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110, 14. Mai 1909. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 5827 deutsche Reich die Berechtigung zum Ausstellen von Einjahrig- Freiwilligen-Zeugnissen erteilt hat; die -deutsche Schule« in Buenos-Aires mit mehr als 500 Schülern entspricht ebenfalls ungefähr unseren höheren Bürgerschulen, ebenso eine Privat mädchenschule in Belgrano sowie die Mädchenklassen der Germania-Schule ungefähr unfern gleichartigen Mädchenschulen; die übrigen deutschen Schulen des Landes sind Volksschulen, von denen zwar eine ganze Anzahl auch dem Maßstab unserer Anforde rungen entspricht, andere aber, namentlich in den deutsch-russischen Siedelungeu, bei stetem Geld- und häufigem Lehrermangel nur ein sehr kümmerliches Dasein fristen und nur sehr bescheidene Leistungen zu erzielen vermögen. Der Staatsangehörigkeit nach sind fast alle Schüler Argentiner, da gesetzlich alle im Lande ge borenen Kinder als Argentiner gelten; der Abstammung und Muttersprache nach sind gut 80 Prozent deutsch, etwa 20 Prozent National-Argentiner oder Italiener, die namentlich auf dem Lande gern die deutsche Schule anstelle der häufig recht mangel haften Regierungsschule besuchen. Auch die Lehrkräfte sind zu 80 Prozent Deutsche, und zwar etwa 45 Prozent Deutsche und 85 Prozent Schweizer. Allerdings räumen nun keineswegs alle diese Schulen dem Deutschen eine so überragende Stellung als Lehrfach und Unter richtssprache ein, das; man sie schlechtweg als deutsche Schulen bezeichnen könnte. Das ist nur bei deu größeren Schulen in Buenos Aires, Belgrano, Barracas, Rosario, Cordoba usw. der Fall, während bei der überwiegenden Mehrzahl Deutsch und Spanisch gleichgestellt sind, in manchen sogar das letztere über wiegt, ohne daß übrigens dadurch die Schulen den deutschen Charakter ganz verlören. Was die Leistungen dieser Schulen für die Deutscherhaltung der sie besuchenden Jugend anbetrifft, so gehen die Urteile aus einander. Allerdings gibt es Fälle, wo die Kinder deutsch-argen tinischer Eltern in den Städten bis in die dritte, ja vierte Geschlcchts- folge deutsch geblieben sind, doch handelte es sich dabei immer um rein deutsche Familien, in die kein fremdes Blut gekommen ist, meistens auch um solche, die ihre Kinder lange Zeit dem Einfluß ihrer Umgebung entziehen und nach Deutschland schicken konnten; in der Mehrzahl der Fälle vermag sich das Deutschtum bisher nicht so lange zu behaupten. Größer ist der Widerstand gegen die Romanisierung auf dem Lande, und zwar besonders bei einigen russisch- und schweizer-deutschen Siede lungen, die in ihrer großen Abgeschlossenheit einen natürlichen Schutz gegen die Entdeutschung haben. Eine größere Sicherheit gegen diese Gefahr und damit eine tiefergehende Beeinflussung der deutsch-argentinischen Jugend im Sinne der Weckung ihres deutschen Volksbewußtseins erwartet der Verfasser der genannten Schrift von einem weiteren Ausbau und einer Gliederung der deutsch-argentinischen Schulen in eine Unterschule, Mittelschule, und Oberschule, die ungefähr den Lehrstoff von der Volksschule, bis zur Oberrealschule vermitteln, und zwar niemals als bloße Lernschule, sondern stets auch durch alle Stufen als Pflege stätte deutscher Gesinnung wirken und auf Deutschland als die geistige Heimat der Schüler Hinweisen müßte. Vor allem aber müßte darauf hingearbeitet werden, auch die deutsche Lehrerschaft Argentiniens einheitlich zu organisieren und die Schule zum Mittelpunkt aller nationalen Lebensäußerungen der betreffenden deutschen Siedelungen zu machen. Ansätze zu solchem Zusammen schluß im Zeichen der Schule sind bereits vorhanden; in dem Maße, wie sie sich ausgestalten werden, wächst auch die Hoffnung, daß es gelingt, das Band zwischen der großen Masse der deutschen Bewohner Argentiniens und der deutschen Volksgemeinschaft auf lange, vielleicht auf unabsehbare Zeit zu erhalten. K. Schneider. * Jubiläum der Huurtsrlzf Rsvis^v« (London). — Aus London wird uns geschrieben: »Dieser Tage erschien die Jubiläumsnummer der »tjuar terl)- lievisv«. Daß der Umschlag dieser Zeitung khakifarben ist, hat seinen guten Grund; denn von Anbeginn ist sie zu Felde gezogen gegen ihren großen Nebenbuhler die »Läinbui^d Uevien«, deren blau- und orangefarbener Einband schon anzeigt, daß sie unter der Flagge der Liberalen segelt. Die »Lckinburxb Uoview« war einige Jahre vor der »Huarterlz?« von einem schottischen Ver leger gegründet worden, um die zu Anfang des neunzehnten Jahr hunderts im Königreich vorherrschenden Ideen der Whig-Partei zu fördern und in der Menge fruchtbringend zu verbreiten. John Murray, der das von seinem Vater ererbte Verlagsgeschäft über nommen hatte, stand in regem Geschäftsverkehr mit dem Hause Constable in Edinburg, dem Verleger Walter Scotts, und wußte somit aus erster Quelle, welche glänzenden Geschäfte jener mit der Zeitschrift machte. So kam ihm der Gedanke ganz natürlich, auch seinerseits eine Vierteljahrsschrift ins Leben zu rufen, und der ge- eignete Augenblick erschien, als Scott, durch eine abfällige Be sprechung seines Gedichtes »Marmion« beleidigt, der Edinburger den Rücken kehrte. Scott war dermaßen erzürnt, daß er nicht nur seine Mitarbeiterschaft aufgab, sondern sich sogar die weitere Zusendung der Revue verbat, und in der ursprünglichen Abonnentenliste soll sich gegenüber seinem Namen das Wörtchen »8topt« (eigentlich 8ioppecl) finden, in der Handschrift Constables selbst, deren energischen Zügen man den Unmut des Verlegers ansehen will. Scott näherte sich Murray und schrieb gleich für die erste Nummer der »Hourtsrl^« drei Essays. Dies ergibt sich aus bio graphischen Mitteilungen; denn gezeichnet waren die Aufsätze in beiden Zeitschriften nicht. Erst seit einigen Jahren erscheint der Name der Verfasser wenigstens unter einigen der Beiträge in der Bei dem lebendigen Interesse, das in der Blütezeit der Vierteljahrsschriften ihrem Inhalt entgegengebracht wurde, war dies auch garnicht nötig; man sprach so eifrig über sie in allen literarischen und politischen Kreisen, daß die Urheberschaft nichts anders als ein lautes Geheimnis war. In der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts bedeuteten beide Zeitschriften eine Macht, wie sie heute höchstens noch von der täglichen Presse ausgeübt wird. Wir leben zu schnell, als daß die Geister sich ein volles Vierteljahr gedulden sollten, bis sie sich die Lage der Dinge von den Priestern der Kritik ins rechte Licht rücken lassen. Damals indessen vermochte ein Aufsatz in einer der beiden Vierteljahrsschriften das Schicksal eines Dichters, die Herr schaft eines Staatsmannes zu entscheiden. Ist doch oft genug die Anekdote aufgetischt worden, wonach Keats sich die wegwerfende Kritik seines Epos »Endymion« derart zu Herzen genommen haben soll (in der Aprilnummer 1818 der »Hurn-terl)'«), daß er sie nicht lange überlebte! Das eine ist jedenfalls wahr, daß man damals Kritiken mit einer in Galle getauchten Feder schrieb, wie sie seitdem kein Redakteur und auch kein Leser mehr dulden würde. So etwas verschaffte aber den Zeitschriften Leser. Nachdem Murray nicht ohne schwere Opfer und angestrengte Arbeit die Hindernisse der Anfangszeit überwunden hatte, brachte ihm seine Revue Ansehen und Gewinn. Im Dezember 1811 machte er bereits seinem Redakteur Gifford ein Geschenk von zehntausend Mark, woraus man schließen darf, daß die Zeitschrift begann sich bezahlt zu machen. Die Honorarfrage wurde stets liberal behandelt: Lockhart (Walter Scotts Schwiegersohn) bezog 28 000 .k Jahresgehalt als Redakteur (ebensoviel, wie Jeffrey als Herausgeber der »käinbur-AÜ keview« erbielt), und einzelne Beiträge wurden mit zweitausend Mark vergütet. Diese Beiträge sind fast ausschließlich Besprechungen von Büchern, und die Auf zählung der letzteren steht regelmäßig an der Spitze eines jeden Beitrags. Aber es ist die Eigenart der Revuen und die geistige Bedeutung der Mitarbeiter, die es zuwege bringen, daß die Kritiken nur der äußere Vorwand für eingehende und umfassende Behandlung der aus dem Material sich ergebenden Themata sind. Jeder Kenner der Literaturgeschichte weiß, daß die berühmten Essays Macaulays nichts anderes als solche Bücherbesprechungen sind, die er ursprünglich für die Edinburger Zeitschrift geschrieben hat. In den beiden Zeitschriften schulte und bildete sich die Feder zur Aus gestaltung jener spezifisch englischen Eigenart, dem Essay. Zur Zeit, da dieser in höchster Blüte stand, erfreuten sich auch die beiden großen Vierteljahrsschriften ihres bedeutendsten Einflusses. Wenn die Edinburger einen Essay aus der Feder Macaulays brachte, schwoll die Auflage zu 50 000 Exemplaren und mehr an und selbst in gewöhnlichen Zeiten hatte die Quarterly 10 000 Abonnenten und (wie ein Eingeweihter schrieb) fünfzigmal zehn tausend Leser. John Murray hatte sein altes Geschäftslokal in Fleetstreet mit dem vornehmen Hause im Westende Londons, in Albemarle- street, vertauscht, in dem seitdem Generation auf Generation der berühmten Buchhändlerfamilie ihr Heim gefunden hat. Hinter den vom Londoner Ruß geschwärzten Ziegelmauern bergen sich 757*