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164, 18. Juli 1931. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. b.Dtschn. Buchhand«!. Die Hauptverwaltung der Reichsbahn hat durch nachstehende Ver fügung das Aufstellen von Heilanü-Zeitungs-Automaten auf den Bahnhöfen generell genehmigt: »Die von den Reichsbahndirektionen Berlin und Karlsruhe mit der Aufstellung von Zeitungs-Automaten durch die Bahnhofsbuchhändler gemachten Versuche sind günstig aus gefallen. Die Deutsche Reichsbahngesellschaft hat nichts dagegen einzuwenden, wenn nunmehr auch in anderen Bezirken Zeitungs- Automaten durch die Bahnhofsbuchhändler ausgestellt werden. Es handelt sich um die von der Zeitungs-Automaten-Gesellschaft Hei land L Co. in Berlin W 57, Bülowstraße 191 gelieferten Automaten«. „Der Buchhandel lebt nur von der Cholera!" sEine Hundertjahrs-Erinnerung.) Im Frühling 1831 durchbrach die gefürchtete Tochter Indiens, die asiatische Cholera, den doppelten Sperrkordon, mit dem sich Preußen gegen den russisch-polnischen Kriegsschauplatz abzuschließen gehofft hatte, und zeigte sich in Stallupönen. Ende Mai erschien sie in Danzig, am 11. Juli in Elbing und Cöslin, am 16. in Graudenz und Pillau, am 23. in Königsberg usf. Berlin wurde von ihr Ende August heim-gesucht, und zwar trat der erste Fall in Charlottenburg auf, wo ein Schiffer auf seinem Schiffe starb. Laugst zuvor hatte man natürlich schon in Angst vor der unheimlichen Krankheit gelebt, die damals bereits seit Jahren von Osten her durch die Länder gezogen kam. Eine reiche Literatur teils rein wissenschaftlicher, teils mehr volkstümlicher, belehrenö-warnender und belehrend-beruhigender Natur war schon entstanden und wuchs ununterbrochen an. Sie wurde gierig verlangt, denn die Cholera, die in der Epidemie von 1831 bis 1832 zum erstenmal Europa heimsuchte, erfüllte bald ausschließlich die Gemüter. Da man bei dem damaligen Stand der Wissenschaft über ihre Entstehung noch nicht im klaren war, fühlte man sich ihr gegenüber doppelt hilflos. Die einen hielten sie für ansteckend, die anderen nicht; der Streit wogte hin und her und spiegelt sich deutlich in der riesigen »Choleralitteratur« jener Tage wider, aus denen wir wunderbar lebendige, erregte Stimmungsbilder in dem »Wochenblatt für gebildete Stände« erhalten finden. Dort steht auch im Juli- Briefe des Berliner Korrespondenten der Satz: »In der Litte- ratur ist es still. Der Buchhandel lebt nur von der Cholera«. Für die Wahrheit dieser Behauptung zeugt nichts besser als das »Wochenblatt für Buchhändler« (Kassel, bei Johann Christian Krieger) in den Jahrgängen 1831 und 1832. Nicht nur reden eine deutliche Sprache die Titel- der angekündigten Cholerabücher und Cholerabroschüren, sondern es tun dies außerdem die eingesandten Mitteilungen, Wünsche oder Klagen der Buchhändler-Abonnenten. Diese Notizen gewähren einen guten Einblick in die Schwierigkeiten, in die sich der Buchhandel fügen, in die Umstellung, zu der er sich bereit finden mußte in Tagen, da sich die Industrie in Erfindung von Choleraleibbinden, Choleramänteln, Cholerastrümpfen, Cholera schals, in Darbietung von Choleraschnaps, Cholerawein und Cholera-- schokolade erschöpfte. Wie Blitzlichter erhellen diese Einsendungen die damals im Buchhandel herrschenden- Zustände: Da bittet z. B. im Juli 1831 J.W. Heners Hofbuchhandlung in Darm- st a d t, ihr »von allen Schriften, welche über die Cholera er scheinen, gleich zwei Exemplare durch Herrn Mittler in Leipzig zur Post einzusenden« und verspricht, sie bestimmt zu behalten. E. Frantzen in R i g a erläßt unter dem 17./29. Juli einen be weglichen Brief an die Kollegen: Er kann keine Remittenden zurück- schicken! Als er von der Jubilate-Messe heimkehrte, fand er in Riga die Cholera vor, und so war »kein Schiff, auf Lübeck fahrend, mehr anzutreffen«. Und nun er wieder auf freiem Verkehr über Lübeck hoffen darf, beschwört ihn sein dortiger Spediteur, ja keine Bücher rücksendungen zu machen, da strengste Quarantänebestimmungen langes Lagern, ja Auspacken und Räuchern, d. h. eventuelle Schädi gung der Ware bedingen und zu hohen Unkosten führen! Mittler weile wächst und wächst bas Interesse an der Cholera. Unter dem 14. August (Nr. 33—34 des »Wochenblatts für Buchhändler«) bittet die S t i l l e r s ch e Hofbuchhandlung in Rostock, ihr Schrif ten über die Cholera sofort nach Erscheinen zur Post zu senden. Im allgemeinen wünscht sie mindestens vier Exemplare, bei bekannten Autoren 8—12. Eine regelrechte Choleranummer ist die am 24. Sep tember herausgegebene Doppelnummer 35—36. Da lesen wir in der Rubrik Ml 8 e e 11 e n« die »Dringende Bitte« des Kollegen C. G. E n d e in L and s b er g a. d. W., das -f in dem Müllerschen Buchhändler-Verzeichnis vor seiner Firma doch von nun an gefälligst zu respektieren, d. h. zu beachten, daß er in einer Cholerastadt sitzt und fast nichts als Choleraliteratur brauchen kann. Alles sonstige Unverlangte wird er uneröffnet liegen lassen. Überhaupt solle m-an doch bedenken, dcrß durch die Cholerafurcht »jeder literarische Ver kehr auf lange Zeit gänzlich gehemmt« werde — »denn der aus wärtige Bücherfreund scheut sich mit einem für inficiert erklärten Ort auch nur in die leiseste Berührung zu kommen, indem er in jedem Bücherpaket, das aus einem solchen Ort kommt, das gefürchtete Contagium verborgen wähnt . . .« Gleichzeitig melden Gebrüder Bornträger an, baß sie wegen Ausbruchs der Krankheit in Königsberg keine Nücksenbun- gen mehr machen können, und in Berlin, das nun im Zeichen der Seuche steht, ruft A. Hirschwald bringlichst alle etwa nicht abge setzten Exemplare von Hahnemann, Sendschreiben über die Cholera zurück, da die Auflage zu Ende geht! Aber die gewaltige Nachfrage veranlaßte eine wohl noch ge waltigere Produktion. So bleibt es denn nicht aus, daß sich aus dem Chor der Verlangenden auch einmal eine Stimme der Abwehr her vorhebt. Es ist der Kasseler Buchhändler I. I. Bohn 6, der in Nr. 43—44 dringend bittet, ihm stets nur ein Exemplar zu senden, da er »nun Gottlob bald einige Zentner« an Choleraschriften vor rätig habe! Konnte man, wie auch aus dem Vorhergehenden ersichtlich, mit Recht sagen, daß der Buchhandel damals von der Cholera »lebte«, so hätte man mit ebendemselben Rechte hinzufügen können: »Aber schlecht!« In der Doppelnummer vom 21. November erläßt Krieger in seinem »Wochenblatt« selbst einen wahren Klageschrei über die Unzahl säumiger Schuldner, Uberschreibt ihn »Jeremiade« und meint, man hätte Ursache, diesen Titel zu einer stehenden Rubrik zu machen. In gewissen Fällen mochten die Verleger allerdings argwöhnen dürfen, daß es bei den Säumigen am guten Willen fehle. Als darum in der Nummer vom 17. Februar 1932 ein anonymer »süd deutscher Buchhändler« mit geradezu prächtiger Überredungskunst den Vorschlag macht, in diesem Jahre keine Leipziger Ostermesse ab zuhalten, weil sie diesmal auf den 16. Mai (also in die schon heiße Zeit) falle, und weil gerade die Buchhändler in ihrer Börse zu Hunderten so dicht gestaut säßen, daß ein Ausbruch der Krankheit, ihre Verschleppung und damit Todesfälle lieber Angehöriger zu be fürchten seien — da erteilt ihm bald darauf im Wochenblatt (Nr. 17 —18, 19. März 1832) der Hamburger Buchhändler Herold eine un mißverständliche geharnischte Antwort. Sie ist so wunderbar drastisch, daß die während der Cholerazeit bei Baumgärtner in Leipzig erscheinende, von Prof. Radius-Leipzig herausgegebene hoch interessante »Allgemeine Cholera-Zeitung« sie als »Curiosum« wört lich abdruckte — was wir zum Beschluß hier gleichfalls tun wollen, wenn auch nur im Auszug: »Manuskript für Buchhändler. Daß es Pflicht jeder soliden Buchhandlung sei, zur Messe zu reisen, damit nicht schlechte Zahler unter dem Deckmantel der Furcht das Geschäft verschlimmern. Die Cholera ist eine Seuche; sie ist noch dazu eine für Deutsch land höchst unbedeutende Seuche. Wer ordentlich lebt und leben kann, kann keine Cholera und keine Seuche bekom men. Es gehört sehr viel dazu, die Cholera zu erlangen. . . Jede Seuche wird durch Furcht verschlimmert — die Furcht ist 1831 zur Schande der Menschheit ausgeartet . . . Bei jeder Seuche dulde man keine Verstopfung, keinen Durchfall. Die ärgsten Säufer, die dafür sorgten, leben noch . . . Der Unterzeichnete glaubt wohl, daß -er jetzt hungernde, dann fressende, dann durstende Soldat und Hand werker, der die Nächte im Freien zubringt (daher auch der Schiffer auf offenem Fahrzeug) die Cholera weiterschleppen kann — er prote stiert aber dagegen: daß sie durch einen Buchhändler auf der Börse ausbrechen kann. Gegen diese Schande protestiere ich, in der Mei nung, daß kein Buchhändler in Deutschland -re Cholera je mals bekommen wird«. K. v. I. Oer I^riß eine 6re?cste. blit Oeleitvort von kkuckolk 6. ^incking, Kr8ss. von Xartkauek. Lerlin 1931: Lurl kaued Verlass. 84 8. IM 2.50. In dieser erweiterten Ausgabe des Sonderheftes des »Bücher wurms« (s. Börsenblatt Nr. 136) ist den Proben jüngster Lyrik eine kleine erlesene Auswahl deutscher Lyrik von Walther von der Vogel weide bis zur Gegenwart vorangesetzt. Auf die Rundfrage Karl Rauchs »Hat das lyrische Gedicht heute noch Lebenswert?« in den großen Tageszeitungen und im »Bücherwurm« sind rund 406 Ant worten eingegangen, von denen das vorliegende Büchlein nun eine weit größere Auswahl bringt, als dieses im engen Rahmen des Sonderheftes möglich war. Der so häufigen Behauptung, das lyrische Gedicht liege im Sterben und die heutige Jugend habe kein Be dürfnis mehr für Lyrik, wirb mit den sehr zahlreichen Antworten junger Menschen ein Dokument entgegengehalten. Besonders wert- 683