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^ 164, 17. Juli 1908. Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. 7751 Nichtamtlicher Teil. des neuen Gesetzes der Wegfall der Freiexemplare nicht herzu leiten sei. Die Freiexemplare seien weder eine Beschränkung der Freiheit der Presse« (§1), noch eine »Besteuerung der Presse« <8 29). Er sprach sich demnach dafür aus, die ausdrückliche Auf hebung derselben im Gesetz vorzusehen. Eine Beschränkung der Freiheit der Presse sind die Pflichtexemplare oder — wie man sie wohl zur größeren Präzision der unentgeltlichen Lieferung zu nennen beliebt — die Freiexemplare freilich nicht, aber zweifel los eine Besteuerung der »Presse«, da Presse und »Buchhandel« korrelative Begriffe sind und letzterer die Freiexemplare als eine sehr unangenehme Steuer empfindet. Bei der Unberechenbar keit der Dinge jedoch hatte die Meinung Biedermanns etwas für sich, und der Abgeordnete vr. Ed. Brockhaus handelte im Interesse des Buchhandels, daß er sich mit der einfachen Streichung des Vorbehalts nicht begnügte, sondern den Antrag auf ausdrück liche Aufhebung im Plenum einbrachte. Der Reichstag hat den Brockhausschen Antrag abgewvrfen, er hat auch den Onckenschen Antrag abgelehnt, der wenigstens das für sich hatte, daß er die Kompetenz des Reiches für den Gegenstand wahrte und der partikularen Willkür ein Ende machte, im übrigen die Freiexemplare im Prinzip durchaus billigte und nur »Prachtwerke mit Abbildungen« von der Verpflichtung dazu ausgeschlossen haben wollte. Dagegen hat der Reichstag den An trag des Abgeordneten v. Schulte auf Wiederherstellung des Regierungsparagraphen angenommen; er hat damit auf seine Kompetenz in dieser Angelegenheit für die Zukunft verzichtet und gleichzeitig ein lautes Zeugnis für seine Billigung der Frei exemplare abgelegt. Die praktische Folge dieses Beschlusses, sofern das Gesetz nach der dritten Lesung zustande kommt, wird sein, daß die Pflicht exemplare überall bestehen bleiben, wo sie noch bestehen, und daß ihrer Wiedereinführung in den Paar kleinen Staaten, wo sie, wie in dem buchhändlerisch wichtigen Königreich Sachsen, ab geschafft sind, von Reichs wegen nichts im Wege steht. In Preußen werden daher nach wie vor ausnahmslos zwei Freiexemplare erhoben werden von jedem Verleger, der in Preußen seinen Geschäftssitz hat, und von jedem »Ausländer«, der in Preußen drucken läßt — was seitens der deutschen Ausländer sehr oft vorkommt. Nach der preußischen Ausführungsverordnung vom 25. Februar 1840 werden die Freiexemplare aber nicht nur von unveränderten neuen Auflagen (Stereotypabdrucke nicht aus genommen) erhoben, sondern auch »wenn eine inländische Buch handlung mehrere oder sämtliche noch vorrätige Exemplare eines Werkes von einer inländischen oder ausländischen Buchhand lung oder von einem inländischen oder ausländischen Selbst verleger käuflich erwirbt«. Je nach öfterem Verlagswechsel können hiernach von einer und der nämlichen Auflage eines und des nämlichen Werkes vier, sechs und mehr Freiexemplare den öffent lichen Bibliotheken zufallen. i, Der Beschluß des Reichstages wird nicht dazu beitragen, die Verstimmung gegen denselben zu heben, welche in buchhänd lerischen Kreisen seit dem Jahre 1870, wo das Nachdrucksgesetz zur Beratung kam, um sich gegriffen hat. Verstimmt ist man in diesen Kreisen über die wenig sachkundige und dabei oft kränkende Art, wie buchhändlerische Angelegenheiten im Parlament be handelt werden. Wir erinnern an jene 1870 er Rede des Ab geordneten Braun-Wiesbaden; diese Rede war eine Blüte von Kritiklosigkeit, man kann sagen, in jedem Satze, und geradezu ver letzend für eine Geschäftsgenossenschaft wie die der deutschen Buchhändler; in den die allgemeinen literarischen Interessen betreffenden Stellen aber rief sie durch ihr kühnes Aburteilen einen wahren Entrüstungssturm aller Sachverständigenkreise, der angesehensten Organe und selbst von Universitäten hervor. Und wie war das Verhalten des Reichstages dabei gewesen? Er hatte die Rede Brauns mit den besten parlamentarischen Ehren ausgezeichnet; nach dem stenographischen Berichte gezählt, erntete Braun an Akklamationen: achtmal »Heiterkeit«, zweimal »Sehr wahr«, einmal »Sehr richtig«, einmal »Hört« und am Schlüsse ein lebhaftes »Bravo«. Die schwächliche Korrektur, die nach träglich zu Ehren des Buchhandels versucht wurde, hat jenen Vor gang nicht vergessen machen können. Das Hohe Haus wird es daher mit Nachsicht zu behandeln wissen, wenn ihm aus unseren Kreisen in Fachangelegenheiten kein Überfluß von Vertrauen entgegengebracht wird. Der Mangel an Autoritätsglauben in einem einzelnen Berufszweige fällt gegenwärtig auch um so weniger ins Gewicht, als es, seitdem die wirtschaftlichen Fragen im Schwange sind, in vielen anderen Handels- und Gewerbszweigen nicht viel erbaulicher aussieht. Blätter von der unverdächtigsten Farbe, wie die SchlesischeZeitung, der Hamburgische Korrespondent u. a., geben dieser Verdrossenheit von ihrem Standpunkte Ausdruck. Mit der Lehre vom »beschränkten Untertanenverstande« ist es aber, wie die Zittauer in ihrer Petition über die Gewerbegesetz-Novelle einzelnen parlamentarischen Größen gegenüber meinen, hier nicht immer getan. Es handelt sich nicht um Doktrinen, die nur von der Höhe der Reichstagstribüne zu übersehen sind, es handelt sich um Einwendungen sehr greifbarer, auch für den gemeinen Menschenverstand verständlicher Art: um die Einwendung nämlich, den tatsächlichen Verhältnissen größere Aufmerksamkeit und ernsteres Eindringen widmen zu wollen und bei Behandlung gewisser Maßnahmen nicht sowohl die Verhältnisse im Auslande als die Verhältnisse auf deutschem Grund und Boden in Betracht zu ziehen. Wir knüpfen an einen ähnlichen Vorwurf an, wenn wir uns im nachstehenden erlauben, die vom Reichstage mit Akkla mationen begrüßte Motivierung der Freiexemplare unserer Kritik zu unterziehen. Die beiden Redner gegen den Brockhausschen Antrag waren der Historiker Prof. W. Oncken von der Universität Gießen und der Professor der Rechte von Schulte von der Uni versität Bonn. Wir schätzen beide Männer hoch; allein bei der Art ihrer Verteidigung der Freiexemplare und bei den von ihnen vorgebrachten Gründen können wir uns unmöglich beruhigen. Zu den im Reichstage gefallenen geschichtlichen Andeutungen bemerken wir vorerst, daß die Pflichtexemplare ihren Ursprung haben in der nachträglichen Zensur der älteren Zeiten und im ehemaligen Privilegienwesen, und daß sie mit diesen ihre ur sprüngliche Erklärung und Begründung verloren haben. Die Präventivzensur (vorgängige Zensur) bedurfte dieselbe nicht mehr, wofür wir uns auf das Preußische Zensuredikt vom 18. Ok tober 1819 berufen, welches sie abschaffte. Im Jahre 1825 wurden sie im Berordnungswege aus anderen Gründen wiederhergestellt. Als die Zensur in Preußen im Jahre 1848 abgeschafft wurde, fielen die Pflichtexemplare von neuem weg, wurden jedoch bald abermals eingeführt, damals wie im Jahre1825, wie man annehmen kann, aus bloßen Ersparnisrücksichten. Die Abschaffung der selben, hieß es, sei für die Verleger nicht von besonderem Nutzen, für die wissenschaftlichen Institute aber von empfindlichem Nach teile. Dem Reichstage von 1874 war es Vorbehalten, diese schlichte Motivierung durch eine schwungvollere zu ersetzen, indem er durch den Mund seiner beiden Fürsprecher anerkannte, daß die Bei behaltung der Gratisexemplare an den Staat Ehrensache der der deutschen Nation sei. Beide Redner legten gleichmäßig Nachdruck auf den Ehren punkt. Der Abgeordnete Oncken verwies darauf, daß Pflichtexem plare in Österreich, Frankreich und England erhoben würden, in England sogar fünf; in keinem dieser Länder sei eine Klage dagegen laut geworden, und in jedem dieser Länder werde man »vermutlich sehr erstaunt« den Kopf schütteln, wenn man von dem Anlaß der Verhandlung im Deutschen Reichstage höre. Halten wir uns einmal an diese Worte. In Österreich, Frank reich und England bestehen nicht nur Pflichtexemplare, sondern in Österreich, jüngst erst von neuem beschlossen, der Zeitungs stempel, in England ebenfalls der Zeitungsstempel als Äquivalent für das Porto, und in Frankreich eine enorme Extrabesteuerung des Papiers für Journale. In allen drei Ländern besteht außer- 1010»