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^ 114, 21. Mai 1910. Künftig erscheinende Bücher. Börsenblatt f. d. Dlschn. Fachhandel. 6077 Das Leben und die Abentheuer des armen Mannes im Tockenburg. «Ä"" Mit einer Einführung von Adolf Wilbrandt. Kart. M. 2.50, geb. M. 3.50. Statt aller Empfehlungen einige Worte aus Adolf Wilbrandts schönem Vorwort: „Kennen Sie den ,armen Mann im Tockenburg"?" Hab' ich wie oft gefragt; Männer und Frauen von allerlei Art. Die Antwort war fast immer: „Wer ist das?" And doch hat man das Wenige, was wir von ihm haben, seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht selten gedruckt; er hat Leser und Freunde gefunden, auch Bewunderer. Immer ist er wieder vergessen worden; auf seinen eigentlichen Platz in unserer Geschichte hat ihn noch niemand gestellt. Darum hat es mich oft hingerissen, in dieser oder jener Gesellschaft, die nichts von ihm wußte, mit so viel Lobpreisung von ihm zu sprechen, daß ich mich hinterdrein wohl fragte: Last du in deinem Feuereifer nicht zuviel gepriesen? Wenn diese Auf- gestachelten ihn nun lesen werden, werden sie nicht sagen: mm ja, recht hübsch, aber warum übertreibt er so? — Dann Hab' ich wohl zu Laus den „armen Mann" wieder zur Land genommen und hier und da aufgeschlagen und gleichsam mit dem Ohr dieser andern hineingehorcht. Zuletzt bin ich lächelnd beruhigt und neu gerührt wieder aufgc- standen. Nein! Ich sagte nicht zuviel von ihm. Er ist ein Phänomen, ein Einziger, Unvergleichlicher. Er war kein Fabulierer, kein Fruchtbarer wie Laus Sachs, aber zehn mal mehr Poet. In dem kleinen Schatz, den er uns hinterlassen hat, sind Perlen und Rubinen . . . Fast um dieselbe Zeit, in der Goethes Prosa im „Weither" zu ihrer höchsten Jugend blüte sich entfaltete, rang sich im alemanischen Gebirge ein ungebildeter Weber zum Schrift steller empor, den man ruhig neben Goethe nennen kann; ja vielleicht steht als Prosadichter niemand dem jungen Goethe so nahe wie er. Es war eine Begabung in ihm, die man immer anstaunen muß, schwer begreifen kann. Er hatte alle Eigenschaften des Dichters, nur Erfindung fehlte; von den Tönen, die unsere ganze Natur mit Kunst ergreifen, hat ihm vielleicht keiner gefehlt. Mitten in musenlosester Umgebung, in allen Bitternissen widerwärtigster Art, in selbstbildender, unberatener Einsamkeit, gewinnt er eine» solchen Reichtum an Stimmungen, Vorstellungen, Empfindungen, einen so hohen, unzerstörten freudigen Lebenssinn, eine solche Stufenleiter von Ausdrucksmitteln, daß man gerührt und beschämt vor diesem Naturwunder steht. . . . Kern Mensch hat lebendiger erzählt als er. Eine der schönsten Erscheinungen in der deutschen Literaturgeschichte; eine allerhöchste Bekräftigung und Bestätigung, daß die große Zeit unserer Poesie aus der Urkraft unseres Volkes hervorgegangen ist.