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1690 Nichtamtlicher Theil. ^ 10S, 4. Mai. Nichtamtlicher Theil Zum hundertjährigen Geburtstage von Friedrich Arnold Brockhaus. I. Am 21. April, dem Jubilatesonntage, feierte die buchhänd- leriscbe Welt das Andenken an Friedrich Perthes, der im I. 1772 an diesem Tage geboren ward, und schon ist sic wieder in der Lage eine ähnliche Feier zur Erinnerung an einen andern Koryphäen des deutschen Buchhandels zu begehen, an F. A. Brockhaus, der fast ganz zu derselben Zeit, nur 14 Tage von dem Geburtstage seines einstigen Kollegen getrennt, vor hundert Jahren am 4. Mai das Licht der Welt erblickte. Man könnte es ein bestimmungsvolles Zu sammentreffen von bestem Omen nennen, daß zwei der bedeutendsten Förderer des buchhändlerischcn Lebens in Deutschland, namentlich des nationalen, volksthnmlichen Zugs in demselben, so nahe an ein ander geboren werden mußten, wenn das Schicksal es nicht auch zu gleicher Zeit gewollt hätte, daß, während der Eine das Glück hatte, das höchste gesegnete Greisenalter, eine wahre ssueetu« viriäis zu er reichen, von der es mit Recht heißen konnte: „was man in der Ju gend wünscht, das hat man im Alter die Fülle", — dem Andern die Bestimmung zusicl, mitten im besten Mannesalter, eben da aus der Welt zü scheiden, wo er endlich nach vielen Mühen und rastlosen Anstrengungen ansing, die Früchte seiner unermüdlichen Thatigkeit theils zu kosten, theils noch mehr sie zu reicher Ernte heranreifen zu sehen. — Das Fatalistische in diesem Zusammentreffen verschwindet jedoch, wenn wir es als ein historisches Gesetz betrachten können, daß sich jede Zeit die ihr nothwcndigcn und zusagenden Werkzeuge unter den vorhandenen Männern bildet, so daß es also ganz natür lich war, daß dieselbe große Zeit analog auf zwei gleichalterige Na turen wirken und sie nach demselben Ziele, einen jeden nach seiner individuelle» Weise, zu ringen befähigen mußte, wenn sie sonst nur verhältnißmäßig eine analoge Tüchtigkeit darboten. Das Ominöse also verschwindet in der concreten Erscheinung, oder löst sich vielmehr in die Tüchtigkeit der Charaktere und die Bedeutsam keit der Zeit auf. Denn das ist eben das hoch Bedeutsame bei beiden Männern, namentlich bei F. A. Brockhaus, daß sie nicht nur die wackersten Vertreter ihres Standes, die tüchtigsten Männer in ihrem Fach, sondern noch mehr, daß sie höchst bedeutende Menschen überhaupt, und endlich noch bei weitem mehr, daß sie Repräsen tanten ihrer Zeit waren, in denen sick die Einflüsse und Bestrebun gen, die Empfindungs- und die Denkweise, die Anschauungen und die Neigungen derselben concentrirten und sich persönlich gestalteten, indem sie mit deren specieller Verufsthätigkeit sich in eine fruchtbare, segensreiche Wechselwirkung setzten, so daß man sagen kann, in Per thes und noch mehr in Brockhäus sei das Wesen der Neuzeit auch auf buchhändlerischem Gebiet erst so recht zur Erscheinung gekommen und habe durch sie besonders Körper und Gestalt gewonnen. Die Wahrheit dieser Ansicht drängt sich uns durch ein vor kurzem erschienenes, auch in d. Bl. besprochenes Buch mit erneuter Thatsächlichkeit auf, wir meinen Karl Bnchner's Schrift: „Aus den Papieren der Weidmannschen Buchhandlung", das eine höchst inte ressante Schilderung des Buchhandels in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und spcciell PH. E.Reich's, den man als den Prototyp des tüchtigen Buchhändlers jener Zeit ansehen kann, uns gibt. Es bedarf weiter nichts als die Nebeneinanderstellung Reichs' und Brockhaus', oder die Lectüre des eben erwähnten Buchs neben der des eben erschienenen ersten Theils von „Friedrich Arnold Brockhaus" aus der Feder von des Leistern Enkel, vr. Eduard Brockhaus, um sich der Verschiedenheit in allen ihren Beziehungen bewußt zu werden, die zwischen dcrZeit und den Men schen vor 1789, und denen nach 1813 herrscht. Während alles dort noch starr, jeder auf sein Handwerk, sein Fach, seinen Beruf, seinen Stand, die alle streng auseinander gehalten werden, beschränkt ist, so daß auch die Tüchtigen nur in ihrem Bereich von Einfluß sind, und nur ganz unmerklich, fast unbeabsichtigt und unbewußt aus die andern Berufs- und Standeskreise Einfluß gewinnen, geräth nach 1813 alles immer mehr in Fluß, man wird inne, daß selbst in den Sonderbcrufen und Sonderbestredungen kein wahrhafter fest be gründeter Fortschritt stattfinden kann, wenn nicht alle menschlichen Tätigkeiten in Wechselwirkung treten; daß aller Fortschritt auf dem einen Gebiete nur ein beschränkter, ja nur ein scheinbarer ist, wenn er nicht Hand in Hand mit der harmonischen Entwickelung aller Fähigkeiten und Thätigkeiten des Menschen geht; daß man das Höchste in Wissenschaft und Kunst nicht erreichen kann, wenn man noch auf einer untergeordneten, veralteten oder unentwickelten Stufe des Staats und gesellschaftlichen Lebens stehen geblieben ist; daß auch bas tiefste und lebendigste religiöse Leben ohne ideale Nach wirkung bleibt, zur Stagnation, ja zum Rückschritte sichren muß, wenn die materielle Seite des menschlichen Daseins in rohem Zu stande geblieben oder in starre Formen geschlagen ist; daß alle ein seitige Gelehrsamkeit in den einzelnen Fächern der Wissenschaft schließlich zu einem dürren, unfruchtbaren Kram werden muß, wenn sie nicht von dem geistigen Leben, das das Wesen des ganzen Menschen constituirt, durchdrungen und dadurch zu der Erkenntniß gekommen ist, daß alle Thätigkeiten des Menschen aus einer Quelle fließen und sich gegenseitig beeinflussen, beleben und befruchten müssen, wenn sie gedeihen wollen; daß alles einseitige Abschließen in Wissen schaft und Kunst zur Scholastik und zum akademischen Zopf, im Gewerbsleben zum Handwerk und zur Zunft, im religiösen Leben zum Zclotismus und zu alleinseligmachenden Kirchen und Seelen, im socialen zur Erclusivität und im politischen zu strengen Standestrennungen, ja zum Kastenwesen führen muß. — Dies ist der Gedanke, welcher die Signatur der neuesten Zeit bildet, und derselbe ist es auch, welcher das ganze Wirken F. A. Brockhaus', als Menschen wie als Fachmanns, auf der großen Arena des Zeit geistes wie in seinem speciellen Beruf kennzeichnet. Er ist einer der ersten Buchhändler gewesen, in denen jener Gedanke, sei es nun mehr bewußt, oder mehr instinctarlig, nicht bloß lebendig wurde, sondern sich auch durch schöpferisches Wirken in ihrem Beruf bethä- tigte. Darum wird er auch mit Recht zu den Koryphäen gerechnet, welche den Buchhandel, indem sie ihn mit neuem Geiste durch drangen, auf neue, fruchtbarere Bahnen geleiteten. Früher war der selbe nur ein Werkzeug des literarischen Lebens; seitdem ist er immer mehr ein Organ des gesammten geistigen Lebens der Nation ge worden, nicht mehr bloß im Dienst der einzelnen Zweige der Litera tur, sondern im Dienst der gesammten geistigen Entwickelung des Volkes. Welch ein Unterschied aber auch in den Persönlichkeiten, wie sie die eine und die andere Zeit gestalten mußte! Bei aller Aehnlichkeit hinsichtlich der geschäftlichen Tüchtigkeit und Betriebsamkeit, sowie der persönlichen Ehrenhaftigkeit und Bildung, welch ein Unterschied doch zwischen Reich und Brockhaus in Betreff der allgemein mensch lichen Eigenschaften! Bei jenem ebenso strenge berufliche wie per sönliche Selbstbcschränkung, engster Horizont in Ansichten und Bestrebungen, Gleichgültigkeit, ja Unempfindlichkeit gegen alles, was außerhalb der eigentlichen beruflichen Sphäre lag — bei die sem der weiteste Blick auf das Allgemeine, Sinn für alles Wahre, Schöne und Gute, wo es auch auftritl, entschlossenes Ergreifen desselben, um es für den eigenen Beruf nutzbar, und diesen wieder nützlich für jenes zu machen, lebendiges, thätiges Eingehen auf alle