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Redaktioneller Teil. ^ 174, 29. Juli 1918. Wohl mehr links?« fragt Slaps. »Nein, mehr nach rechts!« riesen wir boshaften Kerle. Stapfens Unruhe wuchs, denn in der Bofenstratze, die da lag, war ja das Etablissement. »Ich schließe de Stunde« rief er, nahm seinen Hut und stürmte da von. Wir ihm brüllend nach, beglückt über den frühen Schluß, um uns an der allgemeinen Feuersreude zu beteiligen. Bei solchen Dummheiten, an denen ich wacker teilnahm, lief das Gesäß meiner Sünden voll, und bald kam es zum Über laufen, und die maßgebenden Gewalten beschlossen, den nichts nutzigen Schüler von der Schule zu nehmen. Es ging mir also wie so vielen Jünglingen. Die wichtigste Frage, die nach dem «ebensberuf eines Menschen, wurde mehr dem Zufall als wohl- weislicher Überlegung überlassen. Keiner der mich Führenden Halle das geringste Verständnis für den Buchhandel. Was mich später besonders wunderte, war, daß man die sonst so hochge achtete Familientradiiion durchaus nicht beachtete. Seit dem 17. Jahrhundert war nie ein Z. etwas anderes gewesen als Pastor, Beamter, Gelehrter. Der Geschäfts- und Erwerbssinn war also nicht das, was die Familienglicder auszeichnete. Mir armem Jungen war es Vorbehalten, die lange Reihe studierter Vorfahren zu unterbrechen. Auch darnach fragte man nicht, wo denn Wohl für einen künftigen Buchhändler die geeignetste Lehr stelle sei. Hätte man das überlegt, so hätte man mich wohl nicht einem Kommissionsgeschäft, sondern einem guten Sortiment übergeben. Aber man kannte näher nur einen einzigen der ble cken Buchhändler Leipzigs, Herrn Rudolf Hartmann. Er war bereit, mich in die Lehre zu nehmen. Wie anders damals als jetzt! Eine vierjährige Lehrzeit wurde bedungen. Man hielt es noch für günstig, daß kein Lehrgeld gefordert wurde. So waren für vier Jahre recht geringe Weihnachtsgelder, von zwei auf acht Taler steigend, mein einziger Erwerb. Bitter für meine arme Mutter, die noch zwei Söhne studieren lassen sollte. Sehr bangen Herzens ging ich am 1. Januar 1856 zu Hart mann. Rudolf Hartmann war ein lieber, braver Mann, der sein schönes Kommissionsgeschäft mit ungemeinem Fleiß bediente. Ich glaube, daß damals mehr gearbeitet wurde als jetzt; namentlich verglichen mit diesen bösen Tagen, wo die Polizei zu einem Schluß um 7 Uhr abends zwingt. Daran dachte da mals in Leipzig niemand. Sommerurlaub gab es nicht, auch die Sonntagsvormittage wurden regelmäßig verarbeitet. Frei ings wurde in den meisten Kommissionsgeschäften bis tief in die Nacht hinein, ja mitunter die Nacht hindurch gearbeitet. Ich verkenne nicht, daß dies unerfreuliche Zustände waren und daß es jetzt besser ist; ich erwähne es nur, um unzufriedenen Seelen von heute vorzuführen, wie gut sie es im Vergleiche mit ihren Vorfahren haben. Mein Lehrherr war von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr an seinem Pulte tätig, auch die untergeordnetsten Arbeiten, wenn es sein mußte, besorgend: Avise ansagen, Pakete und Ballen packen, sie einnähen, signieren, alles verstand und erledigte er bis ins Alter hinein. Und wie bescheiden waren alle Äußerlich keiten! Weder Hartmann noch Keil hatten ein eigenes Zimmer, sie arbeiteten, mitten unter ihren Mitarbeitern sitzend. Eine für heutzutage vorbildliche Sparsamkeit herrschte im Hartmann- schen Geschäft. Jedes eingehende Briefkuvert wurde umgewen det und nochmal benutzt. Für Verlangzettel, Fakturen usw. wurde nie Papier gekauft. Alte Naumburgschc Wahlzettel, alle leeren Blätter von Rundschreiben wurden hierzu gesammelt. Neues Packpapier habe ich nie gesehen, aller alte Bindfaden wurde von Spittelweibern oder uns selbst geknüppelt. Ich wurde als neuer Lehrling von Hartmann beim Vornamen ge nannt und geduzt wie die Markthelfer, nur die Gehilfen nann- ; n mich Sie, aber auch stets beim Vornamen. Drei Herren waren als solche tätig, die Herren Borchardt, Hartwig und Wartig. Sie kamen mir sehr freundlich entgegen, nahmen sich meiner an, und ich bewahre ihnen noch heute treue Erinnerung und Dank. Noch wichtiger waren für mich zunächst die Markt helfer, derer wir zwei hatten, einen uralten, schon etwas wack ligen Mann, dessen Namen ich vergessen habe, und den jüngeren: August, den dirigierenden Geist der Markthelssrei und im ge wissen Sinne das Universalfaktotum des Geschäfts. August machte alles, fuhr aus, holte Empfohlenes ein, packte Ballen. Wie er alles sertigbrachtc, weiß ich heute noch nicht. Ich merkte bald, wie wichtig einem Kommissionsgeschäft tüchtige Markthelfer sind. Es wird heute noch so sein, aber die Welt von damals ist eine andere geworden, und die geruhigen, behaglichen Verhältnisse sind für immer verschwunden. Es gab damals keine Standesorganisation, keine Gedanken an Streik und ge- meinsamcs Durchdrllcken erhöhter Löhne, häufigen Stellenwech- sel. Die große Mehrzahl dieser braven Leute hielt in ihren alten Stellungen aus, bis die Kräfte versagten, und gingen von ihren Prinzipalen treu versorgt in einen ehrenvollen Feier abend. Als Zeichen meiner neuen Würde drückte mir August einen Kehrbesen, einen Handbesen und ein Wischtuch in die Hand. Hiermit hatte ich jeden Morgen den Paketkasten zu reinigen. Auch die Öllampen hatte ich herzurichtcn, und August belehrte mich, daß ich nur am Dochte etwas zu »nutschen« hätte, wenn sie nicht brennen wollten. Das waren für den früheren Sekun daner recht demütigende Zumutungen. Sie hörten glücklicher weise bald auf, geschadet haben sie mir nicht. Aber welch ein anderes, neues Leben kam über mein jugendliches Dasein! Mit einem Schlage waren alle Späße, alle Dummheiten vorbei. Es blieb nur die große, große Arbeit. Mit ihren eisernen Zangen packte sie mich, um den heute fast Achtzigjährigen noch festzuhal- te». So ging es in die Lehrzeit hinein, und allmählich gewöhnte ich mich an das neue Leben und fand auch die heiteren Seilen der Arbeit heraus und konnte sie würdigen. Hierzu waren es wieder August und sein alter Kollege, die dazu verhalfen. August hatte die greuliche Gewohnheit, fortwährend den Wunsch aus zusprechen : »Gott verdamm' mich l«. Es war sein drittes Wort. Er variierte es in Gott verdemmich, -dummig, -dimmig, ja bis zu Gott Verde- und -dudemich. Ich hatte gewiß nur wenige Groschen als Taschengeld, das ewige Gefluche war mir aber so schrecklich, daß ich Augusten ein Glas Bier versprach, wenn er nur eine Stunde lang das Dammich unterlassen würde. Aber ich erlangte nicht viel. Nach einer knappen halben Stunde rief August: »Nun habe ich aber eine Stunde lang nischt gesagt. Gott verdamm' mich. Her mit'm Bier!« Beim Ansagen für die Avise hatten sich August und sein Kollege in ihrem scheußlichen Leipziger Dialekt eine nur dem Eingeweihten verständliche Namengebung geschaffen: Därr- lons für Alphons Dürr, Gehlersche für Koehler, Hart leib für Hartleben, Hallunke für Hallberger, Duncker und Humpeltopp für Duncker L Humblot und andere, noch schlimmere Verdrehungen. Gab es nichts anderes zu tun, so wurden die Abendstunden bis zur letzten Minute ausgenutzt mit Bindsadenknüppeln, Ausstreichen von altem Pa- Pier und Pappen und ähnlichen sparsamen Arbeiten. Da standen die Gehilfen und ich mit den Markthelfern zusammen und er munterten den alten E., wie Barchewitzen in dem schönen Ge dicht von der Schlacht bei Dresden, seine Taten zu erzählen. Auch er hatte unter Napoleon oder Nabolijon,.wie er ihn nannte» gedient, nicht viel von Schlachten und Kämpfen erlebt, sondern in der Hauptsache nur Schildwache gestanden, rekriwiert, das sollte wohl mausen bedeuten, und immer viel Schnaps getrunken. Das Schildwachestehen betreffend, erzählten alte Leipziger, daß bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein am Wageplatz eine Schildwache auszog, von der niemand be greifen konnte, was sie gerade dort bewachen sollte. Endlich ging ein neuer Major der Sache in den Befehlsbüchern nach, und da stellte es sich heraus, daß anno 1815 an dem Fleck Kanonen auf gefahren waren. Diese waren am dritten Tage abgefahren, die Schildwache aber noch zwanzig Jahre lang geblieben. Die Helenamedaille aber bekam der alte tapfere Krieger und Hart- mannsche Markthelfer und trug sie stolz bis an sein Lebensende. Eine Quelle großen Jammers und Not war meine miserable Handschrift, die ich von der Schule mitbrachte. Hartmann war ganz unglücklich darüber, man sprach schon davon, daß ich ihret wegen nicht im Geschäft bleiben könnte. Da sah er, daß in der Nähe ein Wundermann sich etabliert hatte, der auch die schlech- teste Hand in einigen Stunden in eine elegante flotte Schrift zu verwandeln versprach. Dem Manne wurde ich zugesührt und mußte nun nach Geschöftsschluh von 8 bis 1V Uhr bei dem Mei»