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174. Lg. Juli 1918. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. den, und wissenschaftlichen Sinn. Er wurde mir ein bewunder tes Vorbild, dem gegenüber meine Leistungen namentlich im Anfang sehr abstache», aber er lieh es mich nicht merken, son dern förderte mich, wo und wie er konnte. Seine Freunde hoff ten immer, er werde einmal die alte Firma übernehmen und sie zu neuem Glanze führen. Es kam nicht dazu, aber sein unter eigenem Namen gegründetes Geschäft wurde später eine Zierde der Hamburger Buchhandels. Neben Gräfe war mir Fritz Vogel aus Göttingen, der Sohn des Besitzers der Dieterichschen Buch handlung, ein lieber Gefährte. Der stattliche, sehr hübsche Mann hatte vielen Humor. Alles ließ hoffen, daß er einmal ein glück liches, reicht gesegnetes Leben haben werde, aber er trug den Keim eines frühen Todes in seiner Brust und starb in jungen Jahren als Besitzer der Firma Meyer L Zeller in Stuttgart. Ein dritter Gehilfe, Geißler aus Bremen, verließ bald das Haus. Er kam mir nicht näher. Als ich ins Geschäft kam, bestand noch die alte gute Sitte, daß wir Gehilfen Wohnung und Kost im Hause des Prinzi pals hatten. Das hörte leider bald auf, aber zunächst erleichterte es mir den Übergang aus dem häuslichen Leben in die Fremde sehr. Die liebenswürdigen Damen des Hauses, an ihrer Spitze die ehrwürdige Mama Besser, Frau Mauke, die Mutter der Brüder, und ihre Tochter hatten ein warmes Herz für uns, küm merten sich freundlich um uns und zeigten uns, »was sich schickt«. Im Anfang war ich, wie gesagt, eine nur wenig leistende Kraft, kam ich doch ohne Sortimenlskenntnisse aus einem Kommis sionsgeschäft, aber meine große Liebe für Bücher, die Nachsicht und das Beispiel meiner Kollegen halfen mir vorwärts. Aber kalt war es im Winter, zum Erbarmen. Auf den unheizbaren Lagerräumen erfroren mir die Hände, und bei jedem Einräumen, besonders des rohen Lagers, ging es ohne blutige Finger nicht ab. Klagte man hierüber, hieß es Wohl scherzhaft: »Ach was, arbeiten Sie sich warm!« Es bestand tm Hause die hübsche Sitte, daß die gegen Abend eintreffenden Leipziger Ballen noch ausgcpackt wurden. Die Sendungen wurden in Verlangtes, Fortsetzungen und Neuigkeiten sortiert. Diese letzteren wurden auf einem Fensterbort ausgelegt, und es war uns nicht nur erlaubt, sondern war auch erwünscht, daß wir sie ordentlich ein- und ansähen. Die Geschäftszeit dauerte bis abends neun Uhr, aber wie gerne verlängerte ich sie an diesen Abenden! Im Laden war nicht allzuviel Verkehr, aber es kamen doch zu wiederhol tem und längerem Besuch manche interessante Persönlichkeiten, von denen auch ich etwas lernen und profitieren konnte. Ich er innere mich besonders des bekannten alten vr. Julius <1733— 1862). Er war getaufter Jude, Arzt und großer Kenner der spanischen Literatur. In seinem hohen Alter interessierte er sich sehr für die Reform des Gefängniswesens, und es freute ihn, auch mich für seine Bestrebungen zu gewinnen, sodatz mir noch heute viel Sinn für Strafvollzug und Gefängniswesen geblieben ist. Dann war der damalige österreichische Gesandte Baron Blome, der als Konvertit eine rege Tätigkeit im katho lischen Interesse betrieb, ein eifriger Besucher des Hauses. Die Ansichtssendungen wurden fleißig und gewandt vorgenommen. Jede zu verschickende Novität wurde mit Titel und Preis in eine Strazze eingetragen, darunter die Namen der sogleich oder später zu versorgenden Kunden. Das Registrieren und Über tragen dieser Posten war aber eine umständliche, langweilige Arbeit, die sich praktischer hätte einrichten lassen. Mit der Zeit gewann ich angenehmen Verkehr, namentlich in Familien, die der damals beginnenden Bewegung der inne ren Mission ihr Interesse zuwandten. Ich lernte den berühm ten vr. Wichern kennen und verkehrte viel in seinem Rauhen Hause. Hamburg hatte damals mehrere sehr bedeutende Pa storen, wie es Wohl immer solche gehabt hat und noch heute habe» wird. Sie waren von großem Einfluß auf mich. Das Beste aber waren und blieben meine lieben Kollegen. Keine Differenzen, keine Zänkereien störten unfern herzlichen Verkehr. Mit ihnen wurden hübsche Sonntagsausflüge gemacht. Sie hänselten mich viel meines sächsischen, trotz aller Mühe nie über wundenen Dialekts wegen, der es mir z. B. schwer, wenn nicht unmöglich machte, den Ortsnamen Poppenbüttcl, wohin wir mitunter ptlgerten. richtig auszusprechen. Seit meinem Eintritt bei Perthes, Besser L Mauke kostete ich meiner Mutter keinen Groschen mehr. Es ging schwer, aber es mußte gehen. Freilich mutzte ich mich manchen Abend mit förn Soßltng Pfefferkuchen begnügen und Hamburg verlassen, ohne die gewünschte Reise nach Helgoland und der Nordsee machen zu können. Drei Jahre vergingen so rasch. Sie hatten mich tm Berufe und innerlich doch gefördert, und ein anderer, als ich gekommen war, verließ ich das schöne Hamburg. Ich hatte immer große Sehnsucht, es wiederzusehen; aber erst nach 51 Jahren war mir die Rückkehr dahin vergönnt. Wie war cs verändert, wie großartig flutete das Leben! Zu meiner Zeit mußte man an den Toren einen Sperrgroschen abends zahlen. Hier standen blauhosige dänische Soldaten, in Altona blonde, blauäugige germanische Gestalten. Hamburg hatte nicht weniger als fünf, verschiedenen Verwaltungen angehörende Postanstalten: die Hamburgische mit Schillings- und Soßlingsmarken, die preu ßische, hannöverischc und Turn- und Taxissche und dänische Post. Jetzt das große Deutsche Reich! Nach zwei Monaten dieses Wiedersehens der Weltkrieg! Viel habe ich auch später von der Welt nicht gesehen. Erst im Jahre meiner silbernen Hochzeit konnte ich meine erste Alpenreise machen, die große Sehnsucht, Italien zu sehen, habe ich nie befriedigen können und hätte doch in Venedig, Florenz und Rom als Cicerone dienen können durch unendliches Studiere» der einschlägigen Literatur. Jetzt wür den weder Zeit noch Geld mich bewegen können, das treulose Land zu betreten. Wieder war es Salomon Hirzel, der mich veranlaßte, meine Schritte weiter zu setzen. Zwei Stellungen hatte er für mich bereit, eine Geschästssührerstelle bei Muquardt in Brüssel und einen Posten bei Gerold in Wien. Die elftere anzunehmen ge traute ich mir nicht, wegen meines recht fraglichen Französisch, aber Gerold und Wien lockten sehr. So nahm ich die zweite an und fuhr Ostern 1863 nach Wien. Als ich in den damals statt der Eisenbahn die Verbindung mit Harburg besorgenden Om nibus an der Petrikirche stieg, hörte ein Hamburger Kaufmann aus den Abschiedsgesprächen mein Reiseziel. »Sie wollen nach Wien, junger Mann? Da kann ich Sie nur beneiden. Es gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien«. Dies freundliche Omen hat mich nicht betrogen, ich reiste den schönsten Jahren meiner Wanderzeit entgegen. Wien 1863- 1868. Welch eine andere Welt tat sich meinen Augen und meiner suchenden Seele auf! In Hamburg das ernste, etwas steife Wesen der großen Welthandelsstadt, evangelisches, religiöses Leben, in Wien eine das Leben leichter nehmende Bevölkerung, heitere, musikliebende, singende Menschen südlichen Schlages, die Farbenpracht des Katholizismus. Es wurde mir nicht leicht, mich einzugewöhnen, zumal ich zunächst in meiner Dummheit eine scheußliche Wohnung gewählt hatte. Um in mein Zimmer von der Größe eines Dorftanzsaals, aber nur mit einem Fenster versehen, zu gelangen, mußte ich, nachts nach Hause kommend, drei besetzte Schlafzimmer passieren: erstens das der Meister leute, dann das der Gesellen und zuletzt das der Mägde. Aber im Zimmer war ich nicht viel, im Geschäft dagegen war ich gleich heimisch. Wie großartig mutete mich das rege Leben und Treiben darin an! Die Tür ging fortwährend, es gab einen stattlichen Barverkauf. Dieser sollte in ein großes, nicht ge rade säuberlich gehaltenes Kassabuch eingetragen werden, Kon trollkassen kannte man nicht, jeder sollte das von ihm Verkaufte buchen, geleistete Zahlungen sogleich selbst verbuchen. Aber der Verkehr war zu groß, als daß nicht viel vergessen worden wäre. Da gab es dann abends ein stattliches Plus. Nun wurde jeder herangerufen, ein großes Nachsinnen ging los, man war aber zufrieden, wenn das Plus nur etwas gemindert wurde; ein glatter, stimmender Abschluß wurde niemals erzielt. Vom alten Herrn Gerold wurde erzählt, er habe abends beim Kasfenschluß den Kassenbetrag, soweit er eingetragen war, in die rechte Hosen tasche gesteckt, das Plus aber in die linke und dieses als sein abendliches Spielgeld verwendet. Waren nun seine Leute ein mal ordentlicher als gewöhnlich gewesen, so habe er unzufrieden 461