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Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Redaktioneller Teil. 5, 8. Januar 1816. schreiben eine andere Form gegeben wird, wie ja überhaupt die Art nnd Weise seiner Abfassung von größtem Einfluß auf den Erfolg sein würde. Aus diesem Grunde wäre es vielleicht am Platze, um eine Reihe verschiedener Texte zu erhalten. Preis- AuSschrciben zu ihrer Erlangung zu veranlassen. Heppenheim (Bergstr.). Carl Malcomes. Erinnerungen und Erlebnisse eines Rigaschen Buchhändlers. Von Georg Jonck. lFortsetzung zu Nr. S u. 4.) Den Weg zum Bahnhof mußte ich diesmal zu Fuß zurück- legen, es war etwa v-6 Uhr morgens geworden, also schon ziemlich hell. Zwei Soldaten mit gezogenem Säbel nahmen mich in die Mitte. Herr v. S. stützte mich, und so kam ich ganz gut beim Zuge an. Der Konvoi war nicht gewechselt worden, ich sah also den Soldaten wieder, der mit meiner Tochter gesprochen hatte. Auf meine Frage, ob er mir nicht sagen könne, Ivo sic geblieben sei. erividerte er ganz dreist, sie sei nach Moskau vorausgefahren. Das klang ja nicht unwahrscheinlich, und ich beruhigte mich denn auch. Der Wagen, in den ich jetzt kam, war schmutzig und hatte Ähnlichkeit mit einem Käfig für wilde Tiere. Durch ein eisernes Gitterwerk, das bis zur Decke reichte, war der Wagen der Längs richtung nach in zwei ungleiche Hälften geteilt. In der brei teren hatten wir Gefangenen unsere Plätze, in der schmäleren, in der auch die Ausgangstüren waren, Vertrieben sich die Sol daten die Zeit mit Rauchen und Schwatzen. In unserem Teile gab es nur ganz kleine Fenster von etwa Quadratstitzgröße, die außerdem vergittert und ganz hoch oben angebracht waren, so- daß man nicht hinaussehen konnte. Diese Wagen hießen bei den politischen Gefangenen »Stolhpin-Waggons«. Um 10 Uhr etwa ging der Zug ab, im elendesten Schnecken tempo fuhren wir bis Moskau, wo wir am andern Morgen an langten. Wieder ging es ins Gefängnis, diesmal durch sehr belebte Straßen auf dem unvermeidlichen federlosen Lastwagen. Der Raum, in dem wir untersucht wurden, war furchtbar schmutzig, aber die Beamten benahmen sich, wenigstens mir gegenüber, recht manierlich. Herr v. S. machte als Edelmann seine Ansprüche auf ein besonderes Zimmer geltend, das wurde ihm gewährt, und ihm sogar gestattet, mich mitzunchmen. Das Zimmer war sauber, die Waschgelcgenheit im Zimmer selbst zweckentsprechend »nd ausreichend, sodaß wir uns gründ lich waschen konnten. Das erste Mal seit fast fünf Tagen. Sogar zwei Lagerstätten Ware» vorhanden, und es war eine Wohl tat, die gemarterten Glieder wieder einmal ausstrcckcn zu können, wenn das Bett auch nur aus einem Stück Segeltuch, das über vier eisernen Trägern lose in einen eisernen Rahmen gespannt war, bestand. Auch das Essen, das wir bekamen, war genießbar, ganz gut schmeckte sogar die trockene Buchweizen-Grütze, Kascha genannt, die wir mit etwas Butter noch verbesserten. Mit Kascha und Kohlsuppe werden übrigens auch die russischen Sol daten in der Hauptsache ernährt. Am andern Mittag ging es nach abermaliger Untersuchung wieder weiter. Stundenlanges Warten im Untcrsuchungsraum und daun wieder stundenlanges Warten auf dem Bahnsteig an abgelegener Stelle. Es wurde Abend, als unser Zug endlich ab ging. Der Wagen umschloß diesmal eine sehr bunte Gesellschaft. Strolche, die nach dem Ort ihrer Hingehörigkeit gebracht wur den, verkommene Frauenzimmer, schwere Verbrecher, Politische Gefangene, alles durcheinander. Eine so ekelhafte Gesellschaft hatte ich noch nie beisammen gesehen. Die Nacht war wiederum ganz abscheulich, die Ansdünstnng so vieler unsauberer Menschen, der Tabaksqualm, das Kreischen der Weiber, wenn die Sol daten mit ihnen ans ihre Art scherzten; cs war der reine Hexen sabbat. Endlich wich die Nacht, doch wurde es später Nach mittag, als wir in Tula ankamen. Hier ist das Gefängnis sehr weit vom Bahnhof entfernt. Der Weg dahin führte durch die ganze Stadt und dehnte sich schier endlos ans hartgefrorenem, ansgefahrencm Lehmboden, neben trostlos leeren Feldern dahin. 18 Im Gefängnis wollte man mich nach der unumgänglichen Unter- suchung in einen schon überfüllten großen Raum stecken, an dessen Tür ich vor dem grausigen Gestank, der uns cntgegen- schlug, entsetzt zurllckprallte. In dem Saale wimmelte es von Zigeunern, Chinesen und anderem Gesindel; mein Protest hätte aber vermutlich nichts genützt, wenn nicht Herr v. S., der für sich wieder ein eigenes Zimmer erwirkt hatte, erklärt hätte, er würde auch in den gemeinsamen Raum gehen, wenn man mir nicht ge stattete, bei ihm zu bleiben, dann würde er sich aber gehörigen Orts beschweren. Das half merkwürdigerweise! Wir beide wurden nun in ein anderes Gebäude gebracht und erhielten ein großes, hohes zweifenstriges Zimmer, das natürlich nichts enthielt, als die beiden unvermeidlichen Kübel. Da sie leer waren, nnd wir es vermieden, sic zu benutzen, so war die Luft erträglich. In allen Gefängnissen trägt man eine große Frömmigkeit zur Schau. Am Morgen um 146 Uhr nnd am Abend um 6 Uhr, während der Revision der Zellen und Zählung der Eingesperrten durch die Inspektion, zieht der Gefangenen-Sängerchor durch die Korridore und Höse sämtlicher Gebäude und singt eine Litanei. Ich habe schöne Stimmen darunter gehört, aber auch schauerliche. Mir erschien dies aufdringliche Frommtun immer als Blas phemie. In Tula blieben wir eine ganze Woche. In den ersten vier Tagen waren wir allein, und jetzt fing ich an, mich um meine Tochter zu sorgen. Es war gar nicht anders möglich, es mußte ihr etwas zugestoßen sein. In meinen Gedanken sah ich sie ver haftet und als der Spionage verdächtig alle Schrecken des Gefäng- nisses durchleben. Wenn ich an die verruchten Weiber dachte, die ich schon unterwegs gesehen hatte, und mir vorstellte, daß mein Kind in ihrer Gesellschaft Tage und Nächte zubringen könnte, so packte mich die Verzweiflung. Niemals in meinem Leben habe ich inbrünstiger zu Gott gefleht, er möge das Gräß liche nicht zulassen. Dann wurde ich wieder ruhiger u»d sagte mir: sie ist tapfer und unerschrocken, hat auch ein gutes Gewissen, sie wird einer Gefahr auszuweichen wissen. Damals war der Haß gegen alles Deutsche noch nicht so sehr ins Volk gedrungen, deshalb fürchtete ich nicht, daß man sie, die auf den ersten Blick als Deutsche zu erkennen ist, etwa wegen ihrer Nationalität belä stigen würde. Immer aber kam doch die Angst wieder, daß ihr Verschwinden Schreckliches bedeuten müsse. Diese Angst raubte mir den Schlaf und brachte mich der Verzweiflung nahe. Und wieder war es Herr v. S., der meine Ängste zu zerstreuen suchte, der mir auch vom Gefängnisarzt ein Schlafmittel besorgte, so- daß ich diese schrecklichen Tage überstand. In der Nacht znm Donnerstag wurde ein kleiner Junge, ich schätzte ihn auf zwölf Jahre, er war aber schon Itzjährig, zu uns in die Zelle gebracht. Es war ein Kosakenknabe aus dem Kaukasus. Der Vater war dort angesiedelt gewesen, vor kurzem aber gestorben. Weil nun keine Papiere vorhanden waren, so schleppte man den Jungen, der Einfachheit wegen, nach dem Orenburgschen Gouvernement, der Heimat des Vaters, dort sollte er Papiere bekommen. Die Mutter mit den jüngeren Ge schwistern blieb einstweilen im Kaukasus. Dieser Fall dürfte ein feines Licht auf die großartige organisatorische Fähigkeit der Russen werfen. Wir sorgten am nächsten Morgen »och dafür, daß er eine gründliche Wäsche und sonstige Säuberung vornahm, was sehr notwendig war, denn wie sich nachher herausstellte, hat er auch uns reichlich mit Ungeziefer versorgt. Er blieb nur einen halben Tag bei uns, dafür erhielten wir einen neuen Zellengenossen. Diesmal war es ein russischer Soldat, ein Deserteur, der als Reservist aus dem Simbirskschen nach Smolensk cinberufen und dort eingekleidct worden war. Als er erfuhr, daß es Krieg gäbe, war er schleunigst in seiner Uniform wieder nach Hause gefahren. Dort suchte »ran ihn natürlich zuerst, nnd jetzt ging er seinem Verhängnis entgegen. Er schien keine Ahnung davon zu haben, was ihm bevorstand; er war zwar wortkarg, aß aber mit gutem Appetit. Bei dieser Gelegenheit seien mir einige Worte über die Kost der Gefangenen gestattet. Morgens, nach dem Appell, gibt es für jeden heißes Teewasser und zwei Pfund (810 A)