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108, II, Mai 1905. Nichtamtlicher Teil. 4463 Mit dem »Don Carlos» beginnt diese zweite Reihe von Schillers Dramen. Dann wird sie durch eine Pause von zehn Jahren unterbrochen, und im »Wollenstem» erblicken wir die reife Frucht des intensiven Studiums dieser Arbeits jahre. Maß, Harmonie und Größe, innere Wahrheit und schöne Form sind mit einander verbunden. An die Stelle der Prosa und des lockeren Verses im »Don Carlos- ist eine schön gegliederte, in edlem Rythmus ruhig dahinschwe bende Sprache getreten, ein erhabener ethischer Idealismus, erfüllt vom Stolze der durch mächtige Willenskraft errungenen Unabhängigkeit von allen zufälligen Bedingungen des Da seins, durchtränkt Handlung und Charaktere. Mit der charakteristischen Kunst Shakespeares einigt sich die erhabene Würde der Alten, mit dem antiken Fatalismus die Forderung sittlicher Freiheit. So bieten die letzten Dramen Schillers das Höchste dar, was einer Kunst gelingen konnte, die von der Antike ausging und dabei den Ansprüchen einer anders gearteten Zeit genügen mußte. Der »Don Carlos» ist das Präludium dieser Symphonie hehrer Töne. Carlos, der »Knabe-, ist von unbestimmtem Sehnen nach Menschenbeglückung, Freiheit und großen Taten erfüllt, Posa, der reise Jüngling soll ihm den Weg weisen, um diese allgemeinen Vorstellungen in die Wirklichkeit zu übersetzen. Die Vorbedingung dafür ist nach Schillers Ansicht die Resignation, der Verzicht auf den Genuß selb stischer Sinnenfreuden, und Carlos schwingt sich, durch den Opfertod des Freundes belehrt, am Schlüsse zu dieser Höhe auf. Posa zeigt jene Ausbildung des Charakters, die Schiller später in dem Gedicht »Licht und Wärme» schildert, er paart zu seinem eignen Glück »mit Schwärmers Ernst des Welt manns Blick». Die Verbindung des höchsten Idealismus und reifer praktischer Erfahrung soll Posa befähigen, wirk sam für die großen Aufgaben der Menschheit einzutreten, Carlos für sic heranzubilden und sogar Philipp für sie zu gewinnen. Aber die beabsichtigte Verschmelzung des edlen Idealisten mit dem weitsichtigen Politiker ist Schiller nicht geglückt, und so manches in Posas Wesen und Wollen bleibt unklar. Indessen hat gerade die Unbestimmtheit im einzelnen dazu beigetragen, daß die im ganzen so leicht er faßbare Gestalt des Posa später, wie keine andre unsrer Dichtung, dem deutschen Bürgertum als Verkörperung seines Strebens nach politischer Freiheit teuer wurde, während Carlos als das Idealbild des liebenden Jünglings alle seine Vorgänger und Nachfolger überstrahlte. In Philipp sah man, ganz gegen die Absicht des Dichters, nur den Tyrannen, den eisernen, erbarmungslosen Unterdrücker alles freien Denkens und Fühlens, den bigotten Katholiken und freiwilligen Henkersknecht der Juguisition. Posas Wort: »Sie waren gut!» wurde absichtlich überhört, um in Philipp die Verkörperung alles dessen zu erblicken, was dem protestantischen Deutschen hassenswürdig erschien. Die Königin war als Gattin dieses alten, herzlosen Tyrannen ein Gegenstand des Mitleids und um so höherer Verehrung, da ihre Herzenswärme den Eindruck kalter Tugend ausschtoß. Die unerwiderte Leidenschaft der Eboli weckte in den Herzen aller unglücklich Liebenden ein Echo; da sie später bereitwillig die Sühne ihrer Schuld auf sich nimmt, konnten auch ihre Verirrungen selbst bei strenger moralischer Auffassung nicht verletzend wirken. Durch diese Gestalt ist der »Don Carlos- lange Zeit Schillers populärstes Stück geblieben, trotz aller Fehler im eigentlich Dramatischen, so lange als sein Gedankengehalt im Volke lebendigen Widerhall fand. Von keinem Vorgang ist auf der deutschen Bühne eine stärkere Wirkung ausgegangsn als von der großen Posaszene in der ersten Hälfte des neun zehnten Jahrhunderts. anerkannt. Von dem Vorspiel, dem -Lager», geht ein Hauch frischer Lebenskraft und realistischer, nationaler Kunst aus. Die gewaltige, mystische Erscheinung des sieggekrönten Fcldherrn, der im Vertrauen auf die Sterne zum Verräter wird, die Fülle scharf gezeichneter Charakterköpfe unter seinen Generalen, die prachtvolle energische Gräfin Terzky, das musterhaft getroffene Zeitkolorit bei der höchsten Stilisierung der Linien — das alles stempelt Schillers »Wollenstem» zu der höchsten Leistung nicht nur seiner Dichtung, sondern des gesamten klassizistischen deutschen Dramas. Wohl wünschten wir, den ungeheuren Umfang von elf Akten eingeschränkt zu sehen, weil er die Handlung in zwei getrennte Abende zerreißt, und es dünkt uns, als könnte manche allzu sentenzenreiche Rede gekürzt, das Liebespaar Max und Thekla wohl gar entbehrt werden —, und doch, wie viele haben die golducn Weisheitsworte bereichert, der schwärmerische Idealismus des Liebenden hingerissen! Mit dem > Wallenstein - ist unser klassisches Drama in den Sattel gesetzt worden. Wir können uns kaum mehr vorstellen, was diese Erscheinung für das deutsche Theater bedeutete, auf dem damals die Operette und das ärmliche bürgerliche Schauspiel die Alleinherrschaft behaupteten. Lessing war ein ganz seltner Gast, Goethe war mit seiner Iphigenie und seinem Tasso, trotzdem sie schon zehn Jahre gedruckt Vorlagen, auf der Bühne noch nicht ein einziges Mal zu Worte gekommen; Shakespeare durfte nur in den schwachen Bearbeitungen Schröders erscheinen. Den Schau spielern war die Fähigkeit, Verse zu sprechen, völlig verloren gegangen; Schiller hatte flir sie noch seinen »Don Carlos in Prosa umschreiben müssen. Erst durch den »Wallenstein» wurde der höhere Stil der Darstellungskunst begründet. Durch die folgenden Dramen Schillers wurde er aus gebildet, und die Szene wieder zum würdigen Sitz der alten Mclpomene geweiht. Die großen geschichtlichen Vorgänge, durch die das Schicksal der Völker entschieden wird, er scheinen nun nicht mehr als prunkhafte, kalte Haupt- und Staatsaktionen; die Helden handeln menschlich, fühlen menschlich. In rührenden Tönen erschütterte das Leid der ge fangenen schottischen Königin alle Herzen, die reine Jung frau, die von Glaubensmut und Vaterlandsliebe beseelt, mit dem Bilde der Gottesmutter die Scharen zum Siege führte, begeisterte die Gemüter, alles an die Ehre ihrer Nation zu setzen, der Haß der feindlichen Brüder und die hoheitvollc Gestalt der Fürstin von Messina, die als Mutter zwischen ihnen stand, ließ die Seelen in den weihevollen Schauern des alten Schicksalsdramas beben, und im -Wilhelm Teil- endlich spricht die Frciheitsliebe in ein fachen, für jeden verständlichen Bildern als der höchste menschliche Trieb so überzeugend wie nie zuvor und nie nachher. Nicht nur die Auflehnung gegen fremden Druck wird hier als Pflichigebot und Naturrecht gepredigt; auch die Überwindung des mittelalterlichen Feudalstaatcs durch eine neue, freie Gesellschaftsordnung: Dem irregeleiteten Vertreter des Adels wird das warnende Wort zugerufen; -Wirs nicht für eitel» Glanz und Flitterschein Die echte Perle deines Wertes hin — Das Haupt zu heißen eines freien Volks, Das dir aus Liebe nur sich herzlich weiht, Das treulich zu dir steht in Kampf und Tod — Das sei dein Stolz, des Adels rühme dich — Die angebornen Bande knüpfe fest, Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, Das halte fest mit deinem ganzen Herzen!» Jetzt hat sich das Werturteil verschoben, und allgemein! Die berühmten Schlußverse erscheinen erst durch die ist der »Wallenstein» als das größte von Schillers Werken I vorhergehenden in der richtigen Beleuchtung. Sie predigen S89»