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—. Nr. 184. - 1«»s. — Diese verbreitetste unparteiische Zeitung erscheint Wochentags Abends (mitDatnmdes nächsten TagcS) und lostet mit den fünf wöchentlichen Beiblättern: Meine Botschaft, Sächsischer Erzähler, Gerichts-Zeitung, Sächsisches Allerlei, Jllustrirtes tlnter- haltnngsvlatt, bei de» Postanstaltcn und bei den Ausgabestellen monatlich 40 Pfennige. 1. Nachtrag Nr. LS77. «cntralanzeigir General s Donnerstag, den 1v. August. 1LS. Anzeiger für Chemnitz und Umgegend. (Sächsischer LandeS-Anzeiaer). — Gegründet l»VS als „Anzeiger" re. Verlag und RotationS»,aschinen.Drn« von Alexander Wied« in Chemnitz, Theaterstrabe Nr. 8. Inseraten - Preis: Die s g«o spalten« TorpuSzeile oder deren Raum 20 Pfg. (PreiSverzeich« Nisse ä. Zeile 23 Pfg.) - Be« vorzuate Stelle (Reklame-Zeile) 60 Ps^. Bel vorausbestellte» Wiederholungen grösserer In» seratc entsprechender Rabatt. — Anzeigen für die Nachmittags erscheinende Numiner können nur bis Vormittag 10 Uhr an genommen werden. Geschäftliche Anzeiger« Inserat« finden sür billigsten Preis zugleich Verbreitung durch dl« täglich erscheinende Chemnihe« Eiseilbahll-ZettiMg. Verfchiebullg der europäischen Bündnisse? Chemnitz, den 9. August. In der heißen Sommerszeit, die wenig thatsiichlicheS Material bietet, ist es eine beliebte Unterhaltung, sich auf das Gebiet der hohen Politik zu begeben und allerlei neue Konstellationen am politischen Sternenhimmel zu erblicken. Eine ganz besondere An regung findet diese Thätigkeit gerade gegenwärtig durch die Reise des französischen Minister des Auswärtigen Delcassä nach Petersburg. Wenn man einzelne politische Ereignisse, mögen sie sich als eine Annäherung zwischen bisher nicht besonders befreundeten Mächten oder al» ein Zeichen der Verstimmung zwischen bisher verbündeten Mächten darstelle», zum Anlasse nimmt, eine Verschiebung der bis herigen Bündnisse als bevorstehend anzusehen, so überschätzt man einerseits die Tragweite einzelner politischer Geschehnisse, andererseits unterschätzt man die Bedeutung der bestehenden Konstellation. Man vergißt ganz, daß die Bündnisse nicht ans Laune und nicht wegen einzelner vorübergehender Ereignisse abgeschlossen worden sind, sondern auf der Basis einer dauernden Jitteressengemeinsamkeit. Daran sollte man ebensowohl denken, wen» man vie Auslösung bestehender Bündnisse prognostizirt, als wenn man die Bildung neuer Konstellationen als nahe bevorstehend ansicht. Daran sollte man also vor Allem denken, wenn man den baldigen sanstseligen Tod des Dreibundes prophezeit. Sowohl Italien, wie Oesterrreich, wie auch Deutschland haben nach wie vor ein Interesse an dem Fortbestände des Dreibundes. Italien verträgt schon wegen seiner geographischen Lage eine Jsolirung nicht. Wer sollte aber an die Slelle von Oesterreich und Deutschland als Ver bündeter treten? Trotz des Abschlusses de» italienisch-französischen Handelsvertrages und trotz des Zusammentreffens des italienischen Königspaares mit der französischen Flotte an der sardinischen Küste hat Italien seitdem schon wiederholt Gelegenheit gehabt, die »liß- Hünstige, ja nahezu seindsclige Stimmung der Franzosen kennen zu lernen. Jeder einsichtige Politiker in Italien weiß, daß ein Bündniß auf der Basis der Koordination mit Frankreich nicht denkbar ist. Die Franzose» werden immer das bestehende Königreich Italien ebenso patronisiren und ebenso von oben herab behandeln wollen, wie sie vor vier Jahrzehnten da» zu begründende italienische Königreich behandelt habe». V In Oesterreich möchten wohl gern die Tschechen von dem Drei bunde lvskomme» und sich an Rußland eng anschließen, aber einmal sind sowohl das deutsche, wie das magyarische Element, die zusammen ja dem slavischen Elemente an Macht überlegen sind, für eine solche Veränderung der auswärtige» Politik nicht zu haben, zweitens wider spricht ein derartiger Frontwechsel dem österreichischen Staatsinteresse. Das mag man aus einem Artikel der in Rußland sehr einflußreichen „Nowoja Wremja" über ein russisch-französisch.österreichisches Bündniß entnehmen. I» diesem Artikel wird der Anschluß Oesterreichs an die russisch-französische Allianz begrüßt, aber es klingt wie blutiger Hohn, wenn das russische Blatt die Bedingung stellt, Oesterreich dürfe nicht etwa fürderhin Serbien unterstützen und durch das Regime Kallay Bosnien und die Herzegowina bedrängen; das heißt mit anderen Worten, daß Oesterreich auf die Verfechtung seiner Lebensinteressen auf dem Balkan verzichten solle, damit Rußland völlig freie Hand habe. Sonst hält man Jemandem, den man sich zum Freunde machen will, eine Lockspeise vor, das russische Blatt verlangt von Oesterreich für die Ehre, in die russisch-französische Koalition eintreten zu dürfen, ein Opfer. Aber auch Deutschland hat kein Interesse daran, einen Front wechsel vorzunehmen. Giebt es den Dreibund aus, so muß es sich entweder eng an England anschließen, und was das bedeutet, weiß Jeder, der die englische Ueberhebung erfahren hat, oder eS müßte sich an Rußland und Frankreich anschließen und damit England dauernd sich zum Feinde machen. Auch daran hat Deutschland kein Interesse, um so weniger, als es sich jetzt wenigstens zuin Theil mit England über die Vertheilung der Macht i» fremden Erdtheilen gütlich auseinandergesetzt hat. Sticht nur Deutschland, sondern auch Frankreich und Rußland Widerstreben einstweilen dem Gedanken eines dauernden Zusammen gehens. In Frankreich ist der Chauvinismus noch viel zu üppig entwickelt, aln daß von einer Entente mit Deutschland die Rede sein könnte, und in Rußland hat schrn die Andeutung einiger französischer Blätter von einer Annäherung Frankreichs an Deutschland eine nervöse Stimmung erzeugt. Wohl wünscht man i» Rußland keines wegs einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, aber das Fortbcstchcn einer gewissen Spannung zwischen den beiden Ländern ist den Russen durchaus erwünscht, und wenn es auch nur darum Wäre, um den Franzosen recht unentbehrlich zu erscheinen. So entspricht also eine Aenderung der bisherige» Konstellationen auf dem europäischen Kontinent — Dreibund einerseits und Zwci- bund andererseits — weder den politischen Bedürfnissen, »och de» Steigungen der beiheiligten Regierungen. Und darum ist die Be schäftigung mit solchen Konstcllations-Acnderungen einstweilen in das Gebiet der politischen Spielerei zu verweisen. Politische Rundschau. Chemnitz, 9. August 1899. Deutsches Reich. '— Der Kaiser empfing am Dienstag früh in Wilhelmshöhe den Feldjäger Oberleutnant Freiherrn von Llrombeck, welcher eine» eigenhändigen Brief der Königin von England überbrachte. Die Königin hatte den Freiherr» von Strombeck in Lsbvrne empfangen. Derselbe berichtet, daß das Befinden und Aussehen i cr hohen Dame ganz vortrefflich sei. Diese Nachricht deutet unverkennbar ans Besserung der englisch-deutschen Beziehungen, ebenso auch die Sprache, welche am Montag der Parlamentsuntersekretär Brodrick i>» englischen Unter hause führte. Derselbe erklärte, was die Allianzen betreffe, so seien diejenigen die Vesten, über die am wenigsten gesprochen werde. Wa» Deutschland anlange, so könne England in verschiedenen Welttheilen guten Ergebnissen aus der gemeinsamen Arbeit mit demselben ent gegensehen. Er (Brodrick) sehe nirgends einen Interessengegensatz zwischen England und Deutschland in diesen Dinge». Zweifellos seien diese beiden großen industriellen Nationen Handelsrivalen, aber sie begegneten sich in dem Wunsche, alle Woltiheile ihren Fabrikaten zu erschließen. — Die Kaiserin hat, wie den „Münch. N. N." nachträglich gemeldet wird, vor ihrer Abreise von Berchtesgaden dem Baumeister Lorentz nachstehende Worte in die Bibel geschrieben: „Dem Baumeister Lorentz in Berchtesgaden zur Erinnerung an seine SOjährtgen, treuen Dienste als Kirchenältester und an die Kirchweih am 30. Juli I8SS. Osfenb. Joh. 21, 7: „Wer überwindet, der wird eS alles ererben, und ich werde sein Gott sei», und er wird mein Sohn sein." Auguste Victoria 1. K." — Die Feier der Eröffnung des Dortmund-Ems- KanalS beginnt am Freitag Morgen 9 Uhr. Auch die Minister von Miquel und Thielen werde» an der Feier theilnehmen und kehren alsbald nach Berlin zurück. — Der Dienstag-Sitzung des Internationalen ThierärMchen Kongresses in Baden-Baden wohnte der Großherzog von Bade», der von Insel Mainau dort eingetroffen war, bis z»m Schluß bei. Der Großherzog, der vom Staatsminister vr. Eisenlohr empfangen wurde, hielt eine kurze Ansprache in französischer Sprache, in der er seiner- Freude darüber Ausdruck gab, an den Verhandlungen theilnehmen zu können, und das Interesse und die Theilnahme bekundete, die er dem Kongresse entgegenbringe. Der Kongreß faßte folgenden Beschluß: Im Interesse der wirksamen Bekämpkung der Maul- und Klauenseuche liegt eS, erstens die wissenschastliche Ersorschung dieser Seuche mit allen Mitteln zu betreibe», zweitens, das verseuchte Gebiet vom Viehverkehr abzu- spcrren, und drittens, de» Verkehr mit HandelSvteh einer strengen veterinär polizeilichen Ucberwachung zu unterwerfen, dergestalt, daß dar Vieh von den Viehhändlern vor dem Feilbieten einer polizeilichen Beobachtung unter worsen wird. — Der diesjährige sozialdemokratische Parteitag findet bekanntlich am 9. Oktober in Hannover statt. Die pro visorische Tages-Ordnung ist nach dem „Vorwärts" wie folgt fest gesetzt : Konstituirung des Parteitages. Wahl des Bureaus. Festsetzung der Geschäfts- und Tagesordnung. Wahl einer Kommission zur Prüfung der Mandate. Geschäftsbericht des Vorstandes. Bericht erstatter: I. Auer und A. Gerisch. Bericht der Kontroleure. Be richterstatter: H. Meister. Bericht über die parlamentarische Thätig keit. Berichterstatter: G. Hoch. Die Zuchthansvorlage vor dem Reichstage. Vericherstatter: M. Segitz. Erörterung über Punkt 3 des Programms. Berichterstatter: F. Geher. Die Angriffe auf die Grundanschauiiugen und die taktische Stellungnahme der Partei. Berichterstatter: A. Bebel. Die Maifeier 1900. Berichterstatter: W. Pfannknch. Anträge zum Programm und zur Organisation. Sonstige Anträge. — Der Mangel an Arbeiterinnen, der in der Bijouteriebranche und in der Zigarrenindustrie in Baden schon seit Jahr und Tag beklagt wird, hat nun auch die Textilindustrie so stark heimgesucht, daß die Spinnerei und Weberei Neurode im unteren Albthal sich veranlaßt gesehen hat, italienische Arbeiterinnen heranzuziehen. Sie stellte der „Franksurter Zeitung." zufolge dieser Tage einstweilen vierzig Italienerinnen an und es wird von dem Versuch abhängen, ob weitere Arbeiterinnen aus Italien bezogen werden. Ausland. Oesterreich - Ungar««. Die Kundgebungen sind kaum »och zu zähle», wie sie jetzt in Oesterreich gegen die neuen Verbrauchssteuern veranstaltet werde». Der letzte Montag brachte in Wien vierzehn sozialdemokratische Einspruchsversainmlungen, worunter eine nur sür Frauen von Eisenbcchnbeamten bestimmt war. Sie war massenhaft besucht und wurde, ials die Arbeiterführer!» Adelheid Popp gegen die jetzt beliebte Beschlagnahmepraxis sprach, vom Regierungsvertreter aufgelöst. Die Frauen aber machten keine Miene, den Saal zu verlassen, bis die Wache diesen räumte. Auch zwei andere Versammlungen wurden aufgelöst. In zwei Bezirken kam eS nach Schluß der Versammlung zu großen Slraßeiikundgebniigen, die im Bezirk Margarethe» die Form von Katzenmusiken aiinahme», die mehreren christlich-sozialen Partcihänptern dargebracht wurde». Die Polizei nah», mehrere Verhaftungen vor. Weiiere Widerslands- versammlunge» werde» aus Wiener Neustadt, Laibach, Saaz, Pisiuo und Brünn gemeldet. In Brünn kam es Straßenkniidgebungen. — In Wels (Oberösterreich) fand bei einem Radwetifahre» ei» Znsa mmen stoß zwischen Zivil und Militär statt. Ein Arlillerieunteroffizier aus Linz saug die „Wacht am Rh in" mit, was ihm ei» Wachtmeister verwies. Der Unteroffizier, auf das Ventsch-vslerreichischc Bündniß hinweisend, meinte, er dürfe mitsingen. Der Wachtmeister zwang ihn jedoch, das Lokal zu verlassen. Darauf wnrdeu spater ciutreffcnde Landwehr Ulanen mit den Rusen: „Ab zug Militär!" aus dem Garten gedrängt. Eine unter Kommando eines Rittmeisters hcranrückende Patrouille verhaftete einen Nufer. Das Publikum mischte sich enn, worauf die Soldaten mit den Säbeln dreinhiebcn und zwei Personen verletzten. Großbritannien, Großes Aufsehen erregt in England eine Rede, die Professor Ogston aus Aberdeen in der Gesellschaft britischer Aerzte in Portsmouth hielt. In dieser Rede fällte Professor Ogston ei» sehr abfälliges Urtheil über de» gegen- wärligen Stand der Krankenpflege in der englischen Armee und Flotte, der es einem gradnirten Arzt geradezu ver biete, in den Staatsdienst zu trete». Namentlich mit Bezug auf die Flotte meinte er, daß an Bord der Schiffe Alles, was dazu diene, das Leben zu zerstören, sich in dem denkbar besten Zustan! e befinde, aber nnnn 2o v. H. von den Leuten auf dem Schiff verwundet würden, so wäre man nicht im Stande, ihnen die gehörige Pflege angedeihen zu kaffen. Das Kriegsdepartement solle den therapeutischen Vorkehrungen in der Armee und Flotte größere Auf« merksamkeit widmen. Der Spitaldienst werde viel zu wenig berück sichtigt. Jede Flotte der Marine sollte ein rothbeflaggtes Spital« schiff besitzen, das gleich dem besten bürgerlichen Spital auSgestattet werden müßte. Orient. Aus Konstantinopel wird unterm 6. August ge« meldet: In hiesigen türkischen und diplomaiischen Kreisen erhält sich mit Hartnäckigkeit die Meldung von einer schweren Erkrankung des Schahs von Persien, nur lauten di« Angaben über den Charakter der Krankheit sehr verschieden. Während Reisende, die aus Teheran eingetroffen sind, behaupten, der Schah habe ein »n« heilbares Brustleide», erklären andere den Letzteren für geisteskrank. Jedenfalls aber scheinen die Verhältnisse in Persien einen anormalen Charakter angenommen zu haben, was auf di« Nebenbuhlerschaft der in Persien interesstrten Mächte wohl bald einen fühlbaren Einfluß ausüben dürste. Philippinen. Eine Drahtmeldung, welche der philippinische Agent Agoncillo von Hongkong an» an seine Madrider Freunde ge sandt hat, besagt, die militärischen Stellungen der Filipino» seien derart gesichert, daß Aguinaldo gegenwärtig nur 10 000 Man« unter Waffen hatte, während die übrigen Mannschaften mit der Wiederherstellung der zerstörten Ortschaften und mit der Bestellung der Felder beschäftigt seien. Wenn nach Beendigung der Regenzeit der Kampf wieder beginne, würden die Amerikaner die Filipinos mit Kriegsbedarf und Vorräthen bestens ausgerüstet finden. Afrika. Ein Kapstädier Telegramm besagt, daß in den militärischen Kreisen am Kap eine ungeheure Thätigkeit herrsche. An verschiedene Punkte werden Regimenter gesandt und Offiziere machen Rundreisen im Lande. Die Operationen bezwecken, die Buren zur Verzweiflung zu bringen. Das sei auch bereits geschehen. Dreyfus vor dem Kriegsgericht in Rennes. In dem denkwürdigen Prozesse in RenneS ist schon mit dem ersten VcrhandlnngStage eine größere Pause eingetreten, für da» Publikum wenigstens. Die Oefsentlichkeit ist so lange ausgeschlossen worden, wie die Prüfung der oft erwähnten „Geheimakten" durch den Gerichtshof dauert Diese wird voraussichtlich vier Tage i»^ Anspruch nehmen, und so lange muß man sich gedulden, bis da spannende Justizdrama weiter vorschreitet. Aus dem ersten Verhöre Dreyfus' theilen wir zur Ergänzung unseres gestrigen Berichtes »och nachstehende Einzelheiten mit: Es war am Montag 7 Uhr 5 Minuten früh, als der Präsident des Kriegsgerichts, Oberst Jouaust, in einem Tone gezwungener Nonchalance dem Thürsteher des Gerichtssaales die Worte zurief: „Unissisr, taitss iutroäuiiö l'aoouso Orsytus!" — „Huissl'er, lassen Sie den Angeklagten Dreyfus vvrführen!" Dann nah», er mit den Richtern auf der Estrade Platz. Eine Thür öffnet sich im Fond rechts. Ans dem Publikum ist kein Laut vernehmbar, im Saale scheint es Allen den Athen, zu verschlage». Kein hastige» Auf-die-Bänke-stürze», kein Gedränge, kein Räuspern. Auf allen Mienen spiegelt sich höchste Erregung. Dreyfus erscheint in der Thür vor einem Menschenwall, der ihn mit Beben anstarrt wie einen Geist. Es ist helllichter Tag; gedämpft, aber reich strömt die Sonne in alle Winkel des Saales. Was geht in Dreyfus vor, da er zum ersten Male seit nahezu fünf Jahren wieder in einem Raume ist, der aus allen Poren Leben athmet, da er sich unter vielen Menschen befindet, da er wieder beginne» kann, wo er vor fünf Jahren begann, in der Hoffnung, sreigesprochen zu werden, als wären die letzten fünf Jahre ausgelöscht? Ruhig und fest geht er einige Schritte vor, sieht in's Leere, wendet sich, am Rande der unteren Estrade angelangt, rechts »m, besteigt, von einem Gendarmerie- Kapintii gefolgt, ras Podium. Er geht gelassen auf seinen Sessel zu, bleibt vor demselben, das Gesicht zum Präsidenten gewendet, tchen. Er verbeugt sich und nimmt Platz. Die Augen des Publikum» und der Richter folgen ihm mechanisch, ohne ihn recht zu sehen. E» liegt etwas Hypnotisches in allen Blicken, und wäre Dreyfus bei der anderen Thür wieder hinausgegangen, so hätten Wohl tausend Leute tausend verschiedene Bilder von ihm festgehälte», Jeder da» Bild seiner Phantasie, Keiner das wahre, denn es war kein Mensch unter Allen im Saale, dem es in diesen Momenten nicht vor den Augen schwirrte. Es wird Jeder, der anwesend war, ob Freund oder Feind, de» Eindruck dieser Szene cls einen nnauslöschlichen für das ganze Lebe» bewahren. Ehe man sich'S versah, saß Dreysns mit dem Rücken gegen da» Publikum gekehrt, das nun keinen Blick mehr von ihm abwendele. Der erste Eindruck, der sich Allen ohne Ausnahme mittheittc, war der eines durch eine» blötzlichen Schlag über Nacht ergrauten jungen Mannes. Sein kurzgeschorencs Haupthaar, das im Profil fast ganz barilos scheinende Gesicht, die tiefe Rölhe des Teints, die am Halse und Hinterkopfe ebenso durchschisu wie auf dem Stück der Wangen, das man zu sehen bekam, gaben ihm eher das Anssch:» eine» Kadetten, der eben erst seine Offiziers-Epanlctten errungen hat. Aber das ganz erbleichte Haupt und mehr noch die Wölbung des Rücken» standen in schreiendem Widerspruch zu jener aufdringlichen Rölhe, die ein Vermächtniß der Trope» ist. Ein gesunder Mann, aber ein schwergebeugter Mann, den nur seine Nerven von Stahl am Leben erhalten konnte». Dieser Eindruck ward vollauf bestätigt, als Drehs»» endlich znm Verhör aufstand und dabei öfters Gelegenheit gab, ibui in's Gesicht zu blicken Es ist der Dreyfus der bekannte» alte» Photographien. Das Studcntengesicht mit einem ganz dünnen Schnurrbärtcheii, sonst glatt rasirt, ans der Nase den leichten Zwicker ohne Einfassung. Nachdem noch einige Formalitäten erledigt wnrdeu, bringt der Präsident Jouaust der Vertheidigung in herkömmlicher Weise da» Gesetz in Erinnerung und sagt dann flüchtig zu dem Angeklagten: „Erheben Sie sich!" Dreisus erhebt sich. — Präs.: Sie sind b««