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--Nr.225. —ISStt. — Diese verbreitetste »»parteiische Leitu,iq erscheiut Wochentags Abends (»lilDaliim des nächsten Tages) und kostet mit de» sechs wöchentlichen Beiblättern: 1. Sächsischer Erzähler, 2. Kleine Botschaft, 3. Gerichts-Zeitung, 4. Sächsisches Allerlei, 6- Jllnstrirtes Unter- haltnngsblatt, 6. Lustiges Bilderbuch für Chemnitz: Monatlich 40 P sonnige; bei den Postanstalten: Monatlich b0 Pfennige. 1898. Postliste: Nr. 2803. Telegramm -Adrche: Gcu-ralauzeiger. . t Feriispiechstelle Nr. 136. General- Mittwoch, den 28. September. Anzeigenpreis: «gespalten, CorpnSzeile (ca.9 Silben sassendl oder deren Nanm IbPsg. (Prekk^ Verzeichnisse d, Zeile 20 Psg.) — Bevorzugte Stelle («gespaltene Petit» Zeile circa 11 Silben fassend) «0 Psg. — Anzeigen können nnr bis Vormittag 10 Uhr angenonimen werden, da Druck und Verbreitung der großen Auslage längere Zeit erfordern. emnitz und Umgegend. (Sächsischer Landes-Aitzeigerl. Gegründet 18VS als „Anzeiger" »e. Verlag «nd Notation-,,,aschi»«,»-Druck von Alexander Wiede in Chemnitz, Theaterstraß« Nr. 8. Geschäftliche Anzeige.-Jttserat« finden für billigsten Preis zugleich Verbreitung durch die täglich erscheinende Chemnitzer Eisenbahn-Zeitung. Politische Nimdschair. Eh emnitz, de» 37. Sepiemder 1393. Deutsches Reich. — Der „Nat.-Ztg." wird bestätigt, daß die italienische Negierung eine Verständigung über Maßnahme» gegen den Anarchismus bei den europäischen Kabinetten angeregt hat. Der Vorschlag einer Konferenz ist jedoch von ihr bis jetzt nicht ge macht worden. Die allgemein gehaltene Anregung ist zustimmend ausgenommen worden. Man erwartet zunächst die Vorschläge der italienischen Negierung. — Das Wort des Kaisers: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser" h t den Widerspruch der „Deutschen Tagcs-Ztg." hervorgerufcn. Nach ihrer Ansicht, die sie in sehr konfuser Weise äußert, kann das deutsche Reich eine Macht ersten Nangcs nnr sein, wenn die Wurzeln seiner Kraft im Lande bleiben, das Wasser- Habe keine ausreichenden Tragbalken für unsere Zukunft. Selbst verständlich hat auch der Kaiser die Meinung, daß die Wurzel» unserer Kraft im Lande bleib?»; gleichwohl konnte er so spreche», wie er cs in Stettin gcthan hat. Denn was er unter seinem Wort ver stand, dafür glauben wir einen richtigen Kvmmenlar in folgenden Ausführungen aus Heinrich v. Treitschke's „Politik" gebe» zu können: „Man kann behaupten, daß eine große Slaatscniwickelniig ohne das Meer ans die Dauer »»möglich ist. Jeder Staat großen Stiles, der darnach trachtet, ans eigenen Füßen zu stehe», muß eine Küste haben. Dadurch erst wird er wirklich frei. Tics ist so deutlich, daß man ganze Epohen aus der Geschichte ans diesem einen Ver- hältniß heraus erklären kann. Der Gegensatz von Polen und Deutschland hat hier seinen Schlüssel. Da die deutsche Kolonisation an der Küste soweit nach Oste» gezogen war, das Hinterland aber slawisch blieb, so ergab sich eine Todfeindschaft, die Niemand hindern konnte. Polen mußte darnach trachten, die Mündungen seiner Ströme für sich zu gewinne», die Deutschen ihrerseits konnten das nicht zu lasten. Damit war ein geographischer Gegensatz gegeben, der sich gar nicht ändern ließ. Jedes jugendliche, aufstrebende Volk drängt unbarmherzig vorwärts nach der Meeresküste. Sobald die Ungarn den Dualismus durchgesetzt hatten, 1867, war cs das Erste, daß sie das alte Küstenland für sich forderten und von der Schwäche Oester reichs auch erlangten: so hatte Ungarn seinen Hafen Fiume. In alledem liegt ein Ncitnrdrang. Das Meer wirkt stärkend ans alle Sitten eines Volkes ein; bei seefahrende» Nationen kann vollständige Unfreiheit nur ausnahmsweise aufkommen. Es gicbt kam» einen menschlichen Beruf, der so alles Untüchtige ansstößt, wie der des Seemannes; daher kann hier die menschliche Kraft so frei gedeihen. Er erzeugt eine wesentlich demokratische Anschauung, welche allein nach der Leistung fragt lind nrth ilt. Wenn mau Sparta und Athen Vergleicht, so sieht man deutlich, wie die Seemacht Athens ans de» ganzen Charakter des Staates znrückgewirkt hat, im Gegensatz zu dem bimicnländisch verhockle» Sparta, das nie eine» geistig freien Horizont gewann. Unsere verstockt n Verhältnisse in Deutschland hat .vor Allem die reine BinncnlandSpvlitik des Hauses Habsburg ver schuldet. Wie eiu Meteor erscheint hier Wallcustci», ein genialer Kopf, der schon den Gedanken faßte, aus dem Jahdebusen einen deutschen Se.hafcn z» machen und einen Kanal zwischen Nord- und Ostsee zu grabe». Von der Natur ist Tcntschlaiid allerdings stief mütterlich bedacht. Die Ostsee trägt überwiegend den Charakter des Binnenmeeres. Das kann man erkenne» daran, daß die Einwirkiuig der See auf die anwohnenden Menschen eine sehr geringe ist. Man ahnt ein paar Stunden von der Küste in Pommern gar nicht, daß man an der See ist. Die Nordsee hat in Deutschland die denkbar schlechteste Küste durch die Walten. Das Alles ist so ungünstig wie möglich; aber auch hier kann man sehen, wie der Mensch natürliche Hindernisse zu überwinden vermag. Dieses Deutschland mit seiner widerwärtige» Küste ist einst doch die erste Seemacht gewesen und soll es, so Gott will,, wieder werden." Die Behauptung der „Germania", daß das Reich erst gegen den Anarchismus gesichert sei, wenn es seine Thore den Jesuiten geöffnet habe, hat selbst die „Verl. Pol. Nachr." in Harnisch gebracht. Das Blatt, von dem ma» sagt, daß cs Herrn v. Miguel nahe siche, führt eine Sprache, die das Zentrum seit langer Zeit nicht mehr von ihm gehört hat. Man höre: Ohne Zweifel werden Ausführungen dieser Art bei vielen Lesern nur Heiterkeit errege»; sic Huben aber auch ihre ernste Seite, indem sie erkennen lasse», zu welchem Maß von Ansprüche» gegenüber dem Staate sich der UltramonlainSmus für berechtigt erachtet." Die „Germania" wird sich dadurch aber schwerlich einschüchtern lasse», weil sic weiß, dcch man heutzutage ohne Bescheiteuh.it weiter kommt, als mit ihr. Die deutsche Volkspartei hat ihren diesjährige» Partei tag i» Stuttgart abgehaltcn. Es waren etwa 150 Theilnehnier, zumcist aus Süddeutschland, erschiene». Auf Antrag des Abg. Payer wurde beschlossen, den Vorort der Partei, des engeren und weiteren Ausschusses von Stuttgart, wo er seit zehn Jahren gewesen, nach Frankfurt a. M. zu verlege». Professor vr. Qiudde-München hielt sodann einen Vortrag über die „Rechtspflege im deutschen Reiche", auf Grund dessen eine Protestresolution gegen die geplante Verschärfung des Strafgesetzbuchs auf dem Gebiete der Koalitions freiheit beschlossen wurde. Ueber die Abrüstnngssrage bcrichlele Prof. Hosfmaun-Stnltgart, aus dessen Vorschlag eine Resolution an genommen wurde, die dem Wunsche Ausdruck giebl, daß die deutsche Negierung ans der Friedenskonferenz die Vorschläge des Zaren redlich zu fördern fruchte. Ter letzte Redner, Rcichstagkabgcordneter C. Hanßman», sprach sich über die durch die Neichstagswahlen ge schaffene politische Lage ans. Nach senier Ansicht ist eine Aera der Kompromisse zu erwarten. Für eine Reihe gemeinsamer Interessen-!beschlossen. Rußland. Der Zar beglückwünschte die Kaiserin-Mutter von China telegraphisch zur Nebernahme der Negierung, lieber die Einzelheiten des Regierungswechsels wird aus Peking berichtet, daß derselbe hauptsächlich auf die Drohung der mongolischen Banner- Herren erfolgte. Dieselben drohten, ihre Stellungen niederzulegen, falls das Bündniß mit Japan zu Stande kommen sollte. — Der klerikale Posener „Knryer Poznanski" meldet, daß die katholischen Priesterscmiuare in Wloclawek, Scjnh und Sandowier von der russische» Regierung geschlossen worden seien. Als Grund gilt, daß die Negierung die Anwendung der russischen Sprache bei verschiedenen Unterrichtsgcgcnstäudcii verfügte, dem sich die betreffenden Bischöfe widersctzte». ' ' Orient. Am Sonntag traten in Konstaiitinopel die Bot schafter Englands, Frankreichs, Italiens und Rußlands zn ihrer ersten Berathnug in der Angelegenheit der Lösung der Kretafrage zusammen. Die Revision deö Dreyfnsprozeffes beschlossen. In der Dreyfnssache kamen gestern »nd heute der Reihe nach folgende Depesche» aus Paris: „Angesichts der vollständigen Uneinigkeit über die Nevisivusfrage ersuchte der Ministerrath den Präsidenten Aaure telegraphisch, nach Paris zu kommen." „Alle Minister einigten sich vohiu, die Nevisio» im Prozeß ^ Drehfus einzuleiten und die Prozeß-Akten dem KassationS- Gcrichtshofe z» übermitteln. Präsid.nt Faure kehrte Nachmittag- nach Paris zurück. Der Jnstiziiiinistcr erklärte, er werde dem General- prvkurator Anwcisnug crtheilcn, daß jeder Angriff gegen die Armee ^ unverzüglich gerichtlich verfolgt werde."- „Eine amtliche Note besagt: Am Montag Vormittag fand unter dem Vorsitz Brissvus ein Ministcrrath statt. Aus den Beschluß des MinistcrrathcS wird der Jnstiziiiinistcr das ihm cingercichte . Ncvisioilsgesuch dem Kassationshose znsteltc». Der Justizmiuister thciltc mit, er werde den Generalproknrator anwcise», daß jeder An griff aus die Armee nnrcrznglich gerichtlich verfolgt werde." Somit ist endlich die Revision dieser unglückseligen Prozeßsach« fragen wünscht und erhofft Haiißmann ein cncrgisches Zusammengehen der lin'slibcralcn Parteigruppen. Ausland. Oesterretch-ttugar»». Am Sonntag fand unter Vorsitz des Handctsmiiiisters Or. v. Bcirnreither die kvnstilnircnde Sitzung des dem statistischen Amte bcizegcbcnen Arbeitsbeiraths statt. In seiner Ansprache an die Versammelte» bemerkte der Handelsministec, die brennendste Frage der sozialen Gesetzgebung sei die Reform der Unfall- und Kraiitcnvcrsichcrnng. Traitkreich. Nach einer i» Paris eittgctroffkiie» Depesche aus Saint Louis (Senegambicn) l,at Lentnant Wölscl am 9. d. M. bei N'Zo, 60 Kilometer vom Cavalthslnsse entfernt, mehrere Bande» Sotas vcrni.chtct und »ach sechsstündigem Kampfe den Sohn Samvris, der die französischen Truppe» zn überraschen versuchte, zurnckgcschlagcn. Unter den Todten befindet sich Biloti, der Stell vertreter Samvris. Wölfel machte 5000 Gefangene und erbeutete eine große Menge Flinten und Munition. In Folge des Sieges haben sich 20,000 Eingeborene unterworfen und 3000 Flinten aus- gk'äefert. Wölscl traf darauf wieder mit de» Truppen des Haupt- manns Gaden zusammen, von denen er begeistert empfangen wurde. Bekanntlich hat sich die Kommission, der die Vorerheünng darüber anfgetragcn war, ob Gründe vorlicgcn, die Revision eiiiznlcite», ge- thci'lt. Drei Kommissioiismitgliedcr, und zivar die selbstständigeren Näthe des Kassalioii.'hofes waren gegen die Revision und die drei Ministeri'albcamten, Lakaien der Drcyfnssrciindlichcn Minister, für die Revision. Schon das beweist wieder, daß es mit der Unschuld des Drehfus sehr faul bestellt ist. Ucbrigcns ereifert sich für die Unschuld de- Drehfus nur mehr der deutsch: Bicrbantphilister, in Frankreich selbst. Niemand, dort weiß Jedermann ganz gut, daß der ganze Rummel sich in Wirklichkeit nicht um Drehfus und nicht um Recht oder Unrecht dreht, sondern daß ec lediglich ei» Kampf politischer Parteien um die Macht im Staate ist. Die Partei, welche dabei vorgicbt, für die Unschuld Deeyfns'zu kämpfe», besteht, wie wir schon hcrvorgehoben habe», ans nmstürzlcrisch:» und anarchistische» Elementen. Und i» solcher Gesellschaft befindet ein großer Thcil jener deutschen Presse, die täglich und bei den unscheinbarste» Vorkommnissen gegen den vermeintlichen Umsturz wettert und keine noch so unbedeutende Gelegenheit versäumt, nach der Polizei zn rnse». Ist das Ehrlichkeit? Zu dem gestrigen Beschlüsse des sranzösischcn Ministerraths schreibt die Dreyfussrcnndliche „Köln. Ztg.", daß diese Entscheidung den Keim v o n Vcrw i cke ln nge» in sich trage, die znr Katastrophe Eine historische Anekdote von Egon Nvsca. Es war am Tage vor dem Christfest des Jahres 179., als durch eine d:r bedeutendsten Straßen der Stadt Genf ei» junger Mann dahintrabte. Obgleich derselbe änßerst einfach, ja beinahe ärmlich gekleidet ging, so lag doch i» seiner ganzen Erscheinung ein gewisses Etwas, welches den Kundigen in ihm einen Mann erkenne» ließ, der nothwendig den höheren Gesellschaftskreisen angehören müsse. Er war cher klein, als groß zn nenne», nnd vcrrieth den Südländer; besonders große Sorgfalt hatte er ans die Anordnung seines schönen schwarzen Haares vcrwcnd.t, sowie anch die Feinheit und Weiße einer Wäsche, — noch mehr hervvrgehobcn durch eine schwarze schmale cidcne Halsbinde, — gegen die übrige Einfachheit seiner Kleidung ast luxuriös erschien. Der junge Man» Halle den Martlptatz erreicht und wollte so eben in ci» ansehnliches Haus, dem Nachhause gegenüber, cintretcn, als er neben der Einfahrt desselben einen armcpi Krnp.cl znsammcn- gckancrt erblickte, der vor Kälte zitterte und mit den -Zähnen klapperte, weil die paar Lumpen, welche seine Kleider vorstclllcn, kaum Ylnrclchten, jei„e Blöße zn bedecke». Der junge Mann trat auf den .Ncnschim zu, fixEle jh„ scnan »nd redete ihn dann mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit an. Der Invalide antwortete und erhob Anrede des jungen Manne-, um ihm durch das Guisahrtsthor des gedach en Hauses in den Hvfranm desselben da ,n c," kleines Nebengebäude z„ folge», welches in dcr Regcl als Waschhaus benutzt wurde, und dessen orhnr er sorgfältig hinter sich und de», Invaliden abspcrrie. Hier i» eiiieii, Stübchen Wohnte Monsieur Philippe. In eine», noblen Zimmer des Hauptgebäudes saß zur selben Zeit im Svrgeiistnhl eine ältliche Dame von stattlichem, aber zugleich auch wohlwollendem Aussehen, und sah lächelnd der Geschäftigkeit zweicr jung:», überaus reizenden Mädchen von 15—18 Jahren zu, welche ans cinei» mit kostbarem Teppiche behänge,:en Tische, welcher zunächst des einzigen gr.ßril Fensters stand, Bücher, Schrcibrequisiten und Landkarte» i» ziemlicher Ordnung verthciltcn. Jetzt waren sic Hamit zn Ende gekommen »nd klick.c» gleichzeitig wie verwundert auf das Zifferblatt der kostbare» P.-iidnle, welche über dem Kaiiiiiigcsiiiise ihre» Platz erhalle» halte, dann sahen sic einander selber a». und schüttelt.» die Köpse, indem sie anSriefc»: „Unerhört!" fragte die Dame, welche im niis," entgcgnete Emilie, das ältere der „Was habt Ihr, Ihr Mädchen?" Sorgensi»hle saß. „Ei, wir wiiiidern beiden Fräulein. „Und worüber winidert Ihr Euch?" „lieber iinser» Monsieur Philippe!" „Was ist mit ihm?" „Ja, das mag eben der Himmel wisse»," entgcgnete Käihchen, „ich und Emilie küiinen's »ns nicht erklären." „Erklärt mir, was Ihr eigentlich meint." „Wir meine»," versetzte 'Emilie, „Monsieur Philippe sei bisher immer vor dem Glvckcnschlage Zehn bei seinen Schülerinnen, — welche wir vorslcllcn — erschienen, nnd jetzt ist cs schon seit eincr Viertelstunde und — (sie blickte wieder ans die Uhr) zwei »nd eine halbe Minute über Zehn und er ist »och nicht da." Die Dame r.» Sorgcnstnhle lachte. — „Ist das Alles?" „Ist das noch nicht genug?" fragte Käthchen ernsthaft nnd inachte ein allerliebst wichtiges Gesicht. „Monsieur Philippe ist sonst so Pünktlich", bemerkte Emilie. „Und hat uns selber unzählige Mate gelehrt, Zeit wäre kost barer als Gold", fügte Käthchen hinzu. „Für Euch ist sie cs, Ihr glücklichen Kinder," sprach weh- müthig die Mutter. „Nun also, Mama," rief eifrig Käthen: „Da dürfen wir keine Zeit unnütz verlieren. Gütiger Himmel, wir haben »och so viel zu lernen und zn denken." Inzwischen wurde an die Thiire geklopft, und auf das „Herein* der ältere» Dame trat Monsieur Philippe, der wohlbestallte Hans lchree der beiden Fräuleins, ci». „Ach, da ist er!" rief Knthchcn lebhaft. Monsieur Philippe erklärte artig, aber ohne Verlegenheit sein verspätetes Kommen dadurch, daß ihm ans der Gasse Jemand be gegnet wäre, von welchem er sich nicht so schnell, als er gewünscht hätte, lvSmache» konnte. „Sie bedürfe» keiner Entschuldigung, Monsieur Philippe", ent- gcgnele gütig die Dame des Hauses, „Ihre Pünktlichkeit ist uns bekannt". Monsieur Philippe verneigte sich stumm und lud dann die beiden jungen Mädchen mit'einem „Ist cs Ihnen gefällig?" ein, Platz an dem Arbeitsplatz zu nehmen. De» beiden Fräuleins war eS aller dings gefällig, und so begann der gewöhnliche Unterricht, französische und deutsche Sprache, Geographie, Naturgeschichte, Physik, W.ttge- schichte, endlich Schönschreiben in mehrere» Sprachen. Ja, die jungen Fräuleins mußten i» der Th-t viel lernen und viel denken. Aber der Wahrheit die Ehre! Beide jungen Tam.-n lernte» mit besendem»» Eifer und besonderem Glücke, nur mit dem Schönschreiben wollte es bei den» so lebhaften als schönen Käthchen nicht so recht fort, und die Buchstabe» gcriethen ihr immer ungleich, sowie die Zeilen lrn nm, »veil sie die Feder nicht recht hielt. Monsieur Pbilippc verlor die Geduld nicht, sondern schickte sich an, ihr einmal wieder alle Handgriffe und Bortheile, der » sich ci» Kalligraph bedient, zn zeigen. Nicht nur Kälhchcii, sondern auch Emilie hatten sich längst im Stillen gewundert, daß Monsieur ^Philippe, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, heute seinen Frack bis dicht unter das Kinn zngcknvpst hatte, jetzt beugte sich Käthchen über seine Stuhllehne, um zn sehen, wie er schreibe, stieß aber plötzlich einen la llen Schrei ans nnd snhr mit blntrothem Gesichte zurück. „Was schreist Du?" fragte die Mutter schuf, und noch ganz erschrocken, »nd durch die strenge Frage der Mutter noch mehr außer Fassung gebracht, platzte Kälh-hcii heraus: „Ach du lieier HimmelI Monsieur Philippe hat kein Hemd an!" „Bist Tu närrisch?" fragte die Mutter wirklich böse und nicht minder vc>l gen, als Emilie. Anch Monsicnr Philippe war einige Sekunden höchst verlegen, dam» aber faßte er sich und sprach lächelnd: „Es ist wahr, — mir fehlt heute ein sehr iiothwcudigcs Kleidungsstück — anch die Weste nnd ein Obcrrock, aber da Käthchen cs doch einmal bemerkt, so werden Sie mir nicht zürne», wenn ich Ihnen gestehe, ich ver schenkte Alles an einen armen Teufel, der gar nichts hatte, seine Blöße zu bedecken, — habe ich doch »och zn Hanse eine» Oberrock »nd Wäsche, so viel ich bedarf." Die Dame lächelte, der Unterricht wnrde für heilte abgebrochen, nach einigen Taz,cn aber erhielt Monsieur Philippe von seinen schönen Schülerinnen ein ganzes Dutzend der feinsten Hemden, welche sie und die Mutter selber genäht hatten. Er nahm sie an, denn die Spenderinnen, die Fürstin von Lippe-Detmold und ihre beide» Töchter, ahnte» es damals freilich nicht, daß ihr Hauslehrer der junge Herzog von Orleans Louis Philippe sei, der später den Thron von Frankreich besteigen nnd als Verbannter in England ende» sollt«.