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242, 16. Oktober 1S12. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt s. d. Ltschrt. BuchhanbeS. 12511 Der deutsch-lateinische Büchermarkt nach den Leipziger Oslermeß-Katalogen von 1740, 1770 und 1800 in seiner Gliederung und Wand lung. Von Rudolf Jentzsch. (Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, herausgegeben von Karl Lamprecht, Zweiundzwanzigstes Heft.) Leipzig 1912. R. Voigtländers Verlag. 8°. XI u. 404 S. und 3 Tafeln. Preis drosch. 12 — ord. linier der stattlichen Zahl von Dissertationen und Abhand lungen, die jahraus jahrein aus der philosophischen Fakultät der Universität in der Stadt des Buchhandels hervorgehen, finden wir verhältnismäßig wenige, die sich, sei es mehr von der nationalöko- nomischcn, sei es mehr von der literaturgcschichtlichen Seite ans. die Geschichte des Buchhandels oder Fragen des Büchermarktes zum Vorwurf nehmen. Das ist doppelt bedauerlich. Denn einmal stellt die Geschichte des Buchhandels selbst, der noch älter ist als die Buch- drnckerknnst eine Folge von interessanten Fragen, ob sie nun seine Entwicklung, die Bücherprodnktion, seine soziale Stellung, Statistik u. a. betreffen. Dann aber bietet die eigenartige Ver knüpfung geistiger und materieller Interessen, die Wechselwirkung zwischen literarischen Erzeugnissen und einem blühenden Handels zweig, wie sie dem Buchhandel eignen, eine Fülle anregendster Probleme. In der Entwicklung des Büchermarkts spiegelt sich fast getreu die Entwicklung unserer Geisteswissenschaften, unserer geistigen Kultur. Nur eine kulturhistorische Betrachtungsweise, die nicht ein seitig volkswirtschaftlich oder nur literargeschichtlich interessiert und orientiert vorgeht, vermag diese Zusammenhänge klarznlcgen. Sv heißen wir die tüchtige Arbeit von Rudolf Jentzsch freudig will kommen. Er hat es verstanden, einen an sich spröden Stoff ge schickt zu kneten und zu formen: tote Zahlen gewinnen Leben: ge wissenhafte Quellennachweise, Belegstellen ermöglichen eine Nach prüfung der Ergebnisse, zu denen er kommt, gestatten ein Weiter arbeiten. Für die Drucklegung dieser Abhandlung, die durch Lamprechts Anregungen, Goldfriedrichs Unterstützung, wie der Autor dankbar anerkennt, wesentlich gefördert worden ist, hat der Vorstand des Börsenvereius der Deutschen Buchhändler zu Leipzig einen namhaften Beitrag zur Verfügung gestellt, ein Grund mehr, sich eingehender mit ihr, ihrem Gang und ihren Resultaten an dieser Stelle zu befassen. Die Geschichte der einzelnen Disziplinen, der Theologie, der Jurisprudenz, auch die der Literatur im engeren Sinne verfolgt für gewöhnlich nur einen speziellen Ausschnitt des gesamten gei stigen Lebens in sich: verschiedene wichtige Gesichtspunkte bleiben dabei zumeist ganz außer acht, so die bedeutsame Frage, welche Stellung denn überhaupt diesem engeren Ausschnitt innerhalb des gesamten geistigen Lebens jeweilig zukommt. So kann in einer Zeit die Theologie von überragender Bedeutung sein, eine andere wieder ist mehr an der Dichtung und an ästhetischen Fragen inter essiert, eine dritte schließlich vorwiegend an Technik, Gewerbe, Han del. Es ist also eine Literaturgeschichte im weiteren Sinne des Wortes notwendig, die nicht nur die zu einer gewissen Zeit gerade führenden Gebiete hervorhebt, andere dagegen übersieht, mit ästhe tischen und anderen subjektiven Wertmessern einzelne Leistungen auszeichnet, andere als minderwertig fallen läßt, sondern die Ent wicklung in ihrem möglichst objektiv gegebenen und auch auf die Masse gestützten Verlauf ansieht, die Aufgabe also sozialpsychisch faßt mit dem Ziele, das gesamte geistige Leben in seiner Struktur, das Verhältnis der einzelnen Interessensphären zueinander, die stärkere Bevorzugung dieses oder jenes Gebietes im Gesamtbewußt sein einer Zeit, ganz gleich, ob dieses gerade hervorragende Erschei nungen gezeitigt hat oder nicht, in möglichst objektiver Weise zu er kennen. Einem solchen Bestreben aber wird als eine der wichtigsten Quellen die Geschichte der Bücherproduktion und -Konsumtion er scheinen. Für die letztere namentlich könnten die mannigfaltigsten Zeugnisse zusammengetragen werden: Äußerungen von Zeitgenossen über Lieblingslektüre, Brief- und Tagebuchä .gerungen, Kataloge von Privatbibliotheken, Statistiken von Leihbibliotheken, für die Produktion die Initiative des Verlegers und ähnliches. Doch alle diese Äußerungen könnten nur in ihrer mosaikartigen Zusammen setzung und nur in ihrer gegenseitigen Ausgleichung unter kritisch strenger Beachtung der besonderen Verhältnisse das Gesamtbild des geistigen Lebens einer Zeit ergeben. Dagegen zeichnet ganz un bewußt, rein objektiv jede Zeit selbst ihre eigene Spur in den Ver lauf der gesamten geistig-literarischen Entwicklung durch ihren Büchermarkt ein. An ihm kann man deutlich ersehen, in welchem Verhältnis die verschiedenen Interessen- und Interessentenkreise am literarischen Leben beteiligt waren. Für unsere deutsche Entwick lung steht in dieser Hinsicht eine einzigartige Quelle zu Gebote: die Meß kata löge. Seit Herbst 1564 je zur Oster- (früher Fasten-) und Michaelis messe zuerst als Privatuuternehmen verschiedener Buchhändler, bald als offizielles Organ erscheinend, stellen sie halbjährliche Verzeich nisse derjenigen Bücher dar, die in den beiden Messen jedes Jahres zu Frankfurt, später zu Leipzig in den Handel gebracht wurden. Eine Zeitlang gibt es nur Frankfurter Meßkataloge (1564—94), bald gehen Frankfurt und Leipzig nebeneinander her (1594—1749), bis schließlich der Frankfurter ganz aufhört (1749), nachdem schon lange vorher mit der immer straffer werdenden Zentralisation des Buchhandels nach Leipzig nur noch die Leipziger Kataloge von Bedeutung geworden waren. Mitte des 19. Jahrhunderts gingen auch diese ein; mit den Hinrichsschen Verzeichnissen, die von 1797 ab erschienen, waren sie schon seit längerer Zeit mehr und mehr überflüssig geworden. Die Wichtigkeit dieses Materials für eine vergleichende Be trachtung der Veränderungen, die sich im Laufe der Zeilen im literarisch-geistigen Leben vollzogen haben, wurde schon im 18. Jahr hundert erkannt. Das fundamentale Werk über die Meßkataloge liegt vor in dem Eockex nunckinarius dermaniae lite- ratae diseeularis von Gustav Schwetschke, Halle 1850 (1. Bd.), 1877 (2. Bd.), dem als Ergänzung die Arbeiten Jslers, Krauses und vor allem O. von Hascs dienen. Auf der Statistik der gesamten literarischen Produktion von 1564 ab, die Schwetschke unter den Rubriken Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Philosophische Wissenschaften, Poesie und Musik, seit 1801 unter Vermehrung dieser Rubriken entsprechend den Ab teilungen der Hinrichsschen Verzeichnisse gab, glaubte Friedrich Zarncke Tabellen aufbauen zu können, die sowohl das Wachstum der Gesamtproduktion wie auch der einzelnen von Schwetschke aus gestellten Untergebiete, ferner das Verhältnis von deutschem, latei nischem und fremdsprachigem Anteil untereinander durch steigende und fallende Kurven veranschaulichen sollten. Gegen diese Ver wertung der Meßkataloge für die gesamte literarische Produktion Deutschlands in absolut -quantitativer Hinsicht sind schon von Spirgatis u. a. Einwände erhoben worden, da die Meßkataloge ja nicht die Gesamtproduktion bringen, vielmehr nur ein Verzeichnis der Bücher, die man nach den großen Buchhändlermessen zu bringen für wert erachtete; aber ihre Verwertung gerade zur Untersuchung der qualitativen Zusammensetzung des in ihnen vereinigten Büchermarktes bleibt unangefochten. Denn der Meßkatalog urteilt nicht über den hohen oder geringen Wertgrad der betreffenden Er scheinungen, wenn er Bücher in sein Verzeichnis aufnimmt, sondern er verkündet rein objektiv alles, was durch ihn an das Publikum gelangen will, welche Interessen auf dem Büchermarkt, den er ver körpert, Nahrung finden und in welchem Verhältnis zueinander dies geschieht. Das Auftreten neuer Gebiete, wie Volksschriften, Kalender u. a., das Zurücktreten anderer kommen in ihm zwar nicht absolut-quantitativ zum Ausdruck, aber der Meßkatalog spie gelt diese Wandlungen der veränderten Interessen des Publikums und seiner Zusammensetzung. Da nun die Meßkataloge in ganz derselben Weise drei Jahrhunderte laug das literarische Leben auf Schritt und Tritt begleiten, so haben wir in ihnen tatsächlich einen festen, in sich gleichbleibenden Maßstab, nicht der absoluten Höhe der Produktion, wohl aber des Aussehens des Büchermarktes zu verschiedenen Zeiten. So ist der Meßkatalog in der Tat wie geschaf fen als Objekt für das, was die Wissenschaft individuelle Ver gleichung nennt, da sie an einem in sich konstant bleibenden Gebiet, eben dem Meßkatalog, vorgenommeu werden kann. Da die Einteilung Schwetschkes ziemlich roh gezimmert ist, so daß aus seinen Tabellen nur das Bild von dem Umfange der gro ßen Disziplinen, wie Theologie, Jurisprudenz, Medizin, im groben abgeleseu werden kann, ist ihre kulturgeschichtliche Ausbeute gering. Es muß also bei der Verwertung der Meßkataloge, wie der innere Aufbau, die Zusammensetzung und Wechselwirkung der einzelnen Teile eines lebenden Organismus, die ganze Struktur, bas Ver- 1628*