im neuesten Heft der -Grenz- boten- (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow) Nr. 24 v. 1l. Juni 1908, richtet sich Herr B. Göring gegen das viele Zeitunglesen. Wenn seine Ausführungen Beachtung finden würden, dürsten nicht nur unsre vortrefflichen Zeitschriften Vorteile davon haben, sondern es könnten auch die vielen guten Bücher, die der deutsche Buchhandel jahraus jahrein auf den Markt bringt, auf besseren Absatz rechnen. Den Ausführungen, die wir hier folgen lassen, ist weiteste Ver breitung zu wünschen. Herr B. Göring schreibt: Ich muß bekennen, daß ich so unmodern bin, höchst ungern Zeitung zu lesen. Und wenn ich bei andern sehe, daß sie mehrere Stunden des Tages mit dieser nervcnangreifenden Arbeit ver bringen, dann empfinde ich ein großes Vergnügen über meine Kraft- und Zeitersparnis. Wenn ich aber merke, wie sehr der Gewohnheitszeitungsleser auch innerlich Schaden leidet, dann em pöre ich mich dagegen! Es ist gar nicht anders möglich, als daß das viele Zeitunglesen schädigend auf den Geist einwirkt. Einmal untergräbt es die klare, selbständige Urteilskraft; man kann häufig genug beobachten, daß bei auftauchenden Fragen erst nach dem Studium der Zeitung ein Urteil abgegeben werden kann. Oder daß sich das Urteil sofort ändert, je nach dem Leit artikel, der erst später erschien. Vor allem andern aber: es stumpft ab. Wie ein Narkotikum reizen die täglichen Nachrichten und Beschreibungen aller denkbaren Morde, Verbrechen und Unglücks fälle momentan die Phantasie auf. Es sind keine schönen Vor stellungen, die sich unwillkürlich auf diesen Anreiz einstellen I Und die tägliche Übung in solchen häßlichen, niedrigen Bildern ist eine sehr ernste Sache im Nerven- und Seelenleben. Unbegreiflich, wie man diesen Schaden am eignen Ich so gering anschlagen kann, heute, wo alle über schlechte Nerven zu klagen haben! Die weitere unausweichliche Folge des geistigen Narkotikums ist die Er schlaffung, die Abstumpfung. Wenn man jeden Tag mindestens Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. 75. Jahrgang. von einem halben Dutzend Mord- und Untaten liest, dann stellt sich kein Grauen mehr ein, sondern das gelangweilte Gefühl »schon wieder einer?-, oder gar das sensationshungrige, das mit einer gewissen Spannung die gräßlichsten Dinge sucht. Nicht bloß in den untern Schichten besteht dieses unästhetischste aller Ge fühle: das Vergnügen am Sensationellen, am Grauenhaften. Man kann sich ja schließlich auch unmöglich Tag für Tag auf Mitleid, auf wirkliches Entsetzen über tägliche Abscheulichkeiten einstellen, worauf übrigens die lebendige Wirklichkeit genügend Anspruch macht. Aber es geht einem doch durch und durch, wenn gebildete Menschen auf die Notiz von Mord und Selbstmord eines gequälten Familienvaters nur noch mit einem — Witz reagieren. Wo bleibt da das Gefühl für den Mitmenschen, das Verständnis der Zeit? Wo bleibt endlich unsre eigne seelische und ästhetische Vertiefung? Natürlich soll keineswegs gesagt sein, daß man überhaupt keine Zeitungen lesen sollte! Das ist nicht zu umgehen. Aber man sollte nur das wirklich Notwendige lesen, das für den Poli tiker selbstverständlich sehr anders aussieht als etwa für die Frauen. Und die vielen Greueltaten und Sensationsprozesse kann man in der Regel unbeschadet völlig überschlagen, sie nützen keinem und schaden allen. Von allen meinen Bekannten lese ich am wenigsten Zeitungen; merkwürdigerweise aber halte ich die allermeisten Zeitschriften. Nämlich die Zeit und Frische, die man durch mäßiges Zeitunglesen erspart, ermöglicht die genußreichere Lektüre von guten, nicht im hetzenden Feuilletonstil geschriebenen Aussätzen über Zeit- und andere Themata. Ich habe eine reine Freude empfunden, als ich kürzlich in einem Briese Goethes die weisen Worte fand: »Hierbey werd' ich veranlaßt, dir etwas Wunderliches — zu vertrauen, daß ich nämlich nach einer strengen schnellen Resolution alles Zeitungslesen abgeschafft habe und mich mit dem begnüge, was mir das gesellige Leben überliefern will. Dieses ist von der größten Wichtigkeit: denn genau besehen ist es, von Privatleuten, noch nur Philisterey, wenn wir demjenigen zu viel Antheil schenken, was uns nichts angeht. Seit den 6 Wochen, daß ich die sämmtlichen Zeitungen liegen lasse, ist es unsäglich, was ich für Zeit gewann und was ich alles wegschaffte!» Der Therlockiömus. — Es ist sicher, so schreibt die -Köln. Ztg -, daß das gegenwärtige Europa an einer Krankheit leidet, die man den -Sherlockismus- nennen kann. Mögen sich die Ärzte darauf einrichten; sie werden, wenn sie die ersten Anzeichen des Übels übersehen haben, später um so mehr zu tun bekommen. Der Sherlockismus ist eins literarische Krankheit, ähnlich der Werther- manie und dem romantischen Byronismus. Er tauchte auf, als das Publikum an der naturalistischen Ware keinen Geschmack mehr, aber einen um so unbändigeren Durst nach Abenteuern empfand, den die gebildeten Literaten ihm vergebens hinwegzudisputicren suchten. Diese standen vor dem Sherlockismus ratlos und die Hände ringend . . . Das Publikum, dies ungehorsame Kind, wollte wieder einmal durchaus anders. Es begeisterte fichjfür den edeln Detektiven Sherlock Holmes, der alles sieht, alles hört, der durch dreißig bunte Westen hindurch bemerkt, ob man an der fünften Rippe einen Leberfleck von drei Millimeter Durchmesser hat, und der stets nur für das Gute seinen nie fehlenden Revolver zieht. Denn, das ist die Hauptsache, in den Sherlock Holmes-Romanen und -Dramen muß sich immer das Laster erbrechen (gehörig!) und die Tugend sich mit Würde an den Tisch setzen. Zugleich kam damit ein ganz anderes Interesse an der Polizei- und Verbrecherwelt auf, als man es noch vor zehn Jahren kannte. Die Taschendiebe und ihre -Fürsten« (!!) veröffentlichten ihre Memoiren, die reißend ab gingen; in New Dork führte ein Theater Einbrecher und -Geld schrankknacker- in voller Tätigkeit war. In lustiger Weise be handelt den Sherlockismus eine kleine Plauderei, die der Pariser -Gaulois- in einer seiner letzten Nummern veröffentlicht. Die letzten Morde in Paris haben diese Welt der Sherlock Holmes- Schwärmer ganz besonders in Aufregung gebracht, und wie das Blatt sagt: -Seit einigen Jahren hat jeder Mann in seinem Herzen einen kleinen Sherlock Holmes schlummern.- Überall im Theater, in den Gesellschaften, auf den Rennplätzen hört man in Paris nur Gespräche wie die folgenden: -Hat Herr Hamard (der Chef der Pariser Sicherheitspolizei) auch wohl das Parkett mit dem Mikroskop untersucht, um die Spuren von Tritten zu finden?- -Ich, ich hätte unbedingt 859