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X 195, S. September 1919. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. V. Dtschn. Buchhandel. unerreichbares Meisterstück aufgestellt. Diese Fähigkeit, in die Wurzeln seines Daseins zurückzukriechen, sich auf jede Lebens- stufe zurllckzuversetzen und jede ganz rein, für sich, abgesondert von allem, was folgt, zu empfinden und beim Leser zur Emp findung zu bringen, nebenbei die ganze jedesmalige Atmosphäre, wie sic das Kindes-, Knaben- oder Jünglingsauge abgezirkelt haben muß, anschaulich zu machen, dies alles ist noch nicht dagewesen. Was ist Rousseau dagegen! Bei Goethe die Wahr heit in ihrer edelsten Naivetät, ganz unbekümmert um Wirkung und Eindruck, und eben deshalb die höchste Wirkung erreichend; bei Rousseau Lüge, die sich selbst nicht mehr erkennt, sodatz selbst da, wo er Wahres gibt, die Wahrheit jenem neuen Lappen gleicht, womit ein alter zerrissener Schlauch geflickt wird.« Wir haben in dieser schweren Zeit Ursache, uns solcher Ausführungen zu erinnern, die bezeugen, daß es stets die Deutschen gewesen sind, die das Höchste erreicht haben. Kein Angehöriger eines anderen Volkes hat wie Goethe so objektiv das eigene Leben aus dem allgemeinen hervorwachsend darzustellen vermocht. — Die Er gänzung zu Goethes Selbstbiographie bilden (von seinen Tage büchern, Annalen usw. abgesehen) die Werke der Riemer, Falk, Ecker mann und Kanzler von Müller. — Bis zu einem gewissen Grad autobiographischen Charakter haben natürlich die »Erinnerungen aus dem Leben I. Gottfried von Herders«, gesammelt und beschrieben von Maria Cor nelia von Herder, geb. Flachsland (1750—1809), die in der Ausgabe von Herders »Sämtlichen Werken« 1820 zuerst gedruckt wurden. Von Johann Heinrich Votz (1751 —1826) haben wir einen kurzen »Abriß meines Lebens«, Ru dolstadt 1818, und »Erinnerungen aus meinem Jugendleben« in den von Abraham Voß herausgegebenen Briefen, die von den Mitteilungen der Frau des Dichters, Ernestine Voß, geb. Bote (ebenda) mannigfach ergänzt werden. Des Gothaer Theatermannes H. A. O. Reichard (1751—1828) Selbst biographie ist erst 1877 erschienen. — Bedeutenden Zeit wert schreibt man den »Denkwürdigkeiten meines Lebens« von dem bekannten Judenfreunde Christian Wilhelm von -Dohm (1751—1W0) zu, die fünf Bände füllen. Auch des unglücklichen Ministers Grafen von Hang Witz (1752— 1831) Memoirenfragment muß Wohl erwähnt werden. Der Freiherr von Stein (1757—1831) verfaßte 1823 kurze »Lebenserinnerungen«. Französisch schrieb noch der bayrische Minister Graf Montgelas (1759-1838) seine »Denk würdigkeiten«. — Einen »Roman meines Lebens« in Briefen gab 1781 der durch seinen »Umgang mit Menschen« bekannte Freiherr Adolf von Knigge (1752—1796), der uns auch Rousseaus »Bekenntnisse« zuerst übersetzt hat — sein als »Besprechung einzelner wahrer Begebenheiten aus Knigges Leben« bezeichnetes Werk dürfte das Vorbild des Wallenrodtschen Lebens in Briefen gewesen sein. — Viel Lob findet die Selbst biographie von Gerhard Anton von Halem aus Oldenburg (1752—1819), die erst 1840 hervortrat. Halem wird einmal im Goethe - Schiller - Briefwechsel erwähnt, nicht eben mit Anerkennung, aber darum kann die Selbstbio graphie, die auch Briefe von berühmten Leuten enthält, ja doch wichtig sein. — Nur einen kleinen Lebensausschnitt behandelt die Schrift von RudolfZachartasBecker (1752—1822), dem Verfasser des bekannten »Not- und Htlfsbüchleins«: »Lei den und Freuden in 17monatlicher französischer Gefangenschaft« (1814), die man allgemein als interessanten Beitrag zur Zeit geschichte bezeichnet. Eine wirkliche Lebensgeschichtc, und zwar eine recht bunte, ist wieder die des aus dem Lithäuischen simn- irrenden Rabbinersohns Salomon Maimon (1754—1800), die Karl Philipp Moritz 1792/93 herausgab. Maimon war Kant- schüler. In Königsberg, dem Wohnsitz Kanis, lebte Ludwig von Baczko (1756—1823), der mit 21 Jahren erblindete und 1807 die Schrift »über mich selbst und meine Unglücks gefährten, die Blinden« veröffentlichte, der man inniges Gefühl nachrühmt. — Ziemlich bekannt und geschätzt ist die Selbstbio graphie (»Leben von ihm selbst beschrieben«) des Jdhllendrchters Franz Xaver Bronner (aus Höchstedt an der Donau, 1758—1850), die Zürich 1795 erschien und als »Mönchsleben in der empfindsamen Zeit« in Lutz' Memoirenbibliothek ent halten ist. Bronner war Benediktiner, und sein Werk ragt durch Lebendigkeit der Einzelheiten hervor. Ein Seitenstllck zu seiner Selbstbiographie bildet des gleichaltrigen Johann Baptist Sch ad (aus Mörsbach, 1758—1834) »Lebens- und Kloster geschichte«, die Erfurt 1803 hervortrat. Sehr viel später als diese das Klosterleben behandelnden Werke kamen des Öster reichers Ignaz Aurelius Feßler (1756-1839) »Rückblicke aus seine siebzigjährige Pilgerfahrt« (Breslau 1824) heraus, die auch in das Treiben der Geheim bünde im Josephinischen Österreich einen Blick tun lassen. Feßler, Freimaurer, mußte von Österreich nach Preußen flüchten und ging dann nach Rußland, wo er es bis zum evangelischen Generalsuperintendenten in St. Petersburg brachte. Noch interessanter als sein Leben ist das des literarischen Vaganten, von Haus aus Theologen Fried rich Christian Laukhard (1758-1822), das von 1792 bis 1802 als »F. C. Laukhards Leben und Schicksale« in sechs Bänden beschrieben wurde und jetzt auch in Lutz' Memoiren bibliothek ist. Laukhard war ein liederliches Genie und machte mehrere Feldzüge mit, war auch zur Revolutionszeit in Frank reich und wäre bald guillotiniert worden. Nicht viel weniger bunt ist das Leben des Schauspielers E. Clefeld, das man unter dem Titel »Der philosophierende Vagabund, Lebensbeichle eines Wanderkomödianten« in der ebengenannten Mempiren- bibliothek findet. Diesen beiden Werken seien dann gleich die gleichfalls bei Lutz (zuerst) gedruckten »Irrfahrten desDaniel Elster« angeschlossen. In die höheren Regionen der klassischen Literaturentwick- lung führt uns wieder die Selbstbiographie August Wil helm Jfflands (1759—1814): »Meine theatralische Lauf bahn«, die jetzt in der Universalbibliothek ist. Sie erscheint et was auf Wirkung berechnet, ist aber immerhin fesselnd genug. Das Werk ist 1798 abgeschlossen, führt also nicht ins klassische Weimar, wo Jffland später als Gast erschien und die über schwengliche Bewunderung KarlAugu st Völliger? (1760 —1835) fand, der dort damals Gymnasialdirektor und — Klatschbase war. Aus seinem, Böttigers, Nachlaß sind dann 1838 die »Literarischen Zustände und Zeitgenossen« erschienen, die Ilm-Athen menschlich, allzu menschlich zeigen. »Anfangs belustigte mich diese Naivität der Gemeinheit«, schrieb Hebbel 1840 über das Buch, »die da ganz allein dazusein glaubt, aber im Verfolg der Lektüre wurde mir doch peinlich zu Mute. Wenn ich Herder und Wieland alles verzeihe, was sie gegen Goethe sagten, so kann ich es ihnen doch nicht verzeihen, daß sie es gegen einen Böttiger sagten.« Glücklicherweise haben wir ja auch noch andere Bücher über Altweimar. Erst neuerdings (1912) bekannt geworden istKarlvonLynckers »Am Wei- marischen Hofe unter Amalien und Karl August« (Mittlers Goethe-Bücherei), das Wilhelm Bode in seinen Goethe-Büchern schon öfter benutzt hat. — Leider haben wir nichts Autobio graphisches von Schiller, doch bieten Andreas Streichers (1761—1833) »Schillers Flucht von Stuttgart« und Käro- line von Wolzogens (1763—1847) »Schillers Leben«, die Erinnerungen ihm nahestehender Persönlichkeiten enthalten, einigen Ersatz. Auch in Friedrich von Matthissons (1761—1831) umfangreichen »Erinnerungen« (1811—16) kommt Schiller Wohl vor, da der jüngere Dichter ihn gut gekannt hat. — Von August von Koyebue (1761—1819), der ja ein Weimarer Kind war und auch in der klassischen Zeit eine Zeit lang in seiner Vaterstadt gelebt hat, haben wir eine ganze Reihe autobiographischer Schriften: »Meine Flucht nach Paris im Winter 1790« (1791), »Mein literarischer Lebenslauf« (»Die jüngsten Kinder meiner Laune«, 1793—97), »Über meinen Auf enthalt in Wien und meine erbetene Dienstentlassung« (1799), »Das merkwürdigste Jahr meines Lebens« (1801), »Erinne- rungen aus Paris im Jahre 1804« (1804), »Erinnerungen von einer Reise aus Livland nach Rom und Neapel« (1805). Von ihnen ist »Das merkwürdigste Jahr meines Lebens«, Kotzebues Verbannung nach Sibirien behandelnd, die bekannteste (jetzt in Hendels Bibliothek der Gesamtliteratur und bei Rcclam). — Eine richtige Selbstbiographie haben wir wieder von dem Päd wogen