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3S84 Nichtamtlicher Leil- ^ 90, 20. April 1966. Die Jugendeindrücke, die Daniel in Spanien empfangen hat, haben auch auf seine Kunst entscheidenden Ein fluß gehabt: sie haben ihn sehen gelehrt und vor allem seinen empfänglichen Sinn für die Vorgänge des täg lichen Lebens in hohem Maße entwickelt. In Madrid, wo sich das ganze öffentliche Leben auf der Straße abspielt, wo in jener Zeit Umwälzungen, Revolutionen, militärische Operationen, Festzüge, pompöse Begräbnisse einander in buntem Gewirr auf dem Fuß folgten, hat er gelernt, das Gesehene mit dem Griffel blitz schnell festzuhalten, und diese Eigenschaft hat ihm in Paris schnell die Tore von Zeitschriften-Redaktionen geöffnet, deren Hauptverdienst die Illustrierung der wichtigen Tagesereignisse war. Der große Maler Delacroix hat diese Fähigkeit des bildenden Künstlers als wichtigste Forde rung aufgestellt und folgendermaßen resümiert: »Wenn jemand nicht imstande ist die Skizze eines Menschen in der Zeitspanne zu entwerfen, die dieser braucht, um vom 4. Stockwerk auf die Erde zu fallen, so wird er nie fähig sein, etwas Großes zu leisten«. — Vierge ist dies sein ganzes Leben hindurch geglückt, und dazu noch mit seinen beiden Händen, wie wir sehen werden. Auch der Zufall der Weltgeschichte war Daniel günstig. Ein Jahr nach der Übersiedelung der Familie Urrabieta nach Paris brach der deutsch-französische Krieg aus, und Daniel hatte nur zu viel Gelegenheit, sein Auge und seinen Griffel im Dienst der illustrierten Bericht erstattung zu üben, die in einer unruhigen, blutigen Periode der Zeitgeschichte seines Heimatlandes erworbenen Fähigkeiten zu erweitern und zu verwerten. Am 17. September 1870 erschien im »Llcmäs illustrer seine erste Skizze, »Spahis, aus Paris ausrückend«, die er damals mit seinem väterlichen Namen Daniel Urrabieta zeichnete. In der Folge aber wollte er sich von seinem Vater unter scheiden und nannte sich nach seiner Mutter, Juana Vierge de la Vega, deren Großvater aus Lyon stammte, Daniel Vierge, welcher Name chm später allein geblieben ist. Skizze über Skizze folgte nun aus Vierges Hand, der in jener außerordentlichen, bewegten Zeit seine künstlerische Selbst ständigkeit fand; sie machen die Jahrgänge des »lllonäs illustrer aus jener Zeit zu wertvollen, noch heute geschätzten zeitgeschichtlichen Dokumenten, und der Künstler, der sowohl während der langen Zeit der Belagerung, als auch während der kurzen, aber furchtbarem Episode der Kommune überall mit dabei war, weder Anstrengungen noch Gefahr scheute, erhielt nun die Feuertaufe als Franzose. Er ist seinem zweiten Vaterland bis zu seinem Ende treu geblieben. Aber auch Vierges Talent hat hierbei seine Sanktion gefunden. Wie ihn einer seiner Gönner, der beliebte Schriftsteller Charles Driarte, der in dem jungen Spanier bereits den zukünftigen Illustrator des Don Quijote und des Gil Blas sah, den Weg zum ülonäs illuströ, damals einem der ersten illustrierten Blätter Frankreichs, führte, so half ihm ein andrer Freund, der Zeichner L. Flameng, durch Vermittlung von Paul Meurice gleichfalls einen großen Schritt weiter, indem er ihn mit Victor Hugo bekannt machte und ihm damit das große Arbeitsfeld der Buch illustration eröffnete, auf dem er jahrzehntelang eine her vorragende, führende Rolle spielen sollte. Seine Vorläufer auf diesem Gebiete fallen in die Jahre 1874 bis 1876, wo er Arms Girons köstliche Legende »^.u ps^s äs klarmstb« und ein Werk seines Freundes Miarte »Losvisst Lsrrögovins», einen Band Reiseerinnerungen aus der Zeit des bosnischen Aufstandes, illustrierte und dabei eine bemerkenswerte Ge wandtheit und ethnographische Sicherheit entwickelte, die den Eindruck machen, als ob er diese Länder selbst durch wandert hätte. Victor Hugo hatte sofort erkannt, das das feurige, ritter liche Talent des heißblütigen Spaniers gerade dazu angetan wäre, seinen phantasiereichen geschichtlichen Romanen den bildlichen Ausdruck zu geben, der sie jetzt erst dem Ver ständnis seiner großen Gemeinde wirklich nahe bringen sollte. Und so sehen wir in jener ersten, fruchtbaren Schaffens periode von Daniels junger Meisterhand illustrierte Aus gaben entstehen von Victor Hugos »^.vvss tsrribls« (1874, in Gemeinschaft mit Flameng) — wer war besser imstande, das Schreckensjahr zu illustrieren, als gerade Vierge, der es doppelt durchlebt hat, als Belagerter und mit dem Zeichen stift in der Hand! —, ll'Lowms qui rit, Uss trsvsillsnrs äs l» rosr und Uistoirs ä'nn eriws (1878). Von Victor Hugo zu Michelet ist kein allzu großer Schritt. War der eine der Poet der Weltgeschichte, auch in seinen Prosawerken, so war Michelet der Chronist der fran zösischen Geschichte, jedoch nicht ohne seinen großen Geschichts werken den Stempel der Poesie aufgedrückt zu haben, was de Marthold von ihm sagen läßt: »Michelet, das ist Shakespeare als Historiker«. Und die illustrative Tätigkeit, die Vierge nun mit Michelet verbindet, ist umfangreich. Die fünf Bände der »Uistoirs äs Uraves« (1879—1885) und die vier Bände der »Uistoirs äs la rsvolntiov« (1876 —1879) haben durch ihn eine Auslegung, Ergänzung, Verherr lichung erfahren, wie sie ein Schriftsteller schöner, voll kommener für sein Werk nicht erdenken könnte. Vierge hat damit neue Werke geschaffen, die Michelets Genie erst völlig enthüllt haben. Namentlich die mannigfaltigen Szenen der mittelalterlichen Geschichte hat er zu beleben, aufzuerwecken verstanden: Völkerwanderung, Hunnengreuel, die Herrlichkeit Karls des Großen, die Taten Rolands von Roncesval, Kreuzzüge, Bischofskonzile, Papstregiment, die Schrecken der Religionskriege und der Inquisition, Exkommunikationen, Marterszenen, Hexenverbrennungen, dann wieder Ritterfeste, Volksumzüge usw., später die Schreckensszenen von 1789, Sturm der Bastille, Herrschaft der Guillotine und das ganze kaleidoskopische Bild des durch Haß und Verführung, Frei heitsdrang und Rachegefühl verblendeten, irregeleiteten, blut dürstigen Volks ziehen an unserm Auge vorüber, gezeichnet mit Meisterhand und einem Blick für das Lebendige der Situation, daß wir stets den Eindruck gewinnen, als sei Vierge überall selbst mit dabei gewesen, als habe er all das gesehen und mitempfunden. Nach Victor Hugo und Michelet erwartete den Künstler eine neue Meisteraufgabe, die noch mehr als die früheren Werke geeignet war sein großes Talent zur Geltung zu bringen, denn er konnte ihr nicht nur die Kunst seines Griffels, sondern mehr noch, sein volles Temperament, sein ganzes Wesen widmen, da es ihn nach der heimischen Erde zurückführte, nach dem ritterlichen, abenteuerlustigen Spanien aus der Zeit des Don Quijote. Aber noch war es nicht dieser, dem Vierge den Tribut seines Genius weihte, — als ob er sich hierfür hätte vorbereiten wollen, wagte er sich zuerst (1882) an Pablo de Segovia, EI gran Tacano, den großen Spötter, den großen Verschlagenen und Ränkeschmied, den schlauen Fuchs, Abenteurer und baskischen Marodeur. Dieser große, satirische Heldenroman, der nur durch den größern des Cervantes in den Hintergrund gedrängt worden ist, erschien etwa gleichzeitig mit diesem, im Jahre 1605. Er gehört als eine der köstlichsten Perlen zum Kranze der prächtigen Erzählungen von Bettlertum und Schelmerei, Hunger und Liebe, die mit Petrons Satyrikon anfangen und über Villons »Lspuss krsnobss«, den Till Eulenspiegel und andere bis zu Murgers »Vis äs Lobtzins« jeder Literatur unvergängliche Meisterwerke der Sittenschilderung hinterlassen haben. Das Schicksal des Autors, eines der fruchtbarsten Schriftsteller, die je gelebt haben, Don Francisco de Guevedo