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Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Redaktioneller Teil. ^ 26, 2. Februar 1916. morgens, mittags und gegen Abend in sämtliche Stuben. »Mor- genzeitnngen« — »B.-Z.« — »Der neue Generalstabsbcricht«. Zuweilen brachte sie auch die »Jllustrirte« oder die neuesten »Lustigen«, und einmal, das war Wohl der Höhepunkt, hat jemand eine Nummer der »Zukunft« bei ihr bestellt. Ein neuer Roman lag zwei Monate fast unberührt in meinem Schranke, der Dienst ließ uns nicht viel Zeit zu geistigen Genüssen. Einmal aber kam wieder für mich eine neue Blütezeit, das war, als der »Zirkus Primus« eröffnet wurde. Eigentlich hieß er »Kursus Primus« und war der nach dem Leutnant Primus ge nannte Offizierkursus, aber im ganzen Regiment war nur der Spitzname bekannt. Jeder der Teilnehmer brauchte verschiedene Bücher, freundlich lächelnd hatte der Feldwebel die Bestellung für uns alle ausgeschrieben. »Ihr braucht Euch dann nicht zu be mühen«, meinte er, »ich besorge die Bücher für Euch alle zusam men«. Da trat ich vor. Harmlos erzählte ich, daß ich Buchhändler sei, mein Beruf sei es, Bücher zu besorgen, und die meisten der Kameraden hätten auch bereits bei mir bestellt. Das wurde be stätigt. Süßsauer wurde des Gewaltigen Lächeln, und er sprach die Befürchtung aus, ich könnte vielleicht nicht rechtzeitig liefern. Doch ich beruhigte ihn. »Wenn ich vielleicht für den Nachmittag Urlaub haben könnte...«, da übergab er mir seine Bestellung und ließ mich laufen. Ich stand auf dein Kasernenhof in Schießstellung, da fragte mich ein Unteroffizier: »Wo haben Sie Ihre Seelen-Achse?« Es ist dies ein alter Kasernenhos-Witz und Pflegt bei nicht über mäßig begabten Rekruten angcwendet zu werden, um harmlose Gemüter zu erheitern. Für mich war die Frage jedenfalls nicht übermäßig ehrenvoll. Doch ich ging auf den Scherz ein, und mich ganz unmilitärisch hinter den Ohren kratzend, brummte ich: »Die Scelenachfe, die Seclenachse l Ach herrjeh, die habe ich verloren! Ach nein, ich habe sie ja wiedergefunden, sie steckt in meiner Pa tronentasche.« Entgeistert sah mich der Mann an, dann ging er zu meinem Korporalschaftsführer, Wohl um sich zu beschweren. Der hörte ihn an und lachte: »Ja, wenn Du Antworten hören willst, da warst Du bei der richtigen Adresse, der Mann weiß alles aus seinen Büchern«. Wütend kam der Unteroffizier wieder zu mir: »Was ist denn die Seelenachse?« »Die Seelenachse ist eine Linie . . .« »Das stimmt nicht! Die Seelenachse ist eine gedachte Linie. Wissen Sie das denn nicht aus dem Exerzier-Reglement?« »Nein, Herr Unteroffizier. Denn das steht in der Schieß vorschrift.« Zur Strafe mußte ich abends um neun Uhr mich beim Unter offizier vom Dienst melden, das war zufällig mein Korporal- schaftsführer. »N«, sehen Sie, das haben Sie nun davon«, meinte er, »bei Ihrem Lesen kommt doch nichts heraus«. »O doch«, antwortete ich, »ich bin z. B. infolge meines Lesens heute der Einzige gewesen, der einen Befehl richtig ausgeführt hat. Allerdings bin ich dafür angeschnauzt worden.« »Wieso?« »Nun, Herr Unteroffizier haben heute, als wir in Stellung lagen, kommandiert ,Ohne Tritt', da war ich der einzige, der das Gewehr übernahm, und nach Paragraph soundsoviel des Exerzier- Reglements hatte ich recht.« Triumphierend zog ich das Buch aus der Tasche und bewies sein Unrecht. In der Kantine erzählte ich gleich darauf von meinem Er lebnis. Der Erfolg war ein verblüffender: kaum einer war da, der nicht das kleine Heftchen bestellt hätte, und die Kan- tinen-Wirtin bot mir an, den Verkauf von solchen Büchern zu übernehmen. Darauf verzichtete ich. Einmal sollten Schießbllcher angefertigt werden, es war aber in der ganzen Kompagnie kein Buchbinder. Schnell entschlossen wählte der Feldwebel mich, den Buchhändler, und einen Bücher revisor aus. »Die haben immer mit Büchern zu tun, die müssen das verstehen!« Wir machten gute Miene zum bösen Spiel, er klärten, daß in unseren Werkstätten die Herstellung besser ginge, und erhielten wieder Urlaub. Ein Buchbinder machte uns die 114 Heftchen fertig, und wir freuten uns der ehrlich verdientem Freiheit. »Nächste Woche gehts nach Rußland«, hieß es eines Tages, und ich sing an, im russischen Tornister-Wörterbuch zu studieren, aber es ging nach Frankreich, und die mühselig erworbenen rus sischen SPrachkcnntnisse hebe ich mir sllr gelegenere Zeit auf. Am letzten Abend aber brachte ist noch einen Haufen französischer Wörterbücher und Kriegskarlen mit. Sic-gingen weg wie die warmen Semmeln. Und dann ging es hinaus. Das war nicht mehr der Jubel, wie er die abziehenden Truppen im Sommer 1914 umbrauste. Tiefernst wir selbst, alles Männer im Ausgang der Dreißiger, todtraurig die Zurllübleibenden, die ihren Ernährer einem unge wissen Schicksal entgegenziehen sahen. In M. brachten uns Damen alte Zeitschriften-Nummern an die Wagen. Ich bat um eine neue Tageszeitung. »Aber dieses hier kostet doch garnichts!« ineinte die ehrwürdige alte Frau; sie verstand nicht, daß ich zugunsten einer 10 «s kostenden neuen Zeitung gern auf einen ganzeir Haufen alter Makulatur verzichtete. In Herbesthal glückte es mir endlich, eine Nummer der »Kölnischen Volkszcitung« zu erhalten; in der Marketenderei gab es auch allerlei französische Sprachführer, Karten und Kriegs- broschllren, große Nachfrage aber war nicht, obwohl unser Zug über tausend Soldaten enthielt. Es wurde Nacht und wieder Tag. An Lüttich ging es vor über, durch Löwen und durch Brüssel, und dann tief in das er oberte Frankreich, überall wirkten deutsche Beamte, sah ich deutsche Uniformen, deutsche Schilder und Georg Stilkes Bahn hofs-Buchhandel. Wir aber hielten stets außerhalb der Halte stellen; die dort aufgespeicherten Schätze waren sür mich uner reichbar. Einmal wurde «ine Berliner Tageszeitung ausgerufen. »Heutige Ausgabe!« Das mutzte Schwindel sein, und nur des Interesses halber kaufte ich eine Nummer. Aber der Mann schwindelte nicht. Da stand ganz deutlich: Mittwoch, de» . . - , der richtige Tag; die Zeitung war einfach bordatiert. Schön fand ich das nicht. Auf den feuchten Wiesen Frankreichs ging's eine Weile wie auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Griffekloppen, strammer Schritt usw. Eines Tages trat unser Hauptmann an mich heran: »Sind Sie nicht der Mann, der da in Berlin immer Vortrags abende veranstaltete? Ich bejahte. Der Hauptmann hatte einige meiner Litera rischen Abende besucht und forderte mich auf, auch in Feindes land einmal einen solchen Abend zu veranstalten. Kurz ent schlossen sagte ich zu und erbat für sechs Nachmittage Dienst freiheit sür mich und die übrigen Mitwirkcnden, die ich noch hinzu ziehen müsse. Der Erfolg des Abends, der allerdings auf ganz anderer Stufe stand, wie meine Berliner Veranstaltungen, aber gerade darum den Soldaten besonders gefiel, übertraf alle Er wartungen. Die Regimentsmusik spielte, ein Quartett sang, ein Komiker machte faule Witze, und ich las vor. Erst Ernstes: Rosners herrliche Ballade vom »Herrn Jesus auf dem Schlacht felde«, Dichtungen von Herzog, Presber u. a. und dann, das war der »Clou« des Abends, etwas aus Georg Engels »Ver botenem Rausch«. — Ich habe das Stückchen späterhin nochmals vor Sr. Kgl. Hoheit dem Prinzen . . . vorlesen müssen, die Offiziere des Regiments hatten ihm davon erzählt. Am folgenden Tage ging's in den Schützengraben. Da ist nicht viel Zeit zur Beschäftigung mit Büchern; Wachen, buddeln und schlafen nimmt alle Zeit in Anspruch, und die Zeitungen werden weniger auf ihren Inhalt als auf ihre Verwendungs fähigkeit für die verschiedensten Zwecke hin geprüft. Immerhin werden die neuesten Witzblätter und kleine Bücher, wie z. B. die Briefe des Gefreiten Knetschke, gern gelesen und von Unterstand zu Unterstand ausgetauscht. — — Ruhestellung ist die Zeit, wo wir nicht in Stellung sind, und heißt so, weil man da gar keine Ruhe findet. In dieser Be ziehung unterscheidet sich diese Zeit also wenig von der im Schützengraben, aber etwas geht, was im Graben nicht möglich ist, man kann »über den Zappen wichsen«, und da ich mich stets de-