Volltext Seite (XML)
1058 ««rl-»bl-u 5 d. »tschn. «u4h»»b-l. Fertige Bacher. 20, 25. Januar 1912. Der Provinzonkel. Eine lustige Geschichte in Reimen. Wer kennt ihn nicht den wackeren Bürger von außerhalb,den seine Geschäfte nach Berlin verschlagen, der sich für einige Tage aus dem Bannkreis den Argusaugen seiner miß trauischen Gattin entfernt und sich mit Wonne in den Strudel der täglichen und besonders der nächtlichen Vergnügungen der Reichshauptstadt stürzt! Der drolligste Vertreter dieses Typs „Provinzonkel" ist aber zweifellos ein biederer Sachse, der Kaffeehändler Friedrich Meyer aus Meißen, dessen Heldentaten, Fahrten und Abenteuer im nächtlichen Berlin soeben einen spottenden Sänger von köstlicher Aus gelassenheit und sicherem Blick für dasKomische gefunden haben. Wir erfahren zunächst, daß Meyer daheim von seiner besseren Hälfte sehr kurz gehalten wird und niemals Gelegenheit hat, „sich zu erheitern und auszuleben"; denn wenn die andern, seine Freunde in der Stammkneipe „ . . . bei stark gepfefferten Zoten — be haglich wieherten und langsam verrohten, „— dann fehlte Meyer. Ihm war es „verboten — von Emma, seinem geliebten „Weib, — zu suchen solch fragwürdigen „Zeitvertreib. —" Meyer ist kein gewöhnlicher, sondern ein sehr rühriger „Kaffeefritze", und deshalb „ . . . erstrebt er mit kühnem Sinn — „eine Geschäftsverbindung in Berlin. —" Und es gelingt ihm endlich, in Berlin einen Agenten zu finden, der bereit ist, seine dortigen Interessen zu hegen. Natürlich ist es notwendig, alles Nähere gründlich zu be sprechen und: „ . . . so entschließt sich denn Meyer „nach einigem Bedenken — seine Schritte „nach Berlin zu lenken — und zwar, was „in diesem Falle wohl klar, — ohne Emma „und der Kinderschar. —" Mit vielen Ermahnungen und Warnungen seitens seiner Gattin ausgerüstet, verläßt Meyer die heimatlichen Penaten. Die ganze Familie geleitet ihn zum Bahnhof und er nimmt rührenden Abschied von den Seinen. In den nun folgenden Berliner Bildern treffen wir Meyer an den beliebtesten abend lichen und nächtlichen Vergnügungsstätten in den verschiedensten merkwürdigen Situ ationen an, stets unter der Führung seines neuen Geschäftsfreundes, der die gute Ge legenheit, ein bißchen über die Stränge zu schlagen, mit bemerkenswerter Ausdauer wahrnimmt. Zunächst wird unser Held nach den Winzer stuben geschleift. Trefflich ist die kurze Schilderung dieser bekannten Stätte angeb licher Berliner Gemütlichkeit mit ihrem etwas gewaltsam konstruierten Rheinischen Anstrich; „ . . . Kennst du das Haus, wo völk'sche „Eigenart — aus jedem Winkel auf den „Fremden starrt wo in des Rauches „finstrem Qualm der Kellner hastet — „manch junger Esel mühsam seinen Weg „ertastet, — wo an den Tischen sitzt der „Schreier wilde Brut, — wo alles schwitzt in „wahrerHöllenglut, — wo du mit Lust — „kaust Rinderbrust — Kotelett und Kohl? „— Kennst du es wohl? — Dahin, dahin „— laß uns mit Patzke jetzt und Meyer „ziehn! —" Unsere beiden Freunde finden an einem Tische Platz, an dem bereits vier Lebejünglinge (etwa 20 jährig, aber schon Frauenkenner) mit einem niedlichen Geschäftsfräulein sitzen. Man beschließt sofort,die neuenAnkömmlinge gehörig zu verkohlen. Die jungen Herren, Konfektionslehrlinge, geben sich, man erfasse die Freiheit — als Leutnants aus: „ . . . Und daß Sie es gleich wissen, „nämlich wir viere — sind sämtlich Ulanen- „Offiziere! — Sie brauchen vor Schreck „nicht gleich zu erbleichen, — wir be handeln die Bürger als unseresgleichen! Wenn wir in Zivil sind und niemand „uns kennt, — vergessen wir unser Leut- „nantspatent. — Wir wissen bei abge- ,.schnallten Säbeln leutselig mit dem „Pöbel zu pöbeln— Und in diesem Sinn „begrüßen wir Sie — im Namen der preu ßischen Monarchie! —" Patzke, der Berliner, durchschaut den Schwindel natürlich gleich; „ . . . doch äußerlich tat er sehr entzückt „und war nach der Kleinen ganz verrückt „— Er streichelte ihre roten Pfötchen, — „erzählt ihr pikante Anekdötchen, — tat „heimlich zwei Mark in ihr Geldbehältnis — „und flüsterte etwas von Dauerverhält- „nis! —" Zwerchfellerschütternd wird nun berichtet, wie die brausende Ausgelassenheit der Gäste des Lokals von Minute zu Minute zunimmt und schließlich bei allgemeiner Trunkenheit in einem mit Begeisterung gegröhlten patri otischen Gesang den wüstesten Höhepunkt erreicht: „ . . . Doch sieh! — Jetzt greift ein „Massenwahn — auf einmal alle Gemüter „an. — Selbst Leute, die bisher friedlich „gesessen — die brüllten plötzlich wie be sessen — sie wollten unbedingt an den „Rhein — und zwar um dort be- Rheine liegen, — ganz wunschgemäß „als Leichen, — als treue deutsche Eichen." Natürlich dauert es nun nicht mehr lange, und der „große Krach" ist da, auch am Tisch unserer Freunde. Die Jünglinge werden immer dreister und frecher, und so sieht sich Patzke, um nicht selbst in eine Keilerei ver wickelt zu werden, veranlaßt die Hilfe eines athletenhaften Studenten zu erbitten. „ Dort hinten, ganz dicht bei der „Kapelle, — saß singend ein ungeschlachter „Geselle, dem waren Gesicht und Schädel „zerrissen — von ungezählten tiefen „Schmissen. — Im Kreise der brüllenden „Kumpane — wie ein König thronte der „blonde Germane. —" An diesen wendet sich Patzke und bittet um Bestrafung der Pseudoleutnants Und der blonde Riese erklärt sich bereit, die gegen die „braven Familienväter" verübten Uber- griffe der Jünglinge zu rächen. Er schleppt sie kurz entschlossen „ Nach dem weißgekachelten Kabi nette, — nach der Ehrensachen-Verhand- „lungsstätte —" und hält über sie ein strenges Gericht ab, dessen Klatschen bis draußen hörbar ist. Dann fliegen die Jünglinge hinaus; Patzke aber nimmt sich des verwaisten kleinenMädchens an: „ Er legt seinen Arm um ihre Hüfte, „womit er Meyer direkt verblüffte — doch „als Meyer drauf versuchte desgleichen — „ließ sich das Fräulein nicht erweichen - „mann — und kutschiere niemals ein „Dreigespann. —" Nun drängt Patzke zum eiligen Aufbruch, worin sich Meyer widerstrebend fügt. Er wird in eine Droschke gesetzt und in sein Hotel geschickt, während Patzke seine Schutzbefohlene nach Hause geleitet. Der nächste Abend wird dem Kabarett gewidmet, wo Patzke schon durch Zwischen rufe über die uralten Vortragsnummern un liebsames Aufsehen erregt, während Meyer, weinbeseligt, einer Sängerin sich nähert, worauf beide sich schleunigst drücken müssen. Unser Dichter beschreibt diese Annäherung und Abfuhr: Man sah ihn am Künstlertisch „gestikulieren — und mit der Sängerin „konvertieren — Da Plötzlich wurde das „Fräulein bleich — gab ihm einen kräf tigen Backenstreich, — wollte dann schein bar in Ohnmacht fallen, — besann sich „aber und schrie durch die Hallen: — „Kollegen, treibt diesen Mann von hinnen! „Der Kerl ist wohl ganz von Sinnen!? — „Man muß ihm 'ne Gummizelle mieten! — „Er macht mir ein schamloses Aner- „bieten — Ruft meinen Freund, daß er „ihn verhau; — ich bin eine ehrbare, an- „ständige Frau! —" Nun geht es in ein bekanntes Nachtlokal, wo Meyer ausgerechnet^vom ältesten Semester der anwesenden Damen gekapert wird. Alles geht gut und Anna beginnt mit Meyer. „ im Flüsterton — eine ausgedehnte „Konversation. — Aber einiges hat Patzke „dennoch verstanden —, wenn sich dem „Munde der Holden entwanden — kernige „Schlagworte, wie.berappen' Kavalier „sein ,und wenigstens blauer Lappen', — „aber Meyer begriff auf einmal schwer, „— lieh der Dicken nur halbes Gehör — „und erwähnte schließlich fcherzhafterweise „-die ihm bekannten heimischenPreise.—" Da merken die Damen, daß es mit der Freigebigkeit ihrer Kavaliere nicht weit her ist und verlassen in furchtbarer Entrüstung den Tisch. Als nun Meyer seinerseits un gemütlich wird, gibt es einen großen Radau und die beiden Freunde sehen sich an die Luft befördert. Den Abschluß der Berliner Erlebnisse bildet der Sonnabend-Abend in einem Berliner Luxushotel. Zunächst die Gäste: „ Und es nahen Levys vom Bay rischen Platz, und Dr. Fritz Markus mit „seinem Schatz — Familie Cohn, er, die „Töchter und sie — und der Börsenmann „Goldstein-Charlottenburg-Knie — und „es nahten auch der Großkaufmann Hesse „mit seiner juwelenbeladenen Maitresse „ferner die Schauspielerin Fritzi Stollen „ mit dem großen Mund und den kleinen „Rollen —Schmul Käferstein mit der Nas, „der enormen — man sah auch einige „Uniformen, — man sah auch verdächtige „Gestalten, die bei den Eingeweihten als „Schieber galten, kurz, Herren der ver schiedensten Berufe — und Damen jeder „Altersstufe." Meyer macht nun auch die Bekanntschaft einer „Gräfin", die er nach Hause begleiten darf und von der er gehörig gerupft wird, wie aus einem Brief aus Meißen an Patzke und dessen Antworttelegramm hervorgeht. Dies in kurzen Zügen der Inhalt des lustigen Buches von Hanns Dreist, das ebenso witzig von Max Brusch illustriert ist. Es ist ein Buch, das den schlimmsten Hy pochonder zum Lachen bringt, das den Kenner Berlins durch die wohlgelungene Milieu schilderung ebenso entzückt, wie die geschil derten Erlebnisse Meyers jeden Leser amü sieren werden. Dies famose Büchlein ist wirklich berufen, das zu werden, was so oft grundlos behauptet wird und was ja jeder Verleger wünscht: ein Schlager!