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Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt k. d Ttschn, Buchhandel. 7305 unsittlichen Bildern und Ansichtskarten, sowie den Verschleiß und die Schaustellung von Erzeugnissen der sogenannten Schundliteratur — allgemein zu verbieten. Gleichzeitig hat das Finanzministerium entsprechende Verfügungen wegen wirksamer Durchführung dieses Ver botes getroffen«. Die Schuldfrage in dem Prozeß gegen den Buchhändler Carl Wilhelm Stern in Wien (vergl. Bbl. Nr. 130), der durch mehrere Tage die Öffentlichkeit beschäftigte, lautete auf Vergehen gegen die öffentliche Sittlichkeit, begangen durch den Verlag und den Vertrieb erotischer Werke, und wurde von sieben Geschworenen bejahend, von fünf verneinend beantwortet. Da aber zu einem Schuld spruch eine Zweidrittel - Majorität erforderlich ist, zu der somit eine Stimme fehlte, wurde Herr Stern von diesem wich tigsten Punkte sreigesprochen. In einem zweiten Teil der An klage von untergeordneterBedeutung, betreffend den Verschleiß eines verbotenen Buches (Die Memoiren einer Sängerin), wurde Herr Stern schuldiggesprochen und zu einer Geldstrafe von 100 Kronen verurteilt. Ais Herr Stern den Schwurgerichtssaal verließ, wurde er von einem Teile des Publikums mit lebhaften Bravorufen begrüßt. Diese Synrpathiebezeigungen waren, mit Richard Wagner zu sprechen, »fehl am Orte«. Zu begeisterter Zustimmung scheint mir kein Anlaß. Selbst verständlich, dem angeklagten Buchhändler ist sein Freispruch zu gönnen, und er wurde auch ziemlich allgemein von der Tagespresse als begründet und berechtigt bezeichnet. Denn die plötzliche moralische Anwandlung der Staatsanwaltschaft, die durch etwa sechs Jahre einem stadtbekannten, öffentlichen Betriebe mit verschränkten Armen zugesehen hat, trug zu sehr den Stempel der Einwirkung von fremder Seite. Es geht nicht an, jahrelang in dem Händler die Überzeugung hervorznrufen, daß sein Verlag und Vertrieb nicht gesetzwidrig ist, und dann, ohne daß sich irgend etwas sachlich geändert hätte, die An klage zu erheben. Eine Vogel-Straußpolitik mit nachträglicher Entrüstung macht einen sonderbaren Eindruck. Dem durch mehrere Tage (vom 28. bis zum 31. Mai) währenden Prozeß war eine Untersuchung vorangegangen, in deren Laufe mehr als 1100 Personen einvernommen und eine sehr umfangreiche Korrespondenz durchgclcsen wurde. In der Hauptverhandlung fehlte es auch nicht an komischen Episoden; so machte cs gewiß einen sonderbaren Eindruck, als man erfuhr, daß der Verfasser des beanstandeten Werkes: »Das goldene Buch der Liebe« ein — königlicher Schulrat ist. Die Anklage führte auch aus, daß sich einige Bewohner von Neu-Seeland über die Prospekte und Bücher aus dem Sternschcn Verlag beklagt hätten, wozu der Verteidiger be merkte, daß dem Gericht die Sittlichkeit der Neuseeländer völlig gleichgültig sein könne, überhaupt hatte es sich der temperamentvolle Verteidiger zum Plane gemacht, den Ernst der Verhandlung durch ironische Einwürfe abzuschwächen, was für ihn (oder für den Angeklagten) die unangenehme Folge hatte, daß er im Disziplinarwege zu Strafen in Ge samthöhe von 300 Kronen verurteilt wurde, während der Angeklagte, wie bereits bemerkt, in der Strafe nur mit 100 Kronen bedacht wurde. Das Mißverhältnis war sehr auffällig. Die als Zeugen gehörten Buchhändler erklärten, daß sie die Erotika nnr mit größter Vorsicht und nur an vollständig vertrauenswürdige (zumeist ältere) Herren abgegeben hätten. Ter Vergleich des Herrn Sternseld, in Firma Gilhofer L Ranschburg: »Erotika lassen sich aus dem Buchhandel ebenso wenig verbannen, wie das Gift aus der Apotheke«, scheint mir zu hinken. Denn die Gifte sollen und dürfen aus den Apotheken nicht verbannt werden, weil sie oft die einzigen Börsrnblatt sllr dyi Dciüschm BuchhandrI. 79. Jahrgang. Heilmittel in bestimmten Krankheitsfällen sind; wann aber wirken je Erotika als Heilmittel? Doch dem Staatsanwalt schien dieser Ausspruch zu gefallen; er wiederholte ihn in seinem Schlußvortrag und knüpfte daran folgende Bemer kungen: »Ja, diese erotischen Werke sind ein Gift, und dieses Gift darf nur an denjenigen abgegeben werden, der einen Giftbezugsschein hat, der sich also ausweisen kann und durch seine Vertrauenswürdigkeit Gewähr dafür bietet, daß kein Mißbrauch getrieben wird. Gegen dieses Gift müssen wir ankämpfen, und zwar deshalb, weil die Unsittlichkeit in die Allgemeinheit getragen wird, weil dadurch das Volk als sol ches vergiftet wird«. Nachdem nun der Schlußakt dieses langwierigen und un erquicklichen Prozesses vorüber ist, darf man den Wunsch aus sprechen, daß der erotische (vielmehr pornographische) Verlag inWien keine Heimstättemehrfinden möge. Einem jungenMann, der ähnliche Wege wie Herr Stern einschlug, machte ich ein mal gesprächsweise den Vorhalt, warum er seine unleugbaren geschäftlichen Anlagen nicht in den Dienst einer besseren Sache stelle. Achselzuckend erwiederte er mir: »Ich mutz doch leben,. Gewiß, das Argument scheint einleuchtend, aber es Patzt hier nicht, denn meist fehlt es den betreffenden Herren durchaus nicht an Kenntnissen, Betriebsamkeit und Kapital, um auch auf wesentlich vornehmeren Gebieten Erfolge zu erringen. Vor kurzem feierte der in diesen Blättern bereits mehr mals erwähnte Wiener Volksbildungs-Verein das Jubiläum seiner sünsundzwanzigjährigen Tätigkeit. Die festlichen Veranstaltungen begannen mit der Eröffnung einer Kinderlesehalle, setzten sich am Jubiläumssonntag mit einer ganz ungewöhnlich großen Anzahl von öffentlichen Vorträgen und Konzerten in sämtlichen 21 Bezirken Wiens fort und wur- den durch die Generalversammlung, bei der die Spitzen der Behörden, der befreundeten Vereine und Körperschaften ver treten waren, abgeschlossen. Einer der Festredner, der Schrift steller Balduin Groller, der namens des Journalisten- und Schriftstellervereins Concordia den Volksbildungsberein zu seinem Jubiläum beglückwünschte, führte den Gedanken aus, daß die Statistik für das Leben der Menschen nicht sehr maß gebend sei; denn, obwohl es statistisch nachgewiesen sei, daß die Wahrscheinlichkeit, einen Haupttreffer zu machen, ebenso groß sei, als die, vom Blitz erschlagen zu wer den, beschäftigten sich die meisten Menschen in ihren Gedanken wohl niemals mit der Eventualität des Todes durch Blitz schlag, sehr häufig aber mit dem Phantasicbild des plötzlichen Reichwerdens durch einen Losgcwinn. Dennoch glaube ich, durch einige Zahlen die Bedeutung des Volksbildungsvereins am raschesten und eindringlichsten zu charakterisieren. Er er richtete im Laufe seiner sünsundzwanzigjährigen Tätigkeit >4 Volksbibliotheken, 5 Ghmnasialbibllotheken, 7 Kranken haus- und 4 Lehrlingsbibliotheken. Diese Bibliotheken haben bisher rund 23 Millionen Bücher ausgeliehen. Er hat seit seiner Gründung in sämtlichen Wiener Bezirken 5000 volkstümliche, belehrende Vorträge, Mustervorstellungen klassischer und moderner Dichtungen und Volkskonzerte ver anstaltet. Die bisherige Zahl der Besucher dieser Sonntags vorträge hat eine Million Personen überschritten. Eine große Anzahl von Rednern, Vertretern der Universi tät, des Landesausschusses, der Gemeindeverwaltung nsw., sprach dem Verein die Glückwünsche aus, zuletzt auch der Buch handel durch den beredten Mund des Vorstandes des Ver eins österreichisch-ungarischer Buchhändler, Herrn Wilhelm Müller, dessen gewandte Ausführungen den lebhaften Beifall der ansehnlichen Versammlung fanden. Wien, Juni 1812. Friedrich Schiller. 0S2