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4100 Fertige Bücher. 209, 8. September. Ein Wort aus Kind esmund. (43156.) * „Der Verfasser Ernst Lin gen ist der deutschen Lesewclt bereits rühmlich durch seine preisgekrönte Novelle »Vergib und vergiß« bekannt. Im vorliegenden Roman begrüßen wir ein bedenlcndes schöpferisches Talent, welches sowohl in der Erfindung ansprechender unmittelbar zum Herzen dringender, weil ans dessen unergründlichen Tiefen geschöpfter Stoffe, als in deren poetischer Verwerthung Vortreff liches leistet. Lingen ist die seltene Kunst, »ns sofort für die handelnden Personen seines Romanes zu intercssiren, in hohemMaße zueigen. Dieselbe kann nur bei jenen Schriftstellern zu voller Entfaltung und Wirkung kommen, welche der Charakterisirung ihrer Figuren liebevollste, sorgfältigste Aufmerksamkeit schenken. In der ziemlich schlichten Familiengeschichte, welche das Unglück eines dem äußeren Glanze seine Jugendliebe sträflich opfernden Edelmannes schildert und die uns dessen Kinder im herben Kampfe mit den widrigen Zufällen falscher Lebensstellungen zeigt, treten uns eine Reihe lebenswahr gezeichneter Menschen entgegen, die uns, trotz der cigenthümlichen Sondcrlichkeiten, welche manchen anhaften, stets sympathisch er scheinen. Versteht doch Lingen als echter, von der ursprünglichen Güte der Menschen über zeugter Idealist bei allen Trägern der Hand lung des Romans, irgend eine gute Charakter seite hervor zu heben, die in schwerer Prüfungs stunde durchleuchtet und die betreffende Person verklärt und verschönt. Als vorzüglich gelungen muß die Her beiführung der Lösung des Romans bezeichnet werden. Die Kinder aus der ersten Ehe des Majoratsherrn von Taura, welche er, gleich deren ihm nicht ebenbürtigen Mutter verließ, um nach Glanz und Größe zu streben, werden von den init dem Grafen, der sich für unver mählt ausgab, ob dieser ersten Ehe und deren unglücklichen Folgen für ihr Kind, verfeindeten Schwiegereltern ausgesucht, um als Werkzeuge gegen den Büßenden zu dienen. Der Sohn, der sich aus niedriger Stellung zum hohen ocsterreichischenOsfizier emporgeschwungen, trägt dem Grafen, der ihn, seine Mutter und seine Schwester Dora, verstoßen, glühenden Haß ent gegen; aber ein einziges Wort der Tochter, welche ihres Vaters Reue und freudloses Alter sofort erkannt, verwehrt alle Rachepläne und Haßgedanken des Sohnes, — ja dies einfache schlichte Wort vereinigt die sich feindlich gegen- überstchenden Familienglieder, indem es frühere Abneigung in milde Trauer und in versöhn liches Vergeben, wie mit einem Zauberschlage wandelt. Die vereinsamten alten Geschwister Rekamp, die äußerlich so schroffen und innerlich so edlen bürgerlichen Verwandten und Erzieher der beiden unglücklichen Sprossen der ersten Ehe des spätern Majoratsherren, sind voll endet charakterisirt. Besonders originell ist die älteste, ihre Geschwister sämmtlich über lebende, strenge Sybille gezeichnet. Man traut ihr, die ihre geistige Ueberlegenheit gegen den Bruder, die Schwester und die jungen Ver wandten, so schroff und unabweisbar bei jedem Anlasse geltend zu machen versteht, kaum ein Herz zu; man glaubt, Sybille habe nie für eine Menschenseele empfunden. Um so rührender und ergreifender wirkt dann die Lösung jenes Räthsels, welches die ihr Ende nahe fühlende Gräfin der Großnichte, welche sie bisher verkannte, ablegt. Die Er zählung von der Aussuchung der sterbenden Schwester in den Schrecknissen des Krieges, die Schilderung des Zustandes, in welchem sie die Leiche im verwüsteten Dorfwirthshause an der hochgeschwollcnen Werra, und das Kind jener Armen fand, wir ihr bei diesem Elend das Herz für immer erstarrt sei, wird Niemand ohne tiefe Rührung zn lesen vermögen. Dabei verfährt Lingen in der Erzählung und Be schreibung derartiger hoch dramatischer Si tuationen mit überraschender Schlichtheit und Einfachheit, keine weitschweifige und breit spurige Ausschmückung dieser und ähnlicher Episoden lenkt die Aufmerksamkeit von dem sich rasch entwickelnden Gange der Handlung ab, welche oftmals den Schauplatz wechselnd, stets von neuem zu spannen und zu seffeln weiß. Ein ähnliches Cnbinclsstückchen schlichter Erzählungskunst ist der dem Grasen Bcrgau von dem alten Sacristan erstattete Be richt, der so wichtig in die Lösung unseres Ro mans eingreift. Auch Paul s Schicksale in Antwerpen, nach seiner freilich ein wenig romantischen und un- motivirten Flucht aus dein Erziehungs-Insti tute, sind vorzüglich geschildert, wie überhaupt die Charakterentwickelnng dieses Jünglings von treuester und liebevollster Forschung des Dichters zeigt, die sich in das Denken, An schauen und Fühlen seiner Helden tief versenkt, und welche uns alle ihre Regungen und Em pfindungen so klar und offen darzulegen weiß, daß uns dieselben fast sofort und unwillkürlich anziehen müssen. Madame Depäe, Paul's mütterliche Freundin, die zur Lumpensammlerin hcrabgekommene Zofe Madeleine, der trotz seiner Rohheit doch den Verlust der Gattin tief em pfindende Arbeiter Willem, der Packmeister Dreesen, Hugo Landen, der egoistische Kausmann Depäe, Velours und seine Gattin, und vor Allem die neidische, boshafte Fürstin Telgern, sowie der ritterliche General von Pescheck und noch viele andere mehr oder minder in die Erzählung verflochtene Personen, — sie alle sind mit rühmenswerther Sicherheit entworfen und treten stets an richtiger Stelle auf. Da neben den Vorzügen der spannenden Handlung, die durch überaus geschickten Aus bau noch gesteigert wird, und der trefflichen Charakteristik auch dem formschönen, stili stisch werthvollen Dialog, der trefflichen Schilderung des politischen Hintergrundes und der mannigfachen Oertlichkeitcn, in welchen sich die Geschichte abwickelt, gebührende Sorgsalt gewidmet wurde, so muß sich der Gesammt- eindruck der Erzählung zu einem überaus ein heitlichen und ebenso günstigen als nachhaltigen gestalten. Der Preis des Lingen'schen Romans, welchen die vorthcilhaft bekannte Verlagshand lung überaus geschmackvoll ausstattete, ist mit 3 .til 60 ^ für den umsangreichen Band äußerst mäßig bemessen; er dürste zu dessen Beliebtheit und raschester Verbreitung noch ganz wesentlich beitragen. Schließlich sei noch hervorgehoben, daß trotz der tiefen Religiosität, welche sich in dem trefflichen Werke Ernst Lin- gen's offenbart, sich dasselbe von jeder, auch der leisesten Tendenzmachcrei ferne hält; poli tische und confessionclle Fragen werden nahe gestreift, aber niemals polemisch behandelt. Endlich kann der Lingen'sche Roman wegen seines moralischen Gehaltes, sowie wegen der feinfühligen Charakterisirung und der prächtigen anregenden Schreibweise des Verfassers auch getrost jugendlichen Lesern und Leserinnen an vertraut werden, denn sic können aus demselben manche fruchtbringende, weil in trefflicher unter haltender Form angeregt, nur um so nachhal tiger wirkende Lehre schöpfen, die Herz und Gemüth in gleichem Maße erquicken dürste." (Wochen-Rundschau s. drani. Kunst, Musik und Litteratur. Frankfurt a/M.) * Das Buch steht s, cond. zn Diensten. 3 60 ord., 2 ^ 40 ^ netto. Köln, 1. September 1884. I. P. Bachem. Die Nation. s43157.) Wochenschrift f. Politik, Volkswirth- schaft und Litteratur. Herausgegeben von vr. Theod. Barth. Abonnementspreis 3U ^ pro Quartal. — Wöchentlich 2 Bogen 4°. Jnsertionspreis 40 pro 3gespaltene Petitzeile. Inhalt der Nr. 49 vom 6. Septbr. 1884: Politische Wochenübersicht. Die Gefahr der Verstaatlichung des Versiche rungswesens. Von Th. Barth, M. d. R. Zur Entwicklungsgeschichte der Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von Prof, von Holst. Die Besteuerung des mobilen Kapitals. Von Alexander Meyer, M. d. R. Der englische Feldzug im Sudan. Von Major a. D. H. Hinze. Aus unserem Citatenschatz: Frsdöric Bastiat: Protektion, Kommunismus und Ausfuhrprämien. Camillo Cavour: Schutzzoll und Staats sozialismus. Adam Smith: Kolonialpolitisches aus alter Zeit. Macaulay: Ueber die Grenzen der Staats gewalt. Zeitschriften: „Usvus äss äsnx dlonckss": Die Lage des französischen Weinbaus im Jahre 1884. Von P. N. Bücher-Bejprechungen: Zur Statistik der Juden in Preußen von 1816 bis 1880 von Or. S. Neumann. Bespr. von dl. — Das Aktiengesetz vom 18. Juli 1884. Kommentar von Or. Alexander Meyer. — 4,'Lnnua.irs cls I'öoo- nomis politigns st cks la statistigus von Maurice Block. — Otto Hübner's Geographisch - statistische Tabellen aller Länder der Erde. — Angra Pequena und Groß-Nama-Land von Johannes Olpp. (Der Abdruck sämmtlicher Artikel ist Zei tungen und Zeitschriften gestattet, jedoch nur mit genauer Angabe der Quelle.) Die Expedition der „Nation" (Herm. I. Mcidinger) in Berlin. Bereits ausgegeben! s43158.) Dauern-Kalender für 1885. gr. 8°. Preis 80 ^ ord. Leichter Absatz — größter Nutzen. Verlag von Alfred Silbermann in Essen a/d. Ruhr.