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4914 Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. pv 91, 20. April 1912 und Gediegenheit gewesen und — wer möchte widersprechen? — in seinen besseren Theilen noch jetzt ist, ihm selb st zu bleibender Ehre, dem deutschen Vaterland aber, und dem Ge summ tgebiet wahrer Gelehrsamkeit und Bil dung zu Förderung und Nutzen. Daß nun dieses Palladium dem deutschen Buchhandel nicht entrissen, daß der Unruhe und der unwürdigen Buchmacherei gesteuert, der Buch handel in allen seinen Theilen wiederum mehr in den Dienst der Wissenschaft und der wahren sil) Volksbildung zurückgesührt werde, — dafür zu sorgen, ist eines jeden deut schen Buchhändlers, der Ehre höher achtet als Geldgewinn, heilige Verpflichtung, an welche aber zu erinnern gerade jetzt so recht an der Zeit ist.« Solchen Klagen über Überproduktion und B u ch « m acherei begegnet man auch in der früheren Geschichte des Buchhandels recht häufig. Die aus den Buchhandel bezüg lichen Auszüge aus den Leipziger Meß-Relationen führen in dieser Hinsicht eine bewegliche Sprache und gewähren einen vortrefflichen überblick über die Zustände und Beeinträchtigun gen des deutschen Buchhandels, soweit sie wenigstens auf den Leipziger Messen zum Ausdruck kamen. Diese wertvollen Be richte verfaßte eine aus höheren Regierungsbeamten bestehende Abordnung, die als Commerzien-Deputation bezeichnet wurde. Sie pflegte sich während der Messen mit den bedeutendsten Buchhändlern in Verbindung zu setzen und kam so auf zuver lässige Weise zur Kenntnis alles dessen, was den Buchhandel gerade am meisten interessierte und von Einfluß auf ihn war. Da heißt es z. B.: »Jnmiktelst klagen die älteren starken Buch handlungen über die zunehmende Anzahl der Buchhändler und der gedruckten Schriften« (Ostermesse 1783). — »Auch be trachten die Buchhändler selbst diese (große) Vervielfältigung der Bücher und Schriften als ein Übel für ihren Hanülungs- zweig, weil unter selben sehr viel schlechtes sey, das gleich wohl der mit andern handelnde Buchhändler nicht Alles kennen möge und dadurch sehr viel unverkäufliche Waare mit erhalte« (Oster-Messe 1786). — »Der Buchhandel leidet durch die allzu große Menge herausgekommener Schriften, indem solche die Unterhaltung vollständiger Sortimente schwer und gefährlich macht, weshalb denn auch die Berliner Buchhändler sich ihrer Sortimente zu entschritten suchen und sich blos auf den Debit ihrer Verlagswerke einschränken« (Oster-Messe 1791). Zu Ende des 18. Jahrhunderts waren weite Kreise im deutschen Buchhandel von einer unruhig-erregten Stimmung beherrscht, die, wie vr. Goldsriedrich in seiner «Geschichte des Deutschen Buchhandels« (III, S. 557) urteilt, nicht etwa die Folge von Krieg und Zensur und der traurigen Nachdrucks verhältnisse war, sondern die auf eine ganz andere, sehr natür liche Erscheinung zurllckzufllhren war: auf das nationale Wachs tum, das eine Wandlung in der Organisation des Handels mit sich brachte. Was man vor Augen sah, war eine zunehmende Beschleunigung des Wachstums der Bücher- produktiou und eine noch auffallendere Zunahme derBuchhand- lungcn. Sehr drastisch gab I. F. Hartknoch in Riga seinem Unmut über dicanschwellendeKonkurrenzin einem Brief an Philipp Erasmus Reich vom 4. November 1781 Ausdruck: »Unserer deutschen Buchhandlung stehen schreck liche Revolutionen bevor. Das ist nicht genug, daß jeder Ge lehrte sein Verleger sehn will, und in allen Ecken Buch händler unter den Gelehrten entstehen, man hat auch mit einem Haufen unter seinen Brüdern, theils von Schurken, theils von Dummköpfen zu streiten. Jeder dumme Junge stmdlirt sich, ruinirt seine ältern, besser denkenden OoUaZkn an dem Orte seines Aufenthalts und begräbt sich selbst unter dem Schutt der umgerissenen schönen Seule.« In der Jubilate-Messe 1796 erklärten I. Jac. Stahel sel. Witwe L Sohn in Würzburg, die mit jeder Messe anwachsende Zahl neuer Buchhändler er schwerten das Geschäft so sehr, daß man bald gezwungen sein würde, dreizehn Monate im Jahre zur Abschließung aller Rechnungen zu verwenden. Der Absatz der Bücher vermehre sich nicht im Verhältnis zu den unzähligen neuen Produkten der BUchermacher, und aller Vorteil dehne sich am Ende auf ein ungeheures Lager von Makulatur aus. Sie hätten des halb ihrem Kommissionär Ordre erteilt, nur von 87 (bestimmt namhaft gemachten) Handlungen Beischlüsse anzunehmen; von andern Handlungen gesandte Novitäten würden mit Porto für Hin- und Herfracht belastet werden. Die heutigen Schlagworte Überproduktion und Überfüllung waren also schon Ende des 18. Jahrhun derts gang und gäbe. Man war sich im allgemeinen, sagt vr. Goldfriedrich, sowohl auf gelehrter als auf buchhändle rischer Seite darüber klar, daß die Überproduktion genauer in einer Mißproduktion bestand. Der Buchhandel ist »sehr über setzt«, so daß »viel zu viel Ware nach dem Verhältnis der Abnehmer geliefert wird«, klang es vom Katheder. Die so genannten Sortimenterverlcger, deren Hauptgeschäft im Chan gieren bestand, sagt der Dortmunder Buchhändler Mallinck rodt im Jahre 1800, »verlegen vielfach allen Schofel, der sich nur erhaschen läßt, um changieren zu können, und unter stützen so die Überproduktion, die Wurzel allez buchhändle rischen Übels, während die reinen Verleger der Natur ihres Geschäftes nach in der Wahl der Verlagsartikel notwendig sorgfältiger sein müssen und es deshalb im ganzen auch in der That sind«. Diese Schattenseiten des früheren Tauschsyslems im Buchhandel sind im Zeitalter des Konditionssystems, das jetzt immer mehr einer Ära des Barbezugs Weichen muß, durch die sogenannten »Druckkosten-Verleger« ersetzt worden. Das Wachstum der Bllcherproduktion Ende des 18. Jahr hunderts hat genau, wie es heute die Besorgnis der beteilig ten Kreise erregt, auch auf die Zeitgenossen damals den stärk sten Eindruck gemacht und sie mit wahrer Angst erfüllt. Nach jedem neuen Meßkatalog, heißt es in der Or. Goldfriedrich- schen Geschichte, ertönten die Klagen in verstärkter Tonart; man kann in keinem Journalband die Bllcherbesprechungen durchblättern, ohne immer und immer wieder den Klagen und Seufzern über die Vielschreiberei und den Verfall, der durch sie der deutschen Literatur drohe, zu begegnen. «Die .Vielschreiberei'! Wieviel ist nicht wieder über sie geschrieben worden. Man be mühte sich, ihre Wurzeln auszugraben. Man nannte erstens die Vermehrung des .sogenannten gelehrten Standes'; zwei tens .Deutschlands Lage': die Zerrissenheit Deutschlands in viele einzelne Länder und Ländchcn mit verschiedenen Re gierungsformen, Sitten und Religionen bewirkt starke Kon- kurrenz, Wetteifer der Universitäten, Schulen und Erziehungs anstalten, jede Gegend hat ihre eigenen Rechte und Inter essen, und dabei interessiert man sich doch überall für alles; drittens die Wechselwirkung von Vielschreiberei und Viel leser»« (Goldfriedrich III, S. 249). Wieland sagte 1779: »Nie ist mehr geschrieben und mehr gelesen worden«, und Kant 1798: »Die Leferey ist zum behnahe unentbehrlichen und all gemeinen Bedürfnis geworden.« Nur wurde leider dieses Bedürfnis zum Schaden des Buchhandels nicht durch einen vermehrten Ankauf von Büchern gedeckt, sondern meistens in der Lcfcgesellschaft und der L c s e b i b l i o t h o k (Leihbibliothek). Gelesen wurden in den meisten Gesellschaften vor allen Dingen Zeitungen und Journale. So findet man die ganz aktuelle Frage des Einflusses der periodischen Literatur auf den Absatz des Buches, den Kampf zwischen der Zeitschrift und dem Buch, die »Bücher- krisis «, wie sie der französische Buchhandel schon seit eini gen Jahren kurz und bündig nennt, in der Relation über die Michaelis-Messe 1804 erörtert. Der Buchhandel verschlechtere sich zusehends, heißt es da, durch die mit jedem Jahre wach sende Menge von periodischen Flugschriften und Journalen.