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Nichtamtlicher Teil. PeflblatLer des fünfzehnten Jahrhunderts. Vor einigen Wochen las ich eine Notiz, wonach ein Professor dem Erreger der Pest auf der Spur ist, und diese Notiz genügte, um einem Geschichtskundigen die ganze Ver änderung vor Augen zu führen, die unsere Weltanschauung im letzten Jahrhundert durchgemacht hat. Heute sucht man den Würgengel der Menschheit zu bekämpfen, indem man seinen eigentlichen Sitz und seine Thätigkeit ausfindig zu machen und zu untergraben sucht, früher nahm man die Seuchen als eine unabänderliche Thatsache, als eine Strafe hin, die Gott über das sündhafte Menschengeschlecht von Zeit zu Zeit zu verhängen genötigt war. Es ändert nichts an dieser Thatsache, daß schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Aerzte hin und wieder einige Versuche ihrer Heilkunst gemacht haben; in der großen Masse war fast bis zum Be ginn des neunzehnten Jahrhunderts die Weltanschauung vor wiegend metaphysisch, überirdisch, und erst das genannte Säkulum machte sie naturwissenschaftlich. Diese Thatsache schuf den Naturalismus in der Litteratur — Zola hat den Ausdruck von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ab geleitet, denn aus dieser heraus sollte der Künstler das Stück Wirklichkeit betrachten, das er schildern wollte — sie hat noch einen viel schärferen Einschnitt gemacht in die Behandlung der Wissenschaften. Eine naiv gläubige Vergangenheit brauchte, wie gesagt, andere Heilmittel gegen die Seuchen als unsere Zeit. Als vor dem Jahre 680 in Rom eine große Pest wütete, glaubte man Gott besänftigen zu können, indem man in der Kirche der hl. Eudoxia dem hl. Sebastian einen Altar weihte, und es erhöhte nicht wenig den Ruhm dieses Heiligen, daß die Pest bald darauf wirklich erlosch. Auch in späteren Zeiten, im siebzehnten Jahrhundert noch, bewährte sich laut Zeug nissen die Bitte um seinen Beistand in Pestgefahren. Das Ansehen als Beschützer gegen die Pest teilte übrigens dieser Heilige mit dem hl. Rochus, der ebenfalls in dieser Beziehung hohe Verehrung genoß. Wir können uns freilich von dem Jammer und Elend, das der Ruf »die Pest kommt« in sich schloß, nur schwer eine Vorstellung machen, selbst jetzt nicht, wo das gefürchtete Gespenst, mit knöcherner Hand Einlaß begehrend, an die Thore Kapstadts pocht. Bei der fast gänzlichen Hilflosig keit, mit der man diesem entsetzlichen »großen Sterben« gegen- llberstand, ist es kein Wunder, daß die Menschheit sich an überirdische Mächte um Beistand wandte. Die Furcht vor dem Sensenmann, der nicht selten bis zu einem Drittel der Einwohnerschaft der Städte für sich einforderte, gebar jene grausige Selbstkasteiung zur Beschwichtigung des erzürnten Gottes, die uns unter dem Namen der Geißlerfahrten über liefert ist. Josef Laufs hat sie bekanntlich in seinem letzten Epos in packenden Schilderungen vor Augen geführt und dabei auch die Pest, die in Worms ihren Einzug gehalten hat, und ihren Schrecken gekennzeichnet: Doch was da reif, mag weiter reisen; Die Pest hält alle Welt in Bann Und Bauersmann und Schnitter greifen Nicht Sense mehr und Dengel an. Die Müller wollen nicht mehr schroten, Die Räder wollen nicht mehr gehn, Die Bäcker lassen auf den Schloten Kein Feuer mehr, noch Krüsel sehn. Drum reife, was da will, auf Erden, Was hoffnungsvoll im Lenz gesät, Kein Schnitter ivird gefunden werden, Denn nur die Pest allein — die mäht. Vielleicht verdanken auch die Totentänze ihre Entstehung der Erinnerung an die Pest (der Tod von Basel). Wenigstens glaubt man das von der vielleicht ältesten dieser Dar stellungen, dem heute untergegangenen Totentanz von 1312 oder 1314 am Kloster Klingenthal zu Kleinbasel, wenn auch eine direkte Nachricht darüber fehlt.* **) ) Jedenfalls hat Alfred Rethel in seinem 1848 entstandenen Totentanz eine Seuche zur Grundlage seines Werkes gemacht. Bei ihm sehen wir den in einem Domino steckenden Sensenmann in Begleitung der geißelschwingenden Cholera auf dem Maskenball. Wer in jenen mittelalterlichen Schreckenszeiten nicht mitzog mit den halb irren Scharen, die sich von Stadt zu Stadt wälzten und mit grausigen Thaten Buße predigten, der hatte wohl einen Talisman zu Hause im stillen Kämmerlein in Form eines Peftblattes. Die frühesten dieser Erzeugnisse der graphischen Künste zeigen ein sogenanntes Pest-Kreuz, wie es an vielen Orten plastisch aufgerichtet worden war und das auch die Geißler als Abzeichen auf ihrem Kleide aufgenäht führten. Eine Sammlung von 41 dieser, natürlich im Laufe der Jahrhunderte selten gewordenen Blätter hat soeben der auf dem Gebiete der Reproduktion graphischer Selten heiten rühmlichst bekannte Straßburger Verlagsbuchhändler Paul Heitz herausgegeben"). Auf dem ersten der getreu nach den Originalen auf altertümlichem Papier wiedergege benen Blätter finden wir ein solches Kreuz in stark mar kierter ll'-Form, dem die obere vertikale Balkenfortsetzung fehlt und an dem ein nicht allzu roh ausgeführter Christus hängt. Ueber und unter dem Kreuz sind zwei Gebete, lateinisch und deutsch, worauf sich folgende charakteristische Unterschrift in oberrheinischem Dialekt bezieht, die ich hochdeutsch wiedergeben will: »Wer diese Figur andächtig ansieht, Reue und Leid über seine Sünden erweckt, einen Vorsatz faßt, sein Leben zu bessern, und spricht die zwei Gebete lateinisch oder deutsch und drei Paternoster und drei Ave Maria und hl. Drei einigkeit, der soll in fester Hoffnung sein, daß er und die Menschen desselben Hauses den Tag vor der Pestilenz be hütet sind«. Das Blatt ist ein, wahrscheinlich um 1500 ent standener Holzschnitt und befindet sich im königlichen Kupfer stichkabinett in Berlin. W. L. Schreiber, der verdienstvolle Erforscher der frühe sten Zeit der Holzschneidekunst, hat dem Heitzschen Werke einen einleitenden Text mit auf den Weg gegeben, in dem er die Form des Pestkreuzes wie folgt erklärt: »In Ezechiel 9, 4 lesen wir, daß Gott seinem Engel befahl, die Gerechten, die vor dem drohenden Strafgericht bewahrt bleiben sollten, mit einem Zeichen auf der Stirn zu versehe«: »Zeichen« heißt im Hebräischen »Tau« und die griechischen Uebersetzer be hielten diesen Ausdruck wörtlich bei, so daß bei ihnen der Befehl an den Boten lautet: »mache ein Tau«. Da der griechische Buchstabe dieses Namens die Form eines Kreuzes hat, boten sich der christlichen Symbolik von selbst die An knüpfungspunkte, und das R wurde allgemein als das Zeichen betrachtet, das die Gerechten von den Gottlosen unterschied«. Und in der Alliolischen Ausgabe der Vulgata heißt es als Erläuterung zu Ezechiel 9, 4: »Das Thau ist der letzte Buch stabe des hebräischen Alphabets; es hatte in der ältesten Zeit die Gestalt eines Kreuzes, welches in der Geheimlehre der Aegypter und anderer alten Völker das Sinnbild des Lebens war. Daß das Thau wirklich die Gestalt eines Kreuzes hatte, wurde bestritten, ist aber durch die Alter- *) Vgl. Maßmann, Die Baseler Totentänze. Stuttgart 1847. Seite 66 und folg. **) Pestblätter des fünfzehnten Jahrhunderts, Hrsg, von Paul Heitz, mit einleitendem Text von W. L. Schreiber. 41 Abbildungen, wovon 25 mit der Hand koloriert, in Originalgröße. Straßburg 1901, I. H. Ed. Heitz (Heitz L Mündel), gr 4°. 18 S. Text u. 41 Tafeln, geb. 80.—. (Auflage 100 Exempl.j