Volltext Seite (XML)
Redaktioneller Teil. 10, 14. Januar 1916. geistiger Interessen im nahen Orient geschossen würde, damit ein Werk von hoher Tragweite für die türkisch-deutsche Ver- bindung entstände, bei dessen Beurteilung die Frage geschäft licher Vorteile oder Nachteile erst in zweiter Linie berücksichtigt werden darf. Wenn sich die deutschen Buchhändler entschließen, eine Jnteressenzonc deutschen Geistes in der Türkei zu schaffen, so müssen auch sie sich als Träger einer großen Idee ansehen und die Konsequenz alles Idealismus hinnehmen: die an fänglich zweifellos mangelhafte pekuniäre Einträglichkeit. ES muß die Möglichkeit vorhanden sein, mehrere Jahre nicht aus den Ertrag des Unternehmens angewiesen zu sein; die Zeit der Rentabilität tritt bestimmt ein. Das Wann hängt bon der Geschicklichkeit und sinngemäßen Einführung ab. Und eben hierzu möchte ich, einer Einladung der Redaktion dieses Blattes folgend, einige meiner Erfahrungen zur Verfügung stellen. Was von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ab an westeuropäischer Bildung in der Türkei vorhanden war, stammte meist aus sranzösischer Quelle und war säst aus- schließlich auf die höchsten Kreise der Hauptstadt beschränkt. Französische Gouvernanten waren die Verbreiterinnen dieser sogenannten Bildung; sie hatten die erzieherische Leitung der Söhne bis zu deren 12., die der Töchter bis zu ihrem 16. Jahre, dem Zeitpunkte ihrer Verheiratung. Danach hörte in beiden Fällen der westeuropäische Einfluß auf; das Resultat war: die meist sehr fließende Konversation in französischer Sprache und — das Lesen der gewissen gelb- broschierten französischen Romane. Diese gelben Bücher haben für Frauen wie Männer der höchsten türkischen Kreise einen nicht hoch genug anzusetzenden Schaden bedeutet, und eben diesen gelben Büchern ist es zuzuschreiben gewesen, wenn der deutsche Einfluß zeitweilig völlig in den Hintergrund ge schoben wurde. Bei der allgemeinen Vorherrschaft des Fran zösischen als Verkehrssprache im nahen Orient war es nur natürlich, daß die leicht zugängliche, überall verbreitete fran zösische Literatur leichtesten Genres viel gekauft und gelesen wurde. Alle in diesen gelben Büchern geschilderten Situa tionen, Menschen und Geschehnisse mußten den Osmanen, der keinerlei Beurteilung über den Wert oder Unwert dieser Dinge haben konnte, anmuten wie die Schilderung einer seltsamen Welt, in der es weder Fesseln, Gesetze noch Hindernisse gibt und deren Motto lautet: »Erlaubt ist, was gefällt!«. Ein geengt von den vielen Fesseln, strengen Gesetzen und unüber windlichen Hindernissen des eigenen Landes und Lebens, mußten diese türkischen Männer und Frauen zu der Meinung gelangen, das Eldorado der Zügellosigkeit sei Westeuropa. Vieles von der Verachtung, die der Osmane für europäische Art hat, ist auf das Konto dieser gelben Bücher zu setzen, ebenso auch vieles von jenen unglücklichen Affären, in die der Wider streit des Bestehenden mit dem scheinbar in Paris Möglichen die Opfer einer solchen Halbbildung brachte. Von andern Völkern war natürlich auch auf literarischem Gebiete England Herrscher; Rußland rührte sich gar nicht, Italien sehr wenig, Englands Einfluß aber war dadurch ge wahrt, daß z. B. viele Armenier in englischer Sprache Bücher für und über die Türket schrieben. Ob dies in festem Auf träge geschah, vermag ich nicht zu beurteilen; manchmal mag es wohl der Fall gewesen sein. Jedenfalls fanden die Bücher eine relativ gute Verbreitung eben dadurch, daß sie bon Ein geborenen geschrieben waren. England hat sich nie bemüht, der französischen Belletristik Konkurrenz zu machen, es schlich sich vielmehr auf dem Umwege über die armenische Unzufrieden heit in die türkische Leserwelt ein und tras dort wiederum ein gleichgestimmtes Publikum unter denen, die außer Fran zösisch auch Englisch studierten, um in der jungtürkischen Be wegung sowohl in Paris als auch in London zuhause zu fein. Außerdem waren an englischer Literatur beim levanti- nisch-halbtllrkischen Publikum die illustrierten Wochenschriften und die Detektiv- und Schauergeschichten beliebt, an denen England so reich ist. Ich würde es aber für ein direktes Unrecht halten, nun auch unsrerseits derartige Literatur in die Türkei zu bringen; wir sollten uns nur an die besseren 46 Instinkte, deren dort so viele vorhanden sind, wenden. Wenn der Erfolg dann auch auf sich warten läßt, so ist er doch da für später umso größer. Vielleicht könnte man auch einige unserer einfachen guten Bücher ins Türkische übersetzen lassen, doch schneidet diese Frage ein Thema an, das als Spezial gebiet für sich zu betrachten sein wird. Ich sprach in Vorstehendem bisher immer nur von den »höchsten Kreisen, und von der Hauptstadt selbst. Das hat seinen wohlerwogenen Grund. Allgemein bekannt ist es ja, wie unendlich groß die Zahl der Analphabeten im Orient ist; ich glaube, der Prozentsatz ist noch höher als in Rußland. Es ist bis jetzt im Innern des Landes keinerlei Schulzwang vorhanden; wenn in der Hauptstadt die Kunst des Lesens und Schreibens mehr geübt wird als im Innern, so liegt das daran, daß in dem stärker ausgeprägten Kamps ums Dasein der großen Stadt der Schriftkundige leichter siegt. Es besteht im Innern sogar noch oft ein mitleidiges Herabsehen auf den Schriftkundtgen seitens der Analphabeten Der seltsam anmutende Grund besieht darin, daß das Gedächtnis der jenigen, die nicht mit Lernen beschwert sind, meist ganz außergewöhnlich stark entwickelt ist, während durch das Schul wissen diese Naturgabe verloren geht. So gibt es z. B. Kaufleute, die ihre gesamten Rechnungen mit allem Drum und Dran nur im Kopfe haben und sich höchstens einmal in ganz schwierigen Fällen eines Kerbholzes bedienen. Infolgedessen kämen im Innern des Landes als lesendes Publikum nur die Schriftgelehrten in Betracht, das ist die hohe und niedere Geist lichkeit, aus der für die Provinz auch viele andere Berufe hervorgehen; sie lesen und lernen den Koran nebst erläuternden Büchern, mit ergänzendem Gesetzes-Anhang neueren Datums auswendig. Ich bin überzeugt, daß sie alle moderne europäische Bildung weit von sich weisen werden, da sie sich das Vorrecht alleinigen Wissens kaum werden nehmen lassen wollen; sie halten ihre Weisheit wie eine geschlossene Nuß fest in der Hand und erklären dem gläubigen Volke, der Kern der Nuß sei bitter und schädlich, genießbar nur dem allein, der im Schatten der Koran-Kenntnis lebe. Wenn die neue türkische Regierung das Schulwesen reformieren wird, was nicht ausbleiben kann, so wird sie an den Schrtstgclchrten im Innern die heftigsten Gegner finden. Demnach scheidet, wenig stens zunächst, das Innere als Jnteressen-Sphäre für den deut schen Buchhandel aus. Was die Linie Berlin— Bagdad hieran ändert, muß der Zukunst überlassen sein. Somit bleibt die Hauptstadt, Konstantinopel, das Zentrum des gesamten Lebens der Türkei, das stark lebendige Herz des Osmanenreiches. Hier find in der ganzen offiziellen Welt nur Schristkundige zu finden, und es gibt kaum etwas so rein Osmanisches wie die osfizielle Welt, da man zu ihr auch die Beamten der Ministerien u. dgl. rechnen muß. Es würde nun daraus ankommen, das Interesse aller dieser Kreise von der zeitgenössischen Literatur Frankreichs weg auf die Deutschlands zu lenken. Will man dies erreichen, so muß berücksichtigt werden, daß der Osmane ein außer ordentlich kindlich-einfaches Gemüt besitzt, da von frühester Jugend an seine Hauptnahrung für Geist und Herz in der wundervoll bilderreichen Wiedergabe der Märchen und Helden- geschichten durch herumziehende Erzähler besteht. Um diese Erzähler sicht man in den kleinen Kaffeehäusern Stambuls ernste Männer aller Altersklassen und Berufe, sowie jeden Standes andächtig sitzen und ihnen viele Stunden lang lauschen. Dem Osmanen liegt also die französische Art eigentlich gar nicht; er liest die sranzösischen Erzeugnisse, weil er die Sprache kennt und Bücher, die sich leicht lesen lassen, massenhaft vor handen find. Auf die leichte Lesbarkeit wäre besonderer Nach druck zu legen. Wenn auch, wie ich eingangs sagte, keine Bös willigkeit in der Auslegung des Gebotenen besteht, so ist doch eine große Scheu vor der tiefgründigen Art deutscherBücher vorhanden, die als langweilig und ermüdend empfunden werden, da bet ihnen alles schwer zu begreifen ist: Inhalt, Stil und — Schrift. Es sollte selbstverständlich sein, daß alle nach dort gehenden Bücher in lateinischen Lettern gedruckt sein müssen. Das wird .oft übersehen und sollte in Zukunft Bedingung sein. Dann