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174, 29. Juli 1918. Redaktioneller Teil. ster schreiben. Er hieß Störtebein und war ein höchst kurioses Menschenkind. Sein System bestand darin, daß er erstens seinen Scholaren die Finger rieb und knickte, um ihnen sein handschrift liches Ideal einer beinahe horizontal liegenden Schrift anzuge wöhnen. Das Schreiben aber mußte in streng rhythmischer Weise vor sich gehen. Lies zu erzielen, ging er in der Stube auf und ab in den höchsten Tenvrtöncn singend. Um das Wört chen »und« zu schreiben, skandierte und sang er z. B.: ein Strich, ein Zug, ein Strich, ein Zug, ein Strich, ein Zug, ein Auf, ein Schleif, zurück ein Dach. Ich quälte mich umsonst, die Sache wurde nur schlimmer. Die Verzweiflung war groß. Da er barmte sich meiner der liebe Herr Borchardt. Er hatte eine prachtvolle Handschrift, nahm mich vor, erklärte mir, worauf es ankomme, schrieb mir Vorlagen, die ich nun mit mir jetzt noch wunderbar vorkommender Energie nachmalte. Abends bis in die Nacht hinein, Sonntags an allen Nachmittagen mich übend, bekam ich endlich doch wenigstens eine leidliche Hand. Herrn Störtebein begegnete ich noch einmal in meinem Leben als Schmierendirektor auf dem Dorfe Thekla bei Leipzig, wo er seinen schönen Tenor besser verwenden konnte. Nun wurden mir die Geschäftsbücher wieder erschlossen. Ich durfte Avise schreiben und die Auslieferung der kleinen Verlegerkommiiten- den übernehmen. Es waren die Firmen: Graß, Barth L Co. in Breslau, Koch in Greifswald, Kesselring in Hildburghausen und Handel in Oberglogau. Letzterer hatte nur einen, aber recht gangbaren Verlagsartikel: »Das fehlerhafte Pferd«. Ich sehe das unglückliche Geschöpf noch vor mir, das sämtliche mög lichen und unmöglichen Leiden auf seinem Leibe trug. Das Hartmannsche Geschäft lag in der Königstraße, einer beliebten Buchhändlerlage wie heute noch, aber damals eine gar stille Straße, die an ihrem Ende nach der Talstraße von dieser durch ein eisernes Gitter abgeschlossen war. Infolgedessen sah sie daselbst mehr einer fröhlich grünenden Wiese als einer städtischen Straße ähnlich. Unsere nächsten Nachbarn waren Salomon Hirzel, E. Keil, G. E. Schulze, Herbig-Grunow, Otto Aug. Schulz, der kleine Gründer des Buchhändleradretzbuchs und ge lehrte Autographenhändler und -kenner. Diese Nachbarschaf ten waren für mich von größter Bedeutung. Ich wurde häufig zu ihnen geschickt, wurde ihnen bekannt und fand hierdurch eine tiefgehende Förderung meines Berufslebens. Hier muß ich vor allem des lieben, hochbedeutenden Mannes Salomon Hirzel gedenken. Mit seinem Neffen, als meinem ein zigen Schulfreund, innig befreundet, war ich ihm bekannt, und so gelang es mir, in Salomon Hirzel einen väterlichen Freund zu gewinnen, der auf mein künftiges Leben den größten Ein fluß ausübte. Zu ihm kam ich fast täglich. Wir hatten bei Hart- manns weder das Börsenblatt noch irgendwelche Kataloge. Trafen nun, wie es damals oft geschah, Verlangzettel der Sor- timentskommittenten ohne Verlegernamen ein, so ging man mit ihnen zu Herrn Strabel, einem Gehilfen im Hause C. H. Reclam sen. Das war geradezu fabelhaft, mit welcher Sicherheit dieser Manu aus dem Kopf verkehrte Titel richtigstellte und die Ver leger hinzufchrieb. Ich zog es vor, zu Hirzel zu gehen und selbst in den Katalogen zu suchen. Hierbei half er mir freundlich, führte mich in die Kunst der Bibliographie ein, ließ mich auch Antiquariatskataloge studieren und förderte mich, da er sah, daß ich großes Bücherinteresse hatte, in jeder Weise. Als später ein mal sein einziger trefflicher Gehilfe, Herr Quandt, eine Bade kur gebrauchen mußte, wurde ich von Hartmann ausgeborgt und durfte die Auslieferung des schönen Verlags ausführen. Das war die schönste Zeit der vier Jahre meiner Lehre. Hirzel war, das werden alle bestätigen, die das Glück hatten, ihm näherzu treten, eine ganz besonders glücklich organisierte und begabte Natur. In ihm vereinigten sich Eigenschaften, wie sie für den Verleger eines wissenschaftlichen und literarischen feinen Ver lags nicht glücklicher sich finden konnten. Ein ruhiger, klarer, wohlüberlegender Kopf, war er ein vortrefflicher Geschäfts mann, seine große Bildung machte ihn zum Gelehrten. Seine Goetheforschungen und -arbeiten beweisen das. In seinem Charakter zeigte sich großes Wohlwollen bei vornehmer Zurück haltung, Humor und feiner Sarkasmus, mit dem er ihm un sympathische Personen und Sachen glücklich von sich abwehrte. Um so stolzer konnten die sein, denen er ein freundliches Inter esse zuwandte und dauernd erhielt. Aber wie einfach lebte auch dieser Mann! Für seinen doch damals schon großen Verlag hatte er nur einen Gehilfen und einen Marktheiser, allerdings, wie dies das schöne Buch: »Gustav Freytag an Salomon Hirzel und die Seinen. Mit einer Einleitung von Alfred Dove. Als Handschrift für Freunde gedruckt. 1902« bezeugt, beide in ihrer Art ganz ausgezeichnete Menschen. In diesen Wochen, immer mit Hirzel zusammen, mach-e mir die Arbeit andere Freude als die trockenen Kommissions- arbeilen. Von den Auslieferungslagern abgesehen, kamen mir ja hier nur Bllcherpakete, keine Bücher in die Hand. Nur ein Umstand machte eins Ausnahme: Die für die Firma Wil liams L Norgate in London eingehenden Beischlüsse wurden ausgepackt, der Inhalt mit den Fakturen verglichen, rohe Bü cher zum Broschieren gegeben. Da habe ich der werten Firma manches Buch ungefragt entliehen, es bis zum Freitag, wo die großen Kisten gepackt werden mußten, mit nach Hause ge nommen und studiert. Alle für England bestimmten zur Aus fuhr gelangenden Bücher mußten damals wegen der literarischen Verträge gestempelt werden. Das besorgte jeden Freitag nach mittag ein Ratsdiener. Vorher mußte vom Rathause die schwere Stempelpresse abgeholt werden. Wie oft habe ich sie durch die belebte Grimmaische Straße mühsam geschleppt, während meine früheren Schulkameraden elegant bummelnd mich lächelnd und spöttisch betrachteten! Auch das hat mir nichts geschadet, so de mütigend es immerhin war. Der Ratsdiener kam dann ins Ge schäft, hatte die Stempelmatrize in der Westentasche, und das Stempeln der Sendungen begann. Da nun das abzustempelnde Material oft ein sehr großes war, hatten wir bald herausge bracht, daß, wenn man ein rundgeschnittenes Stückchen Pappe statt des Stahlstempels in die Presse klemmte, das Stempeln auch so ging. So stempelten wir, ehe die gesetzliche Autorität kam, möglichst viel aus eigener Autorität ab. Dem Herrn Rats diener blieb dies ungesetzliche Verfahren, da er das Stückchen Pappe in seiner Presse fand, nicht unbekannt, aber er war damit ganz einverstanden, und es kam wohl vor, daß, wenn einmal für ihn noch viel vorlag, er brummte: »Heute seid ihr aber faul ge wesen, ihr Ludersch!« Auch das Interesse und die Zuneigung unseres anderen Nachbars Ernst Keil konnte ich gewinnen. Dieser war eine ganz andere Natur wie Hirzel, derb humoristisch, demokratisch, aber auch ein Verleger von Gottes Gnaden. Seine Gartenlaube war recht eigentlich seine eigenste persönliche Schöpfung. Ihr Ent stehen, ihre Führung, ihr gewaltiger Aufschwung ist ohne Keils Persönlichkeit nicht zu denken. Ihr hatte er sein Leben, sein ganzes Denken und vor allem seine gewaltige Arbeitskraft ge widmet. Von Punkt 8 Uhr früh bis 8 Uhr abends mit zwei stündiger Mittagspause stand er an seinem Pult mitten unter seinen Leuten. So sah er alle und alles, was in sein Geschäft kam. Ging er abends nach Hause, so nahm er noch eine gefüllte Mappe zur Nachtarbeit mit. Nur einen einzigen Wochenabend gönnte er sich zu einem fröhlichen Kneipabend. Die Hauptper son der Kneipgenossenschaft war der bekannte Professor Bock, der Verfasser des Buches vom gesunden und kranken Menschen. Dieser derbe, humoristische Mann konnte eine fabelhafte Grob heit entwickeln, und viele Geschichten von ihm erfüllten die Stu dentenschaft und die Stadt. Nachstehende Geschichte, so un glaublich sie klingt, ist dennoch wahr, habe ich doch selbst ihr beigewohnt. Bock hatte mit Keil gewettet, er werde zu Pferde in sein Kontor kommen. Richtig, eines Vormittags kam er auf einem sonst als Droschkengaul dienenden Schimmel angerit ten. Er brachte das arme Vieh glücklich die drei Stufen hin auf, die in Keils Geschäft führten, an Keils Pult heran, schwenkte den Hut und strich seine Wette ein. Das dicke Ende aber kam nach. Hatte Bock sein Roß glücklich die Stufen hin aufgebracht, herunter konnte er es weder vorwärts, noch rück wärts, weder mit Zureden und Zucker, noch mit Hieben, Drän geln und Schieben bringen. Es blieb nichts übrig, als in stun denlanger Arbeit aus Bohlen und Brettern eine Brücke zu bauen, auf der der Schimmel mit verbundenen Augen rückwärts aus der Gartenlaube herausgeleitet wurde. Bis an sein Ende he 4ö'