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4314 Nichtamtlicher Teil. 134. 13. Juni 1899. Darstellungen in Frage gestellt, ohne daß der Strafrichter oder die Polizei einznschreitcn imstande seien. Es sei Vor sorge zu treffen, daß, wenn die Fabrikation von direkt un züchtigen Darstellungen durch die Vorlage eingeschränkt würde, sich die Fabrikation von Schamlosigkeiten nicht noch mehr als bisher breit mache. Der Einwand, daß die Be stimmung sich gegen den Unterricht in der Bibel richten könne, sei unbegründet; ebensowenig wie die keusche Antike reize die Bibel zur geschlechtlichen Lüsternheit. Gegen die Regierungsvorlage sowohl wie die dazu ge stellten Anträge wurde ausgeführt, daß die Rechtsprechung des Reichsgerichts, welche früher den Begriff des Unzüchtigen zu eng gefaßt habe, sich letzthin wiederum einer weiteren Auffassung zuneige; dieser Umstand mache die Vorlage wie die dazu gestellten Anträge überflüssig, zumal im Hinblick auf den erweiterten 8 184 des Entwurfs. Der neue dehnbarere Begriff »Schamgefühl«, welcher in das Straf gesetzbuch eingeführt werden solle, würde in der Recht sprechung große Verwirrung Hervorrufen. Um dies zu verhindern und den Begriff des Schamgefühls näher zu präzisieren, müsse wenigstens in der Vorlage noch hinzu gefügt werden »und Sittlichkeitsgefühl«. — Ein nach dieser Richtung hin gestellter Antrag wurde jedoch zurückgezogen. Die Vorlage nebst den dazu gestellten Anträgen sei geeignet, die Kunst zu gefährden, und deshalb unannehmbar. Die Folge der Annahme wäre, daß z. B. die Ausstellung eines Apollo von Belvedere, einer Venus von Milo nicht mehr möglich sei. Ein Maler, der in einer Kunstausstellung seine Werke ausgestellt habe, würde sich strafbar machen, weil er zu geschäftlichen Zwecken ausgestellt habe. Die Polizei habe weitgehende Befugnisse, um gegen schamlose Darstellungen einzuschreiten. Reichsgerichtsrat St eng lein (Deutsche Juristenzeitung 1899 Nr. 7) halte den gegen wärtigen Rechtszustand für völlig ausreichend. Es sei ein Ding der Unmöglichkeit, im Wege der Gesetz gebung die geschlechtliche Lüsternheit aus der Welt zu schaffen. Was man erreichen wolle, den Schutz der Jugend gegen an gebliche moralische Verseuchung, könne nicht erreicht werden, ohne den berechtigten Interessen der Erwachsenen Eintrag zu thun und auch die gewerblichen Interessen der Verkäufer zu schädigen. Uebrigens sei auch der Schaden, den die Dar stellungen von Nuditäten auf den hauptsächlichsten Verkehrs straßen der Jugend zusügen könnten, schon wegen des großen Verkehrs sehr gering zu veranschlagen, während andererseits gerade die eigentlichen Kunstwerke und die außerhalb der Museen (Eros am Goethe-Denkmal im Tiergarten) auf gestellten Nuditäten sittlichkeitsgefährdend wirken würden. Schließlich könne man auch nicht von Ausschreitungen der heutigen Kunst sprechen, denn in früheren Jahrhunderten habe sich die Kunst viel mehr Freiheiten in der Darstellung genommen, als heute. Der dehnbare Begriff »Schamgefühl« gewähre sogar politischen Mißbräuchen Raum. Von Regierungsvertretern wurde erklärt, die Einstellung des tz 184s sei notwendig geworden infolge des großen Um fanges, welchen die Ausstellungen von schamlosen Bildern und Darstellungen in Schaufenstern und an öffentlichen Orten genommen habe; dagegen einzuschreiten, sei die Polizei machtlos, weil es an einer gesetzlichen Grundlage für ihr Vorgehen fehle. Auch die Rechtsprechung mache ein Ein schreiten der Polizei in den meisten Fällen illusorisch. Die Vorlage bezwecke gegenüber den geschilderten Mißständen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Schamhaftigkeit und des öffentlichen Anstandes. Eine Gefährdung der Kunst würde durch die Vorlage nicht herbeigeführt, weil die Strafbarkeit innerhalb des Rahmens der Vorlage zur Voraussetzung habe, 1. daß durch die Ausstellung das Schamgefühl gröblich verletzt sei, 2. daß die Ausstellung an öffentlichen Straßen u. s. w. in Aergernis erregender Weise erfolgt sei. Auf Grund dieser Voraussetzungen seien die Ausstellungen in den Museen nicht gefährdet. Während der 8 184 des Entwurfs die Bekämpfung des Unzüchtigen im Auge habe, bezwecke vorliegende Bestimmung die Einschränkung des Schamlosen. Daraus erkläre sich auch das geringere Straf maß gegenüber dem Strafmaße des 8 184 des Entwurfs. Dies aber verkennten die zur Vorlage gestellten Anträge, insofern in denselben von Schriften u. s. w., welche die ge schlechtliche Lüsternheit zu erregen imstande seien, sowie von einer Verletzung des Sittlichkeitsgefühls die Rede sei. Die Hineinbeziehung dieser Voraussetzung in vorliegende Vorschrift beruhe auf einem Irrtum und vermenge den Thatbestand des 8 184 des Entwurfs mit dem Thatbestand der vorliegenden Bestimmung. Die Grenze zwischen dem Unzüchtigen und dem bloß Schamlosen sei möglichst scharf zu ziehen, und zu diesem Zwecke empfehle es sich, die Worte »ohne unzüchtig zu sein« einzuschalten, von der Verletzung nur des Scham- und nicht auch des Sittlichkeitsgefühls zu reden, sowie die Worte »oder die geschlechtliche Lüsternheit zu erregen geeignet sind« zu streichen. Die Folge der Annahme der Anträge wäre die, daß die eigentlich unzüchtigen Abbildungen und Dar stellungen mit der milderen Strafe der Vorschrift zu be legen sein würden, was die Antragsteller gewiß nicht be zweckten, denn es könne einem Zweifel nicht unterliegen, daß Schriften u. s. w., welche die geschlechtliche Lüsternheit erregten, mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Reichs gerichts als unzüchtig anzusehen seien. Gegen die Aufnahme der Worte »oder in der Absicht, das Schamgefühl zu ver letzen« hinter den Worten »zu geschäftlichen Zwecken« sei dagegen nichts einzuwenden. Aus der Tendenz der Vorschrift »Wahrung des öffent lichen Schamgefühls und des öffentlichen Anstandes» ergebe sich, daß ein besonderer Schutz für die Jugend, wie er von den Anträgen bezweckt werde, nicht vorgesehen sei. In dieser Beziehung liege ein Bedürfnis nicht vor. Das Resultat der Abstimmung war die Annahme der Regierungsvorlage nebst zwei Zusätzen, die in obigen An trägen enthalten sind. Eingeschoben wurde zunächst hinter den Worten »gröblich verletzen« die Worte »einer Person unter 18 Jahren anbietet, verkauft oder sonst überläßt«, und sodann hinter den Worten »zu geschäftlichen Zwecken« die Worte »oder in der Absicht, das Schamgefühl zu ver letzen«. In der zweiten Lesung wurde 1. die Streichung des Paragraphen beantragt unter der Begründung, daß dessen Interpretation völlig dem sub jektiven Ermessen anheimgegeben sei, weil es an einer all- gemeingiltigen Norm für die Begriffsbestimmung des Scham gefühls fehle. Die Bestimmung würde nur einer unberech tigten Prüderei Vorschub leisten und gehe über die Tendenz des Gesetzes hinaus. Zudem liege ein Bedürfnis nicht vor, da bereits 8 184 die gröbliche Verletzung des Schamgefühls durch unzüchtige Schriften u. s. w. unter Strafe gestellt habe, denn die bei weitem größte Mehrzahl von Schriften, welche das Schamgefühl gröblich verletzen, fielen unter den Begriff des Unzüchtigen. Erhebliche Bedenken verursachten auch die Worte »in der Absicht, das Schamgefühl zu ver letzen«. Diese bedeuteten eine Neuerung, welche in der Rechtsprechung unter Anwendung des ckolus svsutuslis häufig zu schiefen Urteilen führen würde. Weiterhin käme in Be tracht, daß die Polizei zur Zeit bereits weitgehende Befug nisse habe, um anstößige Darstellungen aus den Schau fenstern entfernen zu lassen. Es sei nicht zu leugnen, daß die Bestimmungen eine große Gefahr für Kunst und Litteratur in sich schließe. Hingegen wurde aus der Mitte der Kommission